[DE] Konstruktivismus, 5/7, Populäre Einwände

in #de-stem6 years ago (edited)

Was wissen wir überhaupt? Die Frage nach den objektiven Maßstäben und der Beliebigkeit.

Teil 1, 2, 3, 4

Das ist Teil 5 meiner 7-teiligen Serie über das Thema Konstruktivismus.

Im vierten Teil habe ich drei bekannte konstruktivistische Theorien anhand der Frage voneinander unterschieden, wie sie zu einer möglichen Ontologie stehen.

Im fünften Teil möchte ich auf zwei populäre Einwände eingehen, die den Konstruktivismus herausfordern bzw. hinterfragen.

Poppers und Campbells Einwand

Der Einwand lautet:

Der Konstruktivismus kann keine Erkenntnistheorie sein, wenn es ihm nicht möglich ist, Aussagen über die Wirklichkeit zu treffen.

Wenn der radikale Konstruktivismus keine Aussagen über die Wirklichkeit macht, kann er doch im strengen Sinne gar keine Erkenntnistheorie sein. Welche Erkenntnis über die Wirklichkeit bietet er denn dann an?

Diesen ernstzunehmenden Vorwurf begegnet der Konstruktivismus mit Hilfe des Begriffes der Viabilität. Der radikale Konstruktivismus macht Aussagen über die Ontologie, insofern er Annahmen über sie aufstellt, die in Bezug auf ihre Viabilität nicht aber auf ihre ontologische Realität Gültigkeit beanspruchen.

Das konstruktivistische Wissen beansprucht nicht wie im naiven Realismus, eine ikonische Abbildung der ontologischen Realität zu sein, sondern lediglich, einen instrumentellen Charakter zu besitzen, der eine passende Zugangsweise im Umgang mit der ontologischen Realität anbietet.

Solange eine Annahme nicht mit etwaigen Beschränkungen oder Hindernissen in Konflikt gerät, bildet sie eine mögliche (gangbare) Wirklichkeitskonstruktion ab, der aber keine ikonische Übereinstimmung mit der Ontologie unterstellt wird. Durch die Viabilität, also die „Passgenauigkeit“ einer Handlungsweise können nur indirekt Rückschlüsse auf die Wirklichkeit gezogen werden.

Der Konstruktivismus entpuppt sich damit als instrumentalistischer, pragmatischer Wissenschaftsbegriff: Wissen besteht für ihn aus begrifflichen Gebilden, die noch nicht mit der Erfahrungswelt in Konflikt geraten sind. Dieses Wissen stellt sich der Erfahrungswelt, die zu seinem Selektionsmechanismus wird.

In einem Rückkoppelungsprozess erzeugt der erkennende Organismus so lange einen gangbaren (viablen) Weg wie dieser sein Überleben sichert. Dafür bedient sich der radikale Konstruktivismus an der Evolutionstheorie.

Aber: Nicht der Stärkste, sondern der am besten Angepasste überlebt bzw. hat einen Evolutionsvorteil, wenn er Perturbationen ausgesetzt ist. Perturbationen sind Störungen unserer Außenwelt. Im Sinne der Evolution sind sie nach dem Biologen und Entwicklungspsychologen Jean Piaget v.a. ein "unerwünschtes oder unerwartetes Ereignis". Wer am besten angepasst ist, wird in der natürlichen Selektion zufällig über Mutationen bestimmt. Ironischer Weise heißt es in diesem Zusammenhang auch, dass der Mensch auf Anpassung spezialisiert sei.

Die Beliebigkeitsthese

Die Beliebigkeitsthese ist ein heikles Thema, denn die Kritiker des Konstruktivismus werfen ihm vor, beliebige Auffassungen zu vertreten und zu rechtfertigen und dann selbst dem Nazismus nichts entgegensetzen zu können.

Genauer gesagt lautet der Vorwurf: Der radikale Konstruktivismus hat keine objektiven Maßstäbe.

Im vorigen Abschnitt habe ich gezeigt, dass die Konstruktivisten Objektivität durch den Abgleich der eigenen Wirklichkeitsauffassung mit der von anderen "psychischen Systemen" bewerkstelligen möchten (Viabilität). Damit möchten sie dem Vorwurf aus dem Weg gehen, der Konstruktivismus sei' gar keine richtige Erkenntnistheorie.

Mit Hilfe des Begriffs der Viabilität können die Konstruktivisten argumentieren, dass die Freiheit bei einer konstruierten Realität keinesfalls so groß ist, wie es in der Kritik der Beliebigkeitsthese angenommen wird. Der radikale Konstruktivismus versieht diese Erklärung allerdings mit der Einschränkung, dass auch durch diesen Abgleich die Wirklichkeitsauffassung keine ontische Wirklichkeit gewinnt und auch „kein Argument gegen die Subjektabhängigkeit“ unserer Erfahrung entsteht.

Dann müsste sich der radikale Konstruktivismus aber immer noch den Vorwurf gefallen lassen, die anderen "psychischen Systeme" als objektive Komponenten mit in sein Weltbild "eingeschmuggelt" zu haben. Der radikale Konstruktivismus beschließt, als Ausweg aus diesem Dilemma, die anderen psychischen Systeme als Teil des Konstruktionsrahmens aufzufassen.

Setzt man voraus, dass fremde Menschen in weiten Bereichen ihre Wirklichkeit sehen wie man selbst, sie also unter genau denselben Prämissen ihre Wirklichkeit interpretieren, stellt man also auf dieser Ebene eine Gemeinsamkeit mit ihnen her, kann die eigene Wirklichkeitsvorstellung nicht so verschieden von denen der anderen sein. Andernfalls wäre keine Kommunikation möglich und es ließen sich auch universelle Merkmale der menschlichen Gesellschaft (wie z. B. Pubertätsriten) nicht erklären.

Diese Beobachtung entkräftigt den Vorwurf, die Wirklichkeitsvorstellung der Menschen würden beliebig auseinanderdriften, wie es die Beliebigkeitsthese dem Konstruktivismus vorwirft.

Diese Antwort des radikalen Konstruktivismus ist der einzige mögliche Ausweg aus dem Dilemma, würde aber auch gleichzeitig die Glaubwürdigkeit der anderen "psychischen Systeme" in Frage stellen. Schließlich ist jetzt überhaupt nicht mehr klar, welche Bedeutung andere Menschen in der Theorie des radikalen Konstruktivismus haben.

Auch für den radikalen Konstruktivismus ist es unmöglich, die Existenz anderer psychischer Systeme zu leugnen. Sie sind unabdingbar für die Wirklichkeitskonstruktion. Ganz egal, welchen Status sie in der Lebenswelt der Konstruktivisten haben.

Daher sehen wir uns im nächsten Teil dieser Serie über den Konstruktivismus eine Spielart des Konstruktivismus an, die genau auf dem Konzept des Abgleichs anderer Wirklichkeitsauffassungen mit der eigenen beruht: den sozialen Konstruktivismus sowie den kommunikativen und den empirischen Konstruktivismus.

Nächstes Thema: Soziologische Varianten des Konstruktivismus

Entsteht Wirklichkeit ausschließlich im sozialen Prozess?

Literatur

  • Gebhard Rusch: Wissen und Wirklichkeit, Heidelberg 1999.
  • Siegfried J. Schmidt: Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, Frankfurt 1987.
  • Alfred Locker: Metatheoretische Kritik des Radikalen Konstruktivismus, in: Hans R. Fischer: Die Wirklichkeit des Konstruktivismus, Heidelberg 1998.
  • Collin, Finn: Konstruktivismus für Einsteiger, Paderborn 2008.
  • siehe auch Literaturangaben im ersten Teil der Serie

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06.04.2018 UTC + 1

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Wie sieht es mit der Vereinbarkeit von Evolutionstheorie und Konstruktivismus aus? Wäre es nicht etwas merkwürdig wenn der Mensch von einem "subjektabhängigen", konstruierten Affen abstammen würde? Anders gesagt, setzt die Evolutionstheorie nicht irgendeine Art des wissenschaftlichen Realismus voraus?

Oh, ich fürchte, ich verstehe nicht recht, was du meinst. Aus meiner Sicht gibt es keinen Widerspruch zwischen dem Konstruktivismus und der Evolutionstheorie. Was meinst du mit wissenschaftlichem Realismus? Ich vermute du meinst Ontologie, also eine Seinsebene, die sozusagen alle und alles verbindet und für alle "gilt", einen gemeinsamen Bezugsrahmen.

Ich mache Montag weiter mit der Reihe und werde dann etwas über den sozialen Konstruktivismus schreiben. Vielleicht erklärt dir das dann Einiges. Vorab nur soviel: Auf den Einwand "Dann könne sich ja jeder eine beliebige Welt konstruieren und wir haben dann ja auch keine moralischen Standards." reagiert der Konstruktivismus, indem er die anderen psychischen Systeme mit in seinen Bezugsrahmen aufnimmt. Der Konstruktivismus leugnet die Ontologie und damit die Existenz anderer psychischer Systeme (Menschen) nicht. Er vermeidet aber die Aussage über sie.

Die Position des Konstruktivismus zu einer (möglichen) Ontologie habe ich im vorigen Post vorgestellt.

Aber eventuell haben wir uns auch missverstanden. Du kannst mir ja nochmal erklären, was du meintest. Ich antworte sehr gerne. :)

Ich habe mich bestimmt mißverständlich ausgedrückt. Im ersten Teil deiner Reihe sprichst du auf die Krise an, die Darwins Theorie ausgelöst hat. Hat Darwin diese Krise nicht deswegen ausgelöst, weil er eben eine bestimmte ontologische Realität wissenschaftlich objektiviert hat, die dem menschlichen Narzissmus nicht zuträglich ist? In meinen Augen tendiert der radikale Konstruktivismus dazu, eben diese ontologische Realität zu relativieren oder gar zu leugnen.

Von Kants Begriffen Erscheinung/Ding an sich ausgehend, scheint der radikale Konstruktivismus das Ding an sich weggestrichen zu haben. Die Wirklichkeit ist die vom Subjekt konstruierte Wirklichkeit, es gibt keine vom Subjekt unabhängige Wirklichkeit. Insofern ist der Konstruktivismus auch dem Narzissmus eher zuträglich. So wie bei Kant die Metaphysik wieder bei der Hintertür hereinkommt, so scheint auch beim radikalen Konstruktivismus das scheinbar abgeschaffte Ding an sich wieder aufzutreten. Der Konstruktionsprozess selbst wird unter der Hand hypostatsiert. Bei Darwin aber, davon kann man wohl ausgehen, war der dem Affen und Menschen gemeinsame Vorfahre mit Sicherheit als eine ganz und gar vom jeglichen Konstruktionssubjekt unabhängige Realität angenommen. Da es ja gerade um die Entstehung dieses Subjektes geht, kann sie nicht, wie in der konstruktivistischen Erkenntnistheorie, schon vorausgesetzt werden. Das Erkenntnissubjekt kann nicht vorausgesetzt werden, da es eben gerade irgendwo zufällig auftritt. Der nichtmenschliche Vorfahre hat bei Darwin eine ontologische Unabhängigkeit, eine ansichseiende Realität, die der radikale Konstruktivist nicht kennt oder höchstems dem Konstruktionsprozess selbst zugestehen würde.

Damit möchte ich übrigens nicht sagen, irgendeine darwinistische oder naturalistische Erkenntnistheorie sei besser als die des radikalen Konstruktivismus. Aber der radikale Konstruktivismus überzeugt mich auch nicht ganz.

Hat Darwin diese Krise nicht deswegen ausgelöst, weil er eben eine bestimmte ontologische Realität wissenschaftlich objektiviert hat, die dem menschlichen Narzissmus nicht zuträglich ist? In meinen Augen tendiert der radikale Konstruktivismus dazu, eben diese ontologische Realität zu relativieren oder gar zu leugnen.

Nein eben nicht. Der Konstruktivismus bestätigt die Evolution sogar. Er bekräftigt sie, indem er sagt "der am besten Angepasste setzt sich durch". Es geht dem Konstruktivismus ja auch um Anpassung. Es ist so, dass er davon ausgeht, dass es viele funktionierende Handlungsmodelle gibt, die alle gangbar sind, also funktionieren. Genau wegen dieser Konkurrenz gangbarer Wirklichkeitskonstruktionen können wir kein exaktes Modell unserer Außenwelt (der Ontologie) entwerfen und sollten, um nicht in Widersprüche zu geraten, eine Aussage über sie vermeiden.

Die Aussagen des Konstruktivismus über eine mögliche Ontologie gehen immer nur soweit, wie unsere Handlungen reichen. Danach ist da sozusagen eine Grenze, die der Konstruktivismus nicht überschreitet.

Aber auch der Konstruktivismus stößt natürlich auf das Problem der gegenseitigen Abhängigkeit von Subjekt und Objekt. Jedes psychische System sieht sich als Subjekt, ist aber zugleich Objekt für ein anderes psychisches System.

Und ich kann dir in der Kritik am Konstruktivismus auch folgen. Ich selbst bin heute Patriarchatskritikerin und habe den Text über den Konstruktivismus vor einigen Jahren geschrieben. Damals war das Thema sozusagen heilig für mich. Heute würde ich mich, wenn überhaupt, nur noch für den moderaten Konstruktivismus interessieren.

Dennoch ist der Konstruktivismus ein gutes Instrument, z.B. für Medienkritik. Wo immer wir in unserer Gesellschaft angehalten sind "Halt!" zu sagen, weil uns jemand manipulieren möchten, können wir zumindest auf die Theorie des Konstruktivismus zurückfallen und uns vor Augen führen, dass wir die Interpretation dessen, was real ist, mehr in unserer Hand haben als unser Gegenüber, das uns zu manipulieren versucht, weismachen möchte.

Der nichtmenschliche Vorfahre hat bei Darwin eine ontologische Unabhängigkeit, eine ansichseiende Realität, die der radikale Konstruktivist nicht kennt oder höchstems dem Konstruktionsprozess selbst zugestehen würde.

Das sehe ich auch so. An dieser Stelle ist der Konstruktivismus widersprüchlich. Er bewegt sich sozusagen nur in einer geistigen Sphäre und klammert alles Materielle aus.

Aber wie gesagt: Ich stehe heute nicht mehr so sehr hinter der Theorie wie noch vor einigen Jahren. Ich werde im letzten Teil der Serie auf meine aktuelle Position eingehen.

Ich danke dir übrigens, dass du dich hier an der Diskussion beteiligst. Ich freue mich sehr darüber, nicht meinetwegen, sondern, weil Philosophie einfach wichtig ist. Wir sollten uns immer mal wieder darüber klar werden, worauf unser Denken eigentlich beruht.

Ich plane nach der Reihe übrigens einen Artikel zur konstruktivistischen Medienkritik. Das gibt sicher auch viel Raum für Diskussionen :)

Vielen Dank für die ausführliche Antwort. Ich werde die restlichen Artikel aufmerksam lesen und bin schon gespannt auf den letzten Artikel der Reihe!

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