[DE] Konstruktivismus, 1/7, Die Krise der Wahrnehmung

in #de-stem6 years ago (edited)

Unsere Wahrnehmung steckt in einer Krise.

Ich starte eine 7-teilige Serie über das Thema Konstruktivismus. Das ist ein Begriff, der in der Medientheorie eine große Rolle spielt. Der Konstruktivismus hat mich früher sehr beschäftigt und beschäftigt mich, in einem gewissen Sinne, noch immer.

Heute gehe ich jedoch ganz anders, weniger wissenschaftlich, sondern natürlich und intuitiv mit der Frage "Leben wir alle nur in unserem eigenen Traum?" um.

Der Konstruktivismus hingegen möchte möglichst wissenschaftlich zeigen, an welchen Stellen unsere Gesellschaft heute, und auch in viel früheren Tagen der Menschheitsgeschichte, Krisen produzierte, die auf Annahmen und Konventionen beruhten, für die es keine Grundlage gibt.

Das Kernthema meiner Untersuchung ist nicht der Konstruktivismus an sich, sondern eigentlich der Radikale Konstruktivismus. Ich werde in einem späteren Teil der Serie auf die Systematisierung des Konstruktivismus eingehen.

Im ersten Teil skizziere ich eine mögliche Definition des Konstruktivismus, die auf der These beruht, dass unsere Wahrnehmung in einer Krise steckt.

Ich werde die Serie mit einer Zusammenfassung aller Beiträge und einem persönlichen Resümee abschließen.

Ich freue mich über eure Rückmeldungen!

Teil 1, 2, 3, 4, 5


Die moderne Krise der Wahrnehmung

Der Konstruktivismus ist die vierte Krise der westlichen Zivilisation.

Der Konstruktivismus ist eine philosophische Strömung bzw. „Denkungsart“ der Postmoderne, die der Erkenntnistheorie zugehört. Der umwälzende Charakter des Konstruktivismus ist so gravierend wie die ihr vorausgehenden drei Krisen der westlichen Zivilisation. Ihm liegt die „moderne Krise der Wahrnehmung“ zugrunde.

Zu den drei Krisen der westlichen Zivilisation gehören

  1. die Aufgabe des geozentrischen Weltbilds zu Gunsten des heliozentrischen Weltbilds (Galilei), die die „kopernikanische Wende“ einleitete. Des Weiteren
  2. die Evolutionstheorie Darwins, dessen Theorie den Menschen an seiner Sonderstellung im Tierreich zweifeln ließ, da er gemeinsame Vorfahren mit dem Affen hat.
  3. Die Krise der Psychologie besteht darin, dass, nach Freuds Entdeckung des Unbewussten, der Mensch nicht mehr „Herr im eigenen Haus“ ist.

In der Postmoderne trat eine vierte Krise auf:

Die Krise der Wahrnehmung

Wahrnehmung wird jetzt im neurobiologischen Kontext darauf reduziert, dass neuronalen Prozessen (also die Information „so und soviel Reizempfang an dieser Nervenzelle“), keine objektive Bedeutung mehr beigemessen wird. Stattdessen wird die systeminterne Verarbeitung, anhand der ein subjektives Wirklichkeitskonstrukt aufgebaut wird, das passt, obwohl es keine ontologische Realität abbildet, hervorgehoben.

Die Krise der Wahrnehmung leitet sich aus der Tradition des kritischen Realismus ab, der mit der kopernikanischen Wende begann. Ihre Entdeckung ist ein „Kind der Aufklärung“ und orientiert sich an neuzeitlichen Philosophen der Aufklärung wie Locke, Hume, Kant und Descartes.

Die Krise der Wahrnehmung ist gleichzeitig eine Krise der Kommunikation. Einerseits ist es, wie uns der kommunikative Konstruktivismus lehrt, nicht möglich, nicht zu kommunizieren (Watzlawick), andererseits ist es, wie uns die Diskurstheorie des Konstruktivismus lehrt, nicht möglich, ohne Referenz, also besonders originell, zu kommunizieren (Gergen/Davis).

Nächstes Thema: die Geschichte des Konstruktivismus

Literatur

  • Bubenhofer, Noah (2007). Kreative Konstruktion: Einführung in den Konstruktivismus.
  • Fischer, Hans R. (1995). „Abschied von der Hinterwelt?“: Zur Einführung in den Radikalen Konstruktivismus. In: Fischer, Hans R. (Hrsg.). Die Wirklichkeit des Konstruktivismus: Zur Auseinandersetzung um ein neues Paradigma, Heidelberg: 11 - 34.
  • Foerster, Heinz von (1992). „Entdecken oder Erfinden“: Wie läßt sich Verstehen verstehen?. In: Glasersfeld, Ernst von, Foerster, Heinz von, Watzlawick, Paul. Einführung in den Konstruktivismus, München 82005: 41 - 88.
  • Glasersfeld, Ernst von (1992). „Konstruktion der Wirklichkeit und des Begriffs der Objektivität“. In: Foerster, Heinz von. Einführung in den Konstruktivismus, München 82005: 9 - 39.
  • Glasersfeld, Ernst von (1997). Radikaler Konstruktivismus: Ideen, Ergebnisse, Probleme. [Radical Constructivism. A way of Knowing and Learning], Frankfurt am Main.
  • Hejl, Peter M. (1992). „Konstruktion der sozialen Konstruktion“: Grundlinien einer konstruktivistischen Sozialtheorie. In: Glasersfeld, Ernst von, Foerster, Heinz von, Watzlawick, Paul. Einführung in den Konstruktivismus, München 82005: 109 -146.
  • Knorr-Cetina, Karin (1989). “Spielarten des Konstruktivismus“: Einige Notizen und Anmerkungen. In: Soziale Welt 40: 86 - 96.
  • Lohmann, Georg. (1994). “Beobachtung“ und Konstruktion von Wirklichkeit“: Bemerkungen zum Luhmannschen Konstruktivismus. In: Rusch, Gebhard., Schmidt, Siegfried J. (Hrsg.). Konstruktivismus und Sozialtheorie, Frankfurt am Main: 205 - 219.
  • Maturana, Humberto R. (1982). Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit, Braunschweig.
  • Maturana, Humberto R. (2001). Was ist erkennen? Die Welt entsteht im Auge des Beobachters, München.
  • Oeser, Erhard, Seitelberger, Franz (1988). Gehirn, Bewusstsein und Erkenntnis, Darmstadt.
  • Rorty, Richard M. (1967). The linguistic turn: Essays in Philosophical Methods, Chicago 1975.
  • Rusch, Gebhard (1987). Erkenntnis, Wissenschaft, Geschichte: Von einem konstruktivistischen Standpunkt, Frankfurt.
  • Scheffer, Bernd (1992). Interpretation und Lebensroman: Zu einer konstruktivistischen Literaturtheorie, Frankfurt am Main.
  • Schmidt, Siegfried J. (1980). Grundriß der Empirischen Literaturwissenschaft, Bd.1, Braunschweig.
  • Schmidt, Siegfried J. (Hrsg.) (1987) Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, Frankfurt am Main 92003.
  • Schmidt, Siegfried J. (1998). Die Zähmung des Blicks: Konstruktivismus – Empirie – Wissenschaft, Frankfurt am Main.
  • Schmidt, Siegfried J. (1993). „Kommunikation – Kognition – Wirklichkeit“. In: Bentele, Günther, Rühl, Manfred (Hrsg.). Theorien öffentlicher Kommunikation: Problemfelder, Positionen, Perspektiven, München: 105 - 117.
  • Spence, Donald P. (1998). „Das Leben rekonstruieren“: Geschichten eines unzuverlässigen Erzählers. In: Straub, Jürgen (Hrsg.). Erzählung, Identität und historisches Bewusstsein: Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte, Bd. 1, Frankfurt am Main: 203 - 225.
  • Watzlawick, Paul (1981). „Bausteine ideologischer “Wirklichkeiten““. In: Watzlawick, Paul (Hrsg.). Die erfundene Wirklichkeit: Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben? Beiträge zum Konstruktivismus, München 41986: 192 - 228.
  • Watzlawick, Paul (1992).„Wirklichkeitsanpassung oder angepaßte “Wirklichkeit“?“: Konstruktivismus und Psychotherapie. In: Glasersfeld, Ernst von, Foerster, Heinz von, Watzlawick, Paul. Einführung in den Konstruktivismus, München 82005: 89 -107.
  • Weber, Stefan (2003). „Konstruktivistische Medientheorien“. In: Weber, Stefan (Hrsg.). Theorien der Medien: Von der Kulturkritik bis zum Konstruktivismus, Konstanz: 180 - 200.
  • Zitterbarth, Walter (1995). „Erkenntnistheorie und Repräsentation“. In: Fischer, Hans R. (Hrsg.). Die Wirklichkeit des Konstruktivismus: Zur Auseinandersetzung um ein neues Paradigma, Heidelberg: 93 - 102.

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02.04.2018 UTC + 1

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Du hast hiermit ein für mich (und hoffentlich auch für andere) sehr interessantes Thema eröffnet und eine gute Dosierung gewählt, also nicht zu lang und nicht zu kurz. Ich habe Glück, weil du zum Münchner Stammtisch gehörst, so dass ich dort meine Rück- und Verständnisfragen bei dir abladen kann, sofern mir welche in den Sinn kommen (das werden sie sicher).
Die Herausforderung für den Einzelnen wird darin bestehen, für sich eine lebbare Mitte zu finden zwischen der Notwendigkeit, einen festen Standpunkt zu haben einerseits und sich der Realtivität bewusst zu sein andererseits.

Ich danke dir für deinen Kommentar! Beim nächsten Mal kann ich leider nicht, aber eventuell danach wieder. Du kannst deine Fragen gerne auch vorher schon stellen und ich versuche sie, so gut ich kann zu beantworten.

Hartes Thema, aber auf jeden Fall interessant.
Hier ein Artikel des Ex BGH-Richters Thomas Fischer, der auch das Problem der Warnehmung einer Krise anspricht: http://meedia.de/2018/01/29/das-sternchen-system-thomas-fischers-zeit-kritische-anmerkungen-zum-medien-tribunal-gegen-dieter-wedel/

Ich fürchte, das Thema wird noch komplizierter ^^ Ich hatte zu dem Zeitpunkt als ich den Text schrieb, leider noch diese Tendenz sehr verschachtelt und mit vielen Fremdwörtern zu schreiben, was ich inzwischen größtenteils abgelegt habe. Es ist einfach nicht mehr mein Stil, weil er den Inhalt zu sehr verstellt. Aber dafür klingt es dann halt auf den ersten Blick "gehoben". Ich denke, ich wollte mich damals etwas vom Durchschnitt abgrenzen. Wie gesagt, ich bin darüber hinweg, aber ich fürchte, die nächsten Teile werden eher noch schwieriger.

Was den von dir verlinkten Artikel angeht: Bitte nehme es mir nicht krumm, ich hab' ihn nur überflogen, weiß aber ungefähr, worum es geht. Aus meiner Sicht ist das ein Problem, das wir in der Öffentlichkeit nicht lösen können und auch nicht sollten. Dennoch halte ich Wahrheit in diesem Fall für sehr wichtig. Wenn wir als Menschheit funktionieren wollen, sollten wir schon von so etwas wie einer Wahrheit ausgehen, finde ich, ob die jetzt binär ("Entweder er hat oder er hat nicht...") ist, weiß ich nicht, aber zumindest können wir, wenn wir halbwegs kohärent denken wollen, davon ausgehen, dass überhaupt irgendwas passiert ist, also z. B. dass es eine Schauspielerin gab und einen Regisseur, die zusammengearbeitet haben.

Das Thema Wahrheit und "Gibt es eine Wahrheit?" schneide ich in einem der weiteren Beiträge auch noch an, wenn ich drei verschiedene konstruktivistische Positionen nach ihrer Haltung zu einer (möglichen) Ontologie befrage.

Ich bin aber, auch wenn es jetzt sicherlich komisch klingt, manchmal auch da nicht so sicher, also auch bei so grundlegenden Dingen oder "Wahrheiten", von denen wir sicher sich, das sie passiert sind, denke ich manchmal, dass auch sie nur ein Traum gewesen sein könnten.

Ich denke da zum Beispiel an meine Kindheit. Ich weiß heute manchmal nicht mehr so genau, was aus meiner Kindheit wahr und was ich als Kind nur geträumt habe. Die Überschneidungen sind sehr stark.

Am besten ist es da, sich immer zu "zwingen" so wach und präsent wie möglich zu sein. Trotzdem sollten wir das Träumen natürlich nicht ganz vergessen. Ach, es ist einfach ein schwieriges Thema. Mein Text bzw. die kommenden werden das auch nur anreißen können. Aber es ist einfach sehr spannend.

Ich nehms dir nicht krumm ;)

Ich muss dir auf jeden Fall ein Kompliment dafür machen, dass du dich hier an geistig so anspruchsvolle und komplexe Themenfelder heranwagst.

super Thema für eine spannende Reihe, super Länge obwohl auf de-stem ja die niederfrequenten umfassenderen Texte die meiste Aufmerksamkeit bekommen. Aber das werden die de-steem leute und Autoren besser einschätzen können, die sich sicher auch noch melden. Resteem.

Ich denke mir: es könnte sich lohnen hier aufzupassen, auch wenn man es erst nicht versteht.
Ontologie und Epistemologie selbst, kann man in der Praxis kaum anwenden, da Modelle, Heuristiken und Commonsense extrem effektiv sind (siehe alles was wir haben). Man kann damit aber das herausarbeiten, was man prinzipiell nicht mit gesundem Menschenverstand kann, und so eine Kunst des Vermeidens schaffen. Insbesondere Investment Milliardäre wie Soros oder Icahn (beides studierte Philosophen) oder Munger nutzen dieses "außerhalb-der-Box-Denken" um besser innerhalb der Box zu agieren (Wo wir nun mal gutes tun können oder zumindest unsere Brötchen verdienen müssen). Aber auch in der Biologie (Maturana (den du ja drin hast), Varela) oder Wahrscheinlichkeitstheorie oder im Risikomanagement (Frank Knight, Keynes, Kolmogorov) sind das zentrale Bereiche. Also brotlose Kunst ist dies nicht, daher freue ich mich auf diese Reihe.

Dein erster Beitrag ist etwas dürftig,
aber da kommen ja noch elf, also bin ich mal gespannt, was du so schreibst und ob da noch etwas mehr Text drinnen stecken wird. ;)

Bis jetzt habe ich nur so eine Art Vorwort veröffentlicht. Die Reaktionen sind eher gespalten, wie ich sehe. Ich hab beschlossen, nicht weiterzumachen. Mir werden die Diskussionen zu anstrengend. Aber ich habe mich sehr über die Rüchmeldungen zu diesem ersten Beitrag hier gefreut.

Edit: Ich habe mich entschlossen, die Serie doch fortzuführen, auch wenn die Kritiken gespalten sind. Ich weiß, dass die bisherigen Teile eher einen einleitenden Charakter hatten, aber sie sollten eben auf das kommende, recht komplexe Thema, vorbereiten.

Nette Einführung in das wirklich interessante Thema, bin gespannt was da noch kommt ;-)

Ich lass dir auch eine vote von @de-stem da, für die steemstem/curie vote war der Text noch etwas zu kurz.

Danke dafür, ich weiß das sehr zu schätzen.

Ich habe mich trotz des meist positiven Feedbacks auf den ersten Beitrag der Serie entschlossen, sie einzustellen, weil die Diskussionen um meinen zweiten Beitrag gerade ausufern und inhaltlich auch nichts mit dem Konstruktivismus zu tun haben.

EDIT: Ich habe mich entschlossen, die Serie doch fortzuführen, auch wenn die Kritiken gespalten sind. Ich weiß, dass die bisherigen Teile eher einen einleitenden Charakter hatten, aber sie sollten eben auf das kommende, recht komplexe Thema, vorbereiten.

Eine philosophische Serie auf Social Media? Ich bin begeistert! Schöne Aufbereitung des Themas!

Oh vielen Dank. Der Text ist schon etwas älter, aber er stammt aus meiner Feder. Ich hab den recht langen Text in kleine Häppchen aufteilen wollen, weil ich persönlich lange Texte hier nicht so gerne lese und auch dachte, dass die Materie (besonders die späteren Teile des Textes, also die, die erst noch kommen) vielleicht nicht jedem so einfach zugänglich sind. Meine Sprache damals, als ich den Text geschrieben habe, ist auch etwas sehr sachlich, voller Fremdwörter usw. Ich hab mich jetzt aber doch entschlossen, die Beiträge länger zu gestalten, da der Text für den einen oder anderen Kommentator hier zu zerrissen wirkte. Na ja, die Meinungen gehen eben auseinander. Aber ich freue mich wirklich sehr über dein Feedback!

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