[DE] Konstruktivismus, 4/7, Ontologische Systematisierung

in #de-stem6 years ago (edited)

Das ist Teil 4 meiner 7-teiligen Serie über das Thema Konstruktivismus.

Teil 1, 2, 3

Im dritten Teil habe ich gezeigt, dass der Konstruktivismus die Fortführung des kritischen Rationalismus (bei Kant) ist.

Im vierten Teil möchte ich drei wichtige konstruktivistische Positionen vorstellen. Ich habe länger darüber nachgedacht, wie man sie systematisieren könnte. Da ich leider keine wissenschaftliche Literatur darüber gefunden habe, wie man das am besten macht, habe ich mir die aus meiner Sicht bekanntesten konstruktivistischen Positionen angesehen und sie befragt, wie sie zu einer möglichen Ontologie stehen.

Die ontologische Systematisierung ist meine persönliche Herangehensweise bei der Einteilung. Eine ebenso gute Einteilungsmöglichkeit, auf die ich im übernächsten Artikel eingehen werde, ist die soziologische Systematisierung.


Die ontologische Systematisierung des Konstruktivismus

Der Konstruktivismus ist keine homogene Theorie, sondern eine Strömung. Das sieht man daran, dass es zahlreiche Anwendungsfälle konstruktivistischen Denkens in den Natur- und Geisteswissenschaften gibt. Der Verdienst des Konstruktivismus besteht darin, einen Perspektivenwechsel zu ermöglichen, weil man dank ihm die Erkenntnis der kopernikanischen Wende nun direkt auf Einzelwissenschaften anwenden kann.

Eine Möglichkeit, sich konstruktivistischen Theorien systematisch zu nähern, ist es, sie danach zu fragen, wie sie zu einer (möglichen) Ontologie stehen. Dabei trifft man auf drei mögliche Haltungen:

  • das Leugnen der Ontologie (Autopoiesis-Theorie),
  • die Vermeidung ontologischer Aussagen (radikaler Konstruktivismus) sowie
  • die Annahme einer Ontologie (Moderater Konstruktivismus).

Autopoiesis-Theorie

Die Autopoiesis-Theorie ist die skeptischste konstruktivistische Theorie, da sie davon ausgeht, dass es gar keine Ontologie gibt, sondern nur die Subjektivität der eigenen Wahrnehmung.

Konstruktivisten, die die Autopoiesis-Theorie der Neurobiologen Maturana und Valera auf die Erkenntnistheorie anwenden, leugnen die Ontologie vollkommen. Die autopoetische Variante des Konstruktivismus kann deswegen als eine noch radikalere Variante des Konstruktivismus betrachtet werden als es der radikale Konstruktivismus ohnehin schon ist.

Ihrer Theorie nach sind psychische Systeme funktionell und informationell geschlossen. Die operationale Geschlossenheit psychischer Systeme ist gleichzeitig ihr Funktionsprinzip. Das Gehirn, das zentrale Organ zur Verarbeitung der Reize, arbeitet selbstreferentiell.

Man kann sich das Individuum dabei so vorstellen: Es registriert einen Reiz (über die Herkunft des Reizes kann aufgrund der operationalen Geschlossenheit keine Aussage gemacht werden. Auch nicht darüber, dass der Reiz von einer Außenwelt kommt). Diesen Reiz verarbeitet es systemintern und reagiert mit veränderter Wahrnehmung auf kommende Reize, die diesem ähnlich sind. Das Erzeugen einer konstruierten Realität wird zu seiner eigenen (zirkulären) Voraussetzung.

Diese radikale Subjektivität der Wahrnehmung, also die Tatsache, dass eine Ontologie geleugnet wird, hat der Autopoiesis-Theorie den Vorwurf, in Wahrheit ein Solipsismus zu sein, eingebracht.

Letztlich ist es aber unerheblich, welche Stellung Vertreter der Autopoiesis-Theorie anderen Menschen in Bezug auf das eigene psychische System zugestehen, denn sie können zumindest ihre Existenz nicht leugnen. Die Autopoiesis-Theorie würde es aber, im Gegensatz zum sozialen Konstruktivismus ablehnen, davon zu sprechen, dass die eigene Realitätsdefinition in irgendeiner Weise von der Realitätsdefinition anderer Menschen abhängt.

Der radikale Konstruktivismus

Der radikale Konstruktivismus wurde geprägt von Ernst von Glasersfeld und Siegfried J. Schmidt.

Die Grundannahme des radikalen Konstruktivismus hat Siegfried J. Schmidt in Die Zähmung des Blicks wie folgt formuliert:

Existenzaussagen sind nicht erforderlich.

Demzufolge lässt der radikale Konstruktivismus Aussagen über eine Ontologie nicht zu und hält sie auch für nicht wahrheitsfähig.

Schmidt und von Glasersfeld vertraten eine Erkenntnistheorie, die sich gegen die Annahme einer ikonischen Übereinstimmung (wirklichkeitsgetreue Abbildung) bzw. Korrespondenz zwischen dem Erkenntnisobjekt und der Wirklichkeit richtet. Zu glauben, dass Wahrnehmung die Abbildung einer vom Erkennenden unabhängigen Wirklichkeit ermögliche, sei spätestens mit der kopernikanischen Wende eine Illusion.

Vielmehr sind die im Erkenntnissubjekt liegenden Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis die Bedingungen zu jedem Gegenstands- oder Weltbezug. Weil alle Erkenntnis subjektabhängig ist, lautet die Leitthese des Konstruktivismus: „Kein Objekt ohne Subjekt.“.

Was den Konstruktivismus radikal macht, ist sein Verhältnis zu einer möglichen Ontologie. Der radikale Konstruktivismus vermeidet im Gegensatz zu traditionellen Wissensbegriffen, die mit dem Prinzip der Repräsentation arbeiten, ontologische Aussagen über sein Wissensgebiet. Was er grundsätzlich ablehnt, ist aber nicht die Ontologie als solche, sondern, dass ihre immanente Natur erkennbar sei.

Der radikale Konstruktivismus ist kein naiver Realismus mehr, sondern eine kognitionstheoretische Erkenntnistheorie, denn die Art unserer Wahrnehmung (unsere eigenpsychische Basis der Wissenskonstruktion) bestimmt, wie wir etwas erkennen, nicht das Objekt, das wir betrachten.

Es gibt keine Zweifel über die Existenz einer Außenwelt, da kein Konstruktivist leugnet, etwas innerhalb eines Bezugssystems zu erkennen. Aber es gibt Zweifel darüber, was uns unsere Theorien über die Außenwelt tatsächlich sagen, also, ob sie tatsächlich so beschaffen ist, wie wir sie in unserer Vorstellung konstruieren.

Interne Aussagen wie „Der Zug hat Verspätung.“ sind also durchaus erlaubt, externe Erklärungen wie „Die Zugführer streiken bestimmt wieder.“ beruhen jedoch auf ungeprüften Voraussetzungen und sind Teil einer Glaubenswelt, die gerade keine Objektivität leisten kann.

Obwohl erkenntnistheoretisch die Realität vollkommen unzugänglich ist, muß(sic!) ich … ihre Existenz annehmen, um nicht in elementare Widersprüche zu geraten…

Gerhard Roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit: Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen, Frankfurt 1996: 321f.

Der radikale Konstruktivismus ist zur Beantwortung der Frage, inwiefern wir uns durch Denken unsere eigene Wirklichkeit, unseren eigenen Traum erschaffen, ungemein wichtig.

Die Neuerung, die der radikale Konstruktivismus gegenüber Kant anbietet, ist eine deutliche Abgrenzung von z. B. moralischen (aber auch anderen philosophischen) Begriffen, insofern er mit konstruierten bzw. metaphysischen Begriffen gar nicht erst operiert und diese auch nicht be- bzw. verhandelt.

Der moderate Konstruktivismus

Der Gegensatz zwischen gesetzter und vorausgesetzter Wirklichkeit, also der objektiven und konstruierten, ist nach Alfred Locker eine fundamentale Eigenschaft der Wirklichkeit. Die Wirklichkeit ist dialektisch. Würde man, wie es in der Autopoiesis-Theorie geschieht, eine Ontologie leugnen, wird das Konstruieren zu seiner eigenen zirkulären Voraussetzung.

Es ist ohne eine ontologische Voraussetzung dann auch gar nicht erklärbar, was uns überhaupt ermöglicht, Dinge zu erkennen und zu kommunizieren. Es muss also eine wahrheitsfähige Aussage über die Wirklichkeit möglich sein, andernfalls könnten wir gar nichts über sie aussagen. Das wiederum setzt voraus, dass es eine Ontologie gibt.

Erst mittels einer Voraussetzung kommt eine Tätigkeit, die sich auf das Gegenständliche bezieht, zustande. Es gibt eine Voraussetzung, die Erkennen ermöglicht: die Natur. Der Gegenstand unserer Wahrnehmung ist Gegenstand in der Welt – genauer gesagt: mit ihr vermittelt und deswegen zur Natur gehörig.

Da wir diesen mit Hilfe unserer Sinne nur zu Wahrnehmungs- bzw. Konstruktionszwecken aus ihr „herausklauben“, ist es die Natur selbst, die der Ermöglichungsgrund für die Erkenntnis unserer Wahrnehmung ist. Es muss also Natur als nichtkonstruierten Bezugsrahmen geben, in dem uns der Gegenstand vermittelt wird.

Jedes Konstruieren ist Rekonstruieren eines ursprünglichen Bedeutungszusammenhanges, der dem Konstruieren vorausgeht. Verstehen setzt dann ein vormaliges Verstandenhaben voraus. Reflexion ist dann die Bestätigung („Neuauflage“) des ursprünglich gesetzten.

Nächstes Thema: Populäre Einwände gegen den Konstruktivismus

Literatur

  • Alfred Locker: Metatheoretische Kritik des Radikalen Konstruktivismus, in: Hans R. Fischer: Die Wirklichkeit des Konstruktivismus, Heidelberg 1998.
  • Gerhard Roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit: Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen, Frankfurt 1996
  • Maturana, Humberto R. (1982). Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit, Braunschweig.
  • Maturana, Humberto R. (2001). Was ist erkennen? Die Welt entsteht im Auge des Beobachters, München.
  • siehe auch Literaturangaben im ersten Teil der Serie

Gerade veröffentlicht:

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05.04.2018 UTC + 1

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Guter Post, ich finde, die ontologische Einteilung ist sehr hilfreich zum Verständnis der verschiedenen Strömungen des Konstruktivismus. Ich finde das fast schon beängstigende am radikalen Konstruktivismus ist, dass es ja theoretisch möglich ist, dass wir uns die "Realität" komplett erschaffen (auch wenn mir das nicht sehr wahrscheinlich scheint).

Der moderate Konstruktivismus hat natürlich dann ein breites Anwendungsfeld auch in den Naturwissenschaften. Das Erkennen, aber auch das Entwerfen von Methoden zur Vermeidung des eigenen Bias bei der Dateninterpretation ist von nicht zu unterschätzender Wichtigkeit.

Ich finde das fast schon beängstigende am radikalen Konstruktivismus ist, dass es ja theoretisch möglich ist, dass wir uns die "Realität" komplett erschaffen (auch wenn mir das nicht sehr wahrscheinlich scheint).

Na ja, in dieser "Krise" gibt es ja auch eine Chance. Die Neujustierung bzw. Reinterpretation der Außenwelt ist ja gerade das, womit in der Psychologie gearbeitet wird. Aber ja, ich finde es auch irgendie ein bisschen unheimlich, wie sehr unsere innere Einstellung und Wahrnehmung unseren Realitätssinn beeinflusst. Man muss sich das halt nur geschickt zu nutze machen ;)

Zur Autopoiesis-Theorie:

Solipsismus. Noch nie gehört! Wieder was gelernt, danke :)
Das klingt alles mehr nach Religion als nach Wissenschaft. Entweder man glaubt es oder eben nicht. Diskutieren fällt da sichtlich schwer.

Zum Radikalen Konstruktivismus:

"Kein Objekt, ohne Subjekt." Stimmt. Doch auch kein Subjekt ohne Objekt. Denn, jedes Subjekt ist ja, wenn es überhaupt sein will(kann es das in diesem Denken eigentlich?), zugleich auch ein Objekt!?
Habe ich das eigentlich richtig verstanden, dass diese "Denker" (die Anführungszeichen sind Absicht)im Grunde über alles reden, außer, boßhaft gesagt, über das wovon sie keine Ahnung haben? Ich meine, sie denken sich ein System aus, und dann, wenn sie mit ihrem Konstrukt Schwierigkeiten bekommen, sagen sie einfach, "Nein über das reden wir nicht, das ist nicht Teil unserer Arbeit!"
Also, da hab ich dann so meine Zweifel ob das wirklich eine geistige Arbeit ist die da geleistet wird.

Zum Moderaten Konstruktivismus:

Auch hier scheint man Probleme grundsätzlich mehr ignorieren zu wollen. So als wollten sie die Fakten an die Theorie anpassen wollen (was immer eine schlechte Idee ist).
Was das Konstruieren und Rekonstruieren betrifft. Darum sagt man ja auch erfinden, entdecken, offenbaren, usw. Unsere Sprache sagt schon viel aus über unsere Möglichkeiten des Erkennens.
Natur ist ein guter Ansatz, doch, ich denke, dieser greift immernoch zu kurz.

Auf jeden Fall wieder ein gelungener Post, da macht Lesen richtig Laune :)

"Nein über das reden wir nicht, das ist nicht Teil unserer Arbeit!"

Das ist eine witzige Sichtweise, die so natürlich kein Konstruktivist äußert. Ich habe diese Sichtweise sozusagen selbst nur rekonstruiert, damit die Art und Weise, wie Konstruktivisten denken, anschaulicher wird.

Deine Frage

...jedes Subjekt ist ja, wenn es überhaupt sein will(kann es das in diesem Denken eigentlich?), zugleich auch ein Objekt!?

trifft das Kernproblem des Konstruktivismus. Es lohnt sich sozusagen gar nicht, auch nur über den Konstruktivismus nachzudenken, wenn man rein subjektbezogen denkt. Denn dann landet man im Solipsismus. Das ist wie so eine Art innerer Monolog, in der die Existenz anderer Menschen konsequent ausgeschlossen wird. Aber das möchte der Konstruktivismus ja gerade nicht. Er betont eben die eigenpsychische Komponente unserer Wahrnehmung und leugnet den klassischen Realismus. Wir können niemals etwas über unsere Außenwelt erfahren, nur das, was wir konstruieren.

Das ist natürlich eine sehr skeptische Aussage. Geradezu traurig. Aber es gibt noch die Viabilität unserer Annahmen sowie den Abgleich mit anderen Menschen. Auch Letzteres leugnet zumindest der radikale Konstruktivismus nicht.

Natürlich sind das hier alles "nur" Theorien. Geisteswissenschaften operieren eben gerne mit Theorien, um sich die komplizierte Welt zu erklären. Sie werfen sie auch ebenso gerne wieder von Bord, wenn ihre Theorien die Welt nicht mehr erklären können. Dann muss eben eine neue Theorie her :)

Zum moderaten Konstruktivismus:

Mir gefällt er persönlich sehr gut. Aber ich bin eben Patriarchatskritikerin und denke sehr stark in den Kategorien Geist und Materie. Die Materie bzw. die Natur ist die wichtigste Kategorie in meinem Denken. Wir sind eben Kinder der Natur und können uns nur ideell, aber nicht reell aus dem Gesamtzusammenhang, den wir in der Natur einnehmen, "herausklauben". Aber genau das tun wir in unserem Denken permanent.

Dass wir uns nicht aus dem natürlichen Gesamtzusammen "herausklauben" können, ist für mich so eine Grundannahme, unter der ich lebe. Den moderaten Konstruktivismus habe ich dabei aber nicht so sehr im Kopf, eher so eine Art Verbundenheitsgefühl mit der Natur.

Das eröffnet jetzt wieder ein ganz neues Thema, über das ich Stunden reden könnte. Bei Bedarf erzähle ich aber gerne mehr darüber :)

Patriachatskritikerin :::)))
Na da werden wir wohl nie Freunde :) Allerdings verstehe ich darunter eher einen primus inter pares als einen Pascha. Da hab ich dann auch so meine liebe Not mit der Gleichberechtigung, jeder kann alles, allerdings, nicht jeder sollte alles. Da ist das Stichwort Natur wiederum sehr interessant.

Ich denke, was du ansprichst ist das Problem der Atomisierung der Menschheit. Da geht wohl jeder Gemeinschaftssinn flöten.

Klingt jedenfalls interessant. Vielleicht machst du ja mal einen Post darüber, oder eine Reihe? Gedankenanregende Posts sind auf steemit ja eh eher rah. Und dabei sind sie, würde ich sagen, nötiger den je.

Schönen Samstag noch!

Die Patriarchatskritik steht der Gleichberechtigung des Feminismus eher kritisch gegenüber. Es geht uns um die Anerkennung der Gleichwertigkeit auf einer normativen Ebene. Es geht nicht darum, dass Frauen jetzt auch zum Militär gehen dürfen, sondern um die Anerkennung des Lebens als solches. Und das bedeutet eben, das Militär bzw. kriegerische Auseinandersetzungen abzuschaffen.

Dann wohl doch.

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