"Ilumnia ~ Vermisst"//(24) Kapitel 4: Teil 2
Vielleicht musste er sich tatsächlich darauf einstellen, die Führung abzugeben.
Schließlich hatte er diese Position bereits über vier Jahrzehnte lang bekleidet und möglicherweise brauchte die Vereinigung einen neuen Counsellor, um ihre Probleme in den Griff zu bekommen und zu alter Größe zurückzufinden.
Zwar stimmte ihn der Gedanke daran traurig, dennoch wusste er, dass jede Herrschaft einmal zu Ende gehen musste.
Eventuell war der Zeitpunkt für einen Neubeginn nun gekommen.
Langsam, sich am Schreibtisch abstützend, stand er auf. Er fühlte sich auf einmal müde und geschafft.
Immer häufiger spürte er sein bereits fortgeschrittenes Alter. Früher war er ein junges Mitglied der Elite, bis man ihn mit etwa 40 Jahren zum Counsellor berufen hatte.
Seit dem hatte er Tag und Nacht damit verbracht, die Vereinigung nach seinen Plänen zu gestalten und ihre Strukturen grundlegend zu überarbeiten.
Unter seiner Führung war es gelungen, die Kinder der Götter zu erschaffen, ein Unterfangen, das vorher zwar schon mehrmals versucht wurde, jedoch bis dato immer wieder gescheitert war.
Ihm hatte der göttliche Rat diesen Erfolg zu verdanken.
Über Jahre andauernde Forschungsarbeit, Expeditionen zu den entlegensten Orten der Erde, viele tausende Experimente und etliche Rückschläge hatten die Vereinigung letztendlich zum Ziel geführt.
Er hatte das Unmögliche möglich gemacht und den Grundstein gelegt, um die Schöpfungsgeschichte auf eEwig zu verändern.
Leticia, Marcus, Arina, Moshe und Sajit waren sein Verdienst.
Völlig egal was der göttliche Rat ihm bezüglich sämtlicher Probleme der Vereinigung vorwerfen würde, diesen Erfolg konnten sie ihm nicht aberkennen.
Außerdem war er es, der die Vereinigung revolutioniert und modernisiert hatte. Als er die Führung von seinem Vorgänger übernahm, befand sich die Anlage in so einem rückschrittlichen und heruntergekommenen Zustand, dass viele der Vereinigungsmitglieder scherzten, es würde sich dabei um ein prähistorisches Pfadfinderlager handeln.
In der Tat bestand das Hauptquartier damals aus nicht mehr als einer Ansammlung von flachen, zweistöckigen Gebäuden, diversen Zelten und notdürftig errichteten Containern.
Zweckmäßig, aber nicht unbedingt praktisch und erst recht nicht repräsentativ.
Er selbst wurde teilweise sogar noch im Freien unterrichtet, da es einfach nicht genügend Kapazitäten für entsprechend große Unterrichts- und Trainingsräume gab.
Auch Wohngebäude fehlten zu dieser Zeit. Die Rekruten und Anwärter hatte man vermischt in riesigen Schlafsälen untergebracht und von Gemütlichkeit und Privatsphäre gab es nicht den Hauch einer Spur.
Dennoch, sinnierte er, herrschte damals Disziplin.
Zu seiner Zeit hätte es keines der Mitglieder gewagt, sich zu beschweren, die Vereinigung und damit die Autorität des Counsellors in Frage zu stellen oder gar sich ihren Regeln zu widersetzen.
Die revolutionären Ansätze waren neu. Neu und alles andere als begrüßenswert.
Vorsichtig, sich auf seinen schweren, mit umständlichen, feinen Schnitzereien verzierten schwarzen Gehstock abstützend, verließ er sein Büro und ging den breiten, von weißen Marmorsäulen gesäumten Gang entlang.
All den Glanz hatten die Gebäude ihm zu verdanken.
Die großen modernen Neubauten, die Grünanlage, den Trainingspool und zahlreiche Sportfelder waren sein Verdienst.
Doch wahrscheinlich hatten seine Kritiker im Rat recht. Er wurde alt. Das spürte er mit jedem Tag mehr.
Seine Knochen schmerzten bei jedem Schritt. Das Rheuma quälte ihn mal wieder.
Auch seine Fähigkeiten waren lange nicht mehr so stark ausgeprägt wie früher. Manchmal fürchtete er sogar, er könne selbst die einfachsten Dinge verlernt haben.
In Anwesenheit anderer wagte er es kaum mehr, die leichtesten Zauber auszuführen.
Im Stillen hatte er sehr oft bemerkt, dass ihm mittlerweile immer mehr Fehlschläge unterliefen.
Einmal hatte er sich morgens schnell eine heiße Tasse Kaffee machen wollen. Eine der ganz einfachen Übungen, handelte es sich dabei doch lediglich um visualisieren und materialisieren von Gedanken.
Anstelle des erhofften Kaffees erschien jedoch eine Tasse mit kochend heißem Wasser, das sich zu allem Überfluss auch noch schmerzlich über ihn ergoss.
Damals hatte er sich vehement dagegen gewehrt, dieses Versagen zu akzeptieren und es auf die morgendliche Müdigkeit geschoben. Sich eingeredet, nicht konzentriert genug gewesen zu sein.
Aber im Grunde wusste er selbst nur zu genau, dass er sich damit belog.
Seine Kräfte schwanden, das war nicht zu übersehen.
Auch anderen war dies bereits aufgefallen.
Seine Gegner im Rat bezeichneten ihn seit einer Weile als senilen, schwachen alten Kauz, der sich hartnäckig am letzten dünnen Faden seiner Herrschaft festklammerte, ohne an das Wohl der Vereinigung zu denken.
Auf dem Hof kamen ihm zwei Rekruten entgegen und verbeugten sich erschrocken und gingen so schnell es ging weiter. Sie waren in ein Gespräch vertieft und hatten ihn erst sehr spät entdeckt.
Er nickte ihnen jedoch nur geistesabwesend hinterher.
*Warum sollte er sich jetzt über ihre Unaufmerksamkeit aufregen?
Es hätte ohnehin keinen Sinn.
Er wollte in Ruhe nachdenken. Auf der anderen Seite des Campus befand sich das alte, noch aus der Gründerzeit der Vereinigung stammende Archiv.