"Ich bin Diaspra"//(21) Kapitel 2: Teil 6
Wieder folgte ich ihm und gemeinsam gingen wir zu unseren Quartieren auf Deck 7. Er öffnete die Tür, bat mich herein und wies auf einen der Stühle an seinem Tisch im Wohnzimmer, dass meinem in jedem noch so kleinen Detail glich. Lediglich die Bilder an der Wand zeigen andere Motive. Doch sie hatten die gleiche Größe und hingen an exakt den gleichen Stellen wie die Fotografien in meinem Bereich.
„Mach es dir gemütlich, kleine Schwester. Ich habe soeben mit unseren Eltern gesprochen und sie haben mich angewiesen, dich ein wenig mit den Gepflogenheiten bei Hofe vertraut zu machen. Sobald wir Asgeanus erreichen, werden wir standesgemäß empfangen.
Es wird eine Parade zu deinen Ehren geben und das Volk der Ynaer'i wird sich vor dem Palast versammeln. Damit dies möglichst reibungslos von statten gehen kann, musst du einige Dinge lernen und verinnerlichen.“
Während er sprach schritt er mit großen, ausladenden Bewegungen im Zimmer auf und ab. Ich hatte keinen Zweifel daran, dass er die Aufmerksamkeit und die Vorzüge die das Leben als Prinz der Ynaer'i mitbrachte, sehr genoss.
Er verhielt und bewegte sich wahrhaft majestätisch und mit federleicht wirkender Eleganz, in jeder Situation in der ich ihn bisher angetroffen hatte.
Ich hoffte, dass auch mir dies eines Tages gelingen würde. Vorerst allerdings fühlte ich mich in seiner Anwesenheit wie ein Tollpatsch, statt wie eine Prinzessin. Daher war ich dankbar, dass er mir bei den Vorbereitungen der Ankunft helfen wollte.
„Wir Ynaer'i schätzen und pflegen Formalitäten, ein Fehltritt – ein kleiner Fauxpas, mag auf der Erde mit etwas Glück für Sympathien sorgen, auf Asgeanus hingegen zeugt er lediglich von Respektlosigkeit unseren Traditionen gegenüber und wird von unserem Volk als Beleidigung gesehen.“
Uff... Ich schluckte. Nathaniel verstand es wirklich, mir Hoffnungen zu machen...
„Doch mach dir keine Sorgen, kleine Schwester...“ Ergänzte er, da ihm meine Unsicherheit scheinbar aufgefallen war. „..wenn du verinnerlichst, was ich dir erkläre und zeige, wirst du das Volk im Nu überzeugen und für dich gewinnen. Sie alle warten auf ihre Prinzessin.“
Er lief weiterhin durch den Raum und erklärte mir die verschiedensten Verhaltensregeln die man auf Asgeanus pflegte. Beispielsweise war es verpönt, jemandem die Hand zu geben der nicht zur eigenen Familie gehörte.
Fremde Ynaer'i grüßten sich entweder durch Verbeugungen oder durch einfaches Zunicken, das variierte, je nachdem wer wem gegenüberstand.
Nathaniel und ich, so erläuterte er, durften uns hingegen vor niemandem außer unseren Eltern verbeugen. Die Ynaer'i aus dem Volk mussten wir durch ein leichtes, bloß nicht zu energisches Kopfnicken begrüßen.
Lieber zu schwach als zu stark, lautete hierbei die Devise. Diese Regel galt jedoch nicht für öffentliche Auftritte. Hier schickte es sich nicht, einzelne Ynaer'i mehr oder weniger persönlich und somit privilegiert zu grüßen. Wir mussten darauf achten, keinen zu bevorzugen oder zu benachteiligen da wir andernfalls die Gleichheit der einzelnen Ynaer'i in Frage stellen würden.
Dies schloss ebenfalls mit ein, dass wir niemanden direkt in die Augen sehen durften, wenn wir uns öffentlich bewegten. Ein selbstbewusster, nur marginal lächelnder Blick in die Ferne war hierbei das Mittel der Wahl.
Auch das Winken musste klaren Regeln folgen. Ich hatte auf der Erde einige TV-Sendungen gesehen, in denen etwa die englische Königin ihrem Volk auf Veranstaltungen zugewunken hatte und im Gegenzug von den vielen tausend Menschen bejubelt wurde, doch das ließ sich laut Nathaniel nicht mit den Gepflogenheiten auf Asgeanus vergleichen.
Um den Ynaer'i zuzuwinken sollte ich den Arm auf möglichst 90 Grad anwinkeln und die geöffnete Hand mit leicht gebeugten Fingern nur ganz langsam aus dem Handgelenk hin und her bewegen. Meine ersten, ungeschickten Versuche schienen Nathaniel zu amüsieren.
„Nicht so.“ wandte er ein, als ich meine rechte Hand ziemlich steif von einer Seite zur anderen drehte.
„Nicht so verkrampft, du bist kein rostiger Roboter. Elegant und leicht soll es aussehen. Schau her.“
Er blieb in der Mitte des Raumes stehen, blickte scheinbar desinteressiert an mir vorbei, hob die Hand auf Höhe seines Kopfes und bewegte sie mit langsamen, flüssigen Bewegungen.
Ich sah ihn hilfesuchend an. Da musste ich wohl noch etwas üben...
„Mach dir keine Sorgen, bis wir auf Asgeanus eintreffen, beherrschst du es im Schlaf.“ Ich lächelte zaghaft und warf ihm einen dankbaren Blick zu.
Wie gut, dass ich einen echten Profi als Ansprechpartner hatte!
Er erklärte mir noch einige andere Dinge und erzählte mir dann von den asgeanischen Verhaltensregeln bei Tisch. Nach gefühlt stundenlangen Ausführungen über die richtige Position und Handhabung des Bestecks, dem Dresscode im königlichen Alltag und dem Bewegen inmitten des Volkes abseits von offiziellen Paraden oder Anlässen, beendete er seinen Vortrag mit dem Hinweis, dass dies für den Anfang genug an Informationen waren.
Hier konnte ich ihm lediglich beipflichten und fürchtete schon seit einer ganzen Weile, das Meiste ohnehin bereits morgen wieder vergessen zu haben.
Wir wollten uns gerade für den Moment verabschieden – ich hatte vor, noch ein bisschen in meinem Notizbuch zu lesen, bevor ich später gemeinsam mit Nathaniel essen sollte um die theoretischen Ausführungen zu den asgeanischen Tischmanieren in der Praxis auszuprobieren, da fiel mir noch etwas ein, was ich ihn unbedingt fragen wollte.
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