Debunk-Dienstag – Das 10%-Gehirn
Jeden Dienstag werde ich einen bestimmten Mythos, eine Urban Legend, Verschwörungstheorie oder ein Stück Pseudo-Wissenschaft thematisieren. Dieses Mal werden wir eine der größten Mythen der Popkultur etwas näher unter die Lupe nehmen: Menschen nutzen nur zehn Prozent ihres Gehirns.
Versteckte Potentiale
Ich habe schon immer die Idee gemocht, dazu fähig zu sein, wahre Größe zu erreichen. Viele Menschen haben mir über die Jahre gesagt, wie smart und eloquent ich doch sei und dass ich dazu bestimmt bin, die Leben von Millionen zu verändern. Nun, tolle Motivationsrede, man. Ehrlich.
Momentan sitze ich in meinem Zimmer in einer gemieteten Wohnung, während ich für ein irgendwelche Menschen im Internet schreibe, die ich nicht einmal wirklich kenne. Es scheint, dass ich so weit davon entfernt bin, das Leben von Millionen zu verändern, wie man sich nur irgendwie vorstellen kann. Aber das ist ok. Offensichtlich habe ich bisher einfach noch nicht mein WAHRES Potential entdeckt.
Aus irgendeinem Grund gibt es eine Menge an Leuten, die davon überzeugt sind, dass wir, als Menschen, nur zehn Prozent unseres Gehirns nutzen. Und aufgrund dieser 90% Nutzlosigkeit, die wir mit uns herumtragen, können wir nahezu alles erreichen, sobald wir die 90% Müll in 100% Großartigkeit umwandeln. Selbst wenn mein Leben also aktuell abgefuckt, pleite und nutzlos erscheint – das ist nur aufgrund meiner ungenutzten Fähigkeiten so. Ich muss nur den Schalter finden, um auf magische Weise die 90% Großartigkeit freizuschalten und irgendwie werde ich ein gottesähnliches Wesen, das niemand aufhalten kann. Himmel, Luc Besson hat sogar einen Film(1) über die irrwitzige Idee gedreht. Aber wie ich euch schon einmal erzählt habe: Eine der am unterschätztesten Lehren des Lebens ist Enttäuschung. Denn, natürlich, nichts an dieser Idee ist wahr.
Leider. Ich weiß.
Das Leben des Brain
Wie wurde diese Idee geboren?
Um das zu beantworten, müssen wir einige Jahrzehnte in der Zeit zurückreisen. In die 1890er, um genau zu sein. Was war während dieser Zeit, als die Psychologen William James und Boris Sidis die Theorie entwickelten (welche viel mit dem jungen William Sidis zu tun hatte), dass die Menschen lediglich einen kleinen Teil ihrer ganzen mentalen Kapazitäten nutzten(2). Später schrieb Lowell Thomas dazu jenen folgenschweren Satz(3):
Professor William James aus Harvard pflegte zu sagen, dass der durchschnittliche Mensch lediglich zehn Prozent seiner verborgenen mentalen Fähigkeiten entwickelt.
(Übersetzung von mir)
Und der Schaden war angerichtet. Fehlinterpretierte wissenschaftliche Annahmen sind keine exklusiven Neuerscheinungen moderner Zeiten. Es erscheint natürlich ein attraktives Konzept zu sein, daher überrascht es mich nicht, dass es selbst so viele Jahre später immer noch verbreitet ist.
Das Problem mit dieser Idee ist, dass sie immer noch sehr viele Leute glauben. Sogar jene, die es besser wissen müssten, verbreiten diesen Mythos. Richard E. Cytowic zufolge halten 2/3 der Lehrer an öffentlichen Schulen und fast die Hälfte an naturwissenschaftlichen Lehrern an diesem sehr falschen Konzept über mentale Fähigkeiten fest(4). Ich habe mich vor einer Weile in einem Chat über institutionelle Bildung aufgeregt und dass ein spezielles Zertifikat jemanden nicht davor bewahrt, Unsinn zu verbreiten – offenbar steckt hinter meiner Annahme zumindest etwas Wahrheit.
Wie auch immer.
Es kann tatsächlich ziemlich gefährlich sein, dieser Idee zu glauben. Die Neurowissenschaftlerin Sophie Scott besuchte einen Erste-Hilfe-Kurs, bei welchem der Kursleiter den Teilnehmern erzählte, dass sie sich nicht so sehr um Kopfverletzungen sorgen müssten, denn 90% des Gehirn würde ohnehin nichts tun (5). Wow. Das ist heftig. So unfassbar falsch und so verdammt gefährlich. Unser Gehirn ist unglaublich empfindlich, wenn es um Verletzungen geht. Selbst kleine können zu ernsthaften gesundheitlichen Folgen und Behinderungen führen. Wenn ihr jemals einen Erste-Hilfe-Kurs besucht und der Kursleiter erzählt euch, Kopfwunden zu ignorieren – steht auf und widersprecht ihm.
Glücklicherweise haben wir den wissenschaftlichen Fortschritt, der uns mehr über Hirnfunktionen erzählen kann. Es ist klar, dass der Großteil des Gehirns die meiste Zeit aktiv ist(6). In einer Studie über medizinische Mythen erklärten Dr. Rachel C. Vreeman und Dr. Aaron E. Carroll, dass selbst mit einer genauen Untersuchung des Gehirns es nicht möglich war, die behaupteten ungenutzten 90 Prozent zu finden(7).
Ihr könnt darauf ebenso aus einer anderen Perspektive schauen: Euer Gehirn wiegt etwa drei Prozent eures gesamten Körpergewichts – aber es nutzt 20 Prozent an dessen Energie. Erscheint das nicht ein wenig seltsam, wenn ihr nur 10 Prozent davon nutzen würdet? Das wäre eine unglaubliche Verschwendung an Energie und es ist äußerst nutzlos, wenn man das von einem evolutionären Standpunkt aus betrachtet. Der Prozess der natürlichen Selektion würde solche ineffizienten Gehirne schlicht ausgelöscht haben. Die Evolution interessiert sich nicht für versteckte Potentiale – wenn man es nicht nutzen kann, ist es sinnlos, daran festzuhalten und muss deshalb sterben.
Denkt an neurologische Erkrankungen wie Parkinson: Sie betreffen nur sehr spezifische Hirnareale, sind also weit davon entfernt, 90% des Hirns zu schädigen – aber ihre Konsequenzen sind nichtsdestotrotz überaus ernsthaft.
Das Gehirn hat einige erstaunliche Wiederherstellungsfähigkeiten, aber das sollte euch nicht dazu veranlassen zu denken, dass es irgendwo ein verborgenes potential gibt, das darauf wartet, entschlüsselt zu werden.
Wahre Größe
Ich weiß, wie wunderbar die Idee klingt, unvorstellbare Potentiale irgendwo in unserem Gehirn versteckt zu haben. Glaubt mir, ich würde nicht aufhören zu suchen, bis ich einen Weg gefunden habe, auf sie zuzugreifen. Aber unglücklicherweise müssen wir die traurige Wahrheit akzeptieren, dass kein Stein der Weisen in uns darauf wartet, gefunden zu werden. Der einzige Weg, um smarter zu werden und mehr zu erreichen, ist konstante Selbstentwicklung und Re-Evaluation.
Lesen, Fragen, Sport, genügend Schlaf, eine gesunde Ernährung – all diese Dinge könnt ihr bereits tun, ohne die Hilfe von mysteriösen Hoffnungen und erfundenen Kräften zu brauchen. Natürlich, das benötigt permanente Anstrengung und manchmal eine Menge an Disziplin – aber es ist der einzig erwiesene Weg, um konstante Steigerung zu erreichen. In einigen Jahren werden wir wahrscheinlich die Möglichkeit haben, unsere Gehirne mit technischen Mitteln zu verbessern, um unsere mentalen Kapazitäten weit über das Vorstellbare hinaus zu pushen – doch bis dahin müsst ihr andere Wege finden, um Größe zu erreichen.
All den Unsinn in eurem Leben loszuwerden, kann hierfür ein erster Schritt sein. Einer der besten Ansätze, der euch dabei helfen kann, ist das Lesen meiner Artikel (fühlt euch frei zu widersprechen, ich bin immer offen für Debatten). Vielleicht bin ich am Ende doch noch imstande, ein paar Leben zu verändern.
Wir werden sehen.
Fühlt euch jederzeit frei, meine Ideen zu diskutieren und eure Gedanken über die Dinge, die ich thematisiere, zu teilen. Niemand ist allwissend und wenn wir alle ein bisschen klüger als zuvor daraus hervorgehen, werden wir eine Menge erreicht haben.
Danke fürs Lesen und bleibt smart.
Ego
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Falls ihr euch für Wissenschaft begeistern könnt, dann schaut unbedingt unter #steemstem bzw. #de-stem vorbei!
Quellen
(1)https://de.wikipedia.org/wiki/Lucy_(2014)
(2) http://archive.org/stream/energiesofmen00jameuoft/energiesofmen00jameuoft_djvu.txt
(3) http://www.cyberspacei.com/englishwiz/library/friends/how_to_win_friends.htm
(4) https://www.youtube.com/watch?v=5NubJ2ThK_U
(5) www.bbc.co.uk/programmes/b016wzs9
(6) https://www.scientificamerican.com/article/do-people-only-use-10-percent-of-their-brains/
(7) https://www.bmj.com/content/335/7633/1288.full
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Wie so oft super Mythbusting-Arbeit! Diesen Mythos hat glaub ich jeder schon mal gehört, es hält sich wirklich hartnäckig - z.T. natürlich auch auf Betreiben von Scientology et al. (was die Sache noch schlimmer macht).
Resteemed von @de-stem als Bonus.
Ich fand es vor allem sehr erschreckend, dass sowas auch von Lehrern und Ersthelfern verbreitet wird. Das ist echt übel.
Warum sollte man widersprechen? Ich habe in diesem Format schon etwas gelernt ;D
Schade, dass man dann nicht wie in "Inception" mehr Zeit in Träumen verbringen kann, als tatsächlich vergeht. Die hätte man zum Lernen nutzen können :/
Aber das zeigt mal wieder, wie leicht Gerüchte entstehen...
Nun ja, es gibt zumindest die Option des luziden Träumens ;)
Stimmt auch :D
Sehr interessanter Beitrag, dem ich in den meisten Dingen voll zustimmen kann. Leider kann ich mich heute nicht mehr so intensiv mit deinem Artikel befassen wie es eigentlich nötig wäre, aber das werde ich nachholen. Das Alles ergibt für mich eine völlig neue Sichtweise, denn bisher war auch ich der Annahme, dass wir nur einen Teil unseres Gehirns nutzen. So das wars für heute, mehr dazu wenn ich mir deinen Artikel mit all deinen Verlinkungen in aller Ruhe durchgelesen habe.