Vielleicht doch? Eine kleine Weihnachtsgeschichte (joru051)

in #writing5 years ago

Vielleicht doch?

Ich sitze hier in meinem Büro auf dem verschlissenen Drehsessel, der schon alt war, als ich mich vor einigen Jahren zum ersten Mal auf ihn gesetzt habe. Im Kachelofen hinter mir knistert ein frisch angefachtes Feuer. Es ist gerade sechs Uhr dreißig morgens, meint eine verschlafene Stimme aus dem Radio. Draußen schneit es, ja, es schneit – lange ist es her seit dem letzten Schnee. Es weihnachtet richtig. Halt, waren das nicht Glöckchen, die eben zu hören waren? Ist der Weihnachtsmann über den Wolken auf seinem Schlitten vorbeigefahren? Aber nein, den gibt es doch nicht, oder?
Ich werde Euch jetzt eine kleine Geschichte erzählen. Sie handelt von einem Jungen namens ... nennen wir ihn mal Freddy.

Vor ein paar Monaten war er vier geworden und er ist ein richtiger Lausbub gewesen, aber lieb. Überall war er drin und dran. Seine Mutter, Mrs Abbdon - sie hieß natürlich auch nicht so, aber der Name klingt ähnlich - hatte damals 48 Stunden und mehr am Tag mit Freddy zu tun. Hätte der Junge einen Bruder gehabt, sie wäre wahrscheinlich davongelaufen. Aber nein, Mr und Mrs Abbdon liebten ihren Sohn über alle Maßen; so viel, dass es auch noch für einen Zweiten gereicht hätte. Aber von der Liebe allein kann bekanntlich niemand leben und so konnten sie sich kein weiteres Kind leisten. Harry Abbdon war in der Fischkonservenfabrik am Fließband beschäftigt und brachte gerade genug nach Hause um leben zu können. Und Freddy musste niemals hungern.

Eines Tages sah er mit seiner Mum diesen Schwarzen vor dem Geschäft, in dem sie immer einkauften und auch mal anschreiben lassen konnten. Natürlich hatte er schon viele dunkelhäutige Menschen gesehen, aber dieser stand am Eingang zum Laden und sang – und: er spielte Gitarre. Freddy hatte noch niemals in seinem Leben ein Musikinstrument wie dieses gesehen oder gehört und war fasziniert. So kam es, dass seine Mutter zum ersten Mal alleine und in Ruhe einkaufen konnte. Als sie fertig war, viel schneller als sonst und ohne einen Beinahenervenzusammenbruch, stand der Kleine noch immer in der Menge um den Schwarzen und hörte wie die anderen mit großen glänzenden Augen zu. Man hörte so einen Blues viel zu selten in dieser Gegend in dieser Zeit. Und viele schimpften, auch die weißen Zuhörer, als die Polizisten den „Bettler“, wie sie ihn nannten, abführten. Doch kein Geld lag am Boden und kein Hut war herumgegangen. Er hatte einfach gespielt um die Leute und sich selbst zu erfreuen, so seltsam das auch klingen mag. Freddy weinte und seine Mutter brauchte den ganzen Heimweg und bis nach dem Abendessen um ihn etwas beruhigen zu können.

Am nächsten Morgen meinte Freddy strahlend zu seinen Eltern, er wünsche sich nur eine Gitarre zu Weihnachten und sonst nichts. Mum lächelte. fast hätte sie sich sowas denken können. „Er wird es schon bald wieder vergessen“, meinte sie. Aber Freddy hörte nicht auf, von dieser Musik zu schwärmen. Und er hätte sicherlich auch eine Gitarre von seinen Eltern zu Weihnachten bekommen, wenn nicht die Firma seines Vaters Pleite gemacht hätte und er so von einem Tag auf den anderen auf der Straße stand - Anfang November.

So viele waren ohne Arbeit und nun auch der brave Mr Abbdon. In den letzten Jahren hatten sie sich nur wenig ersparen können. Gerade so viel, um noch eine Zeitlang durchzuhalten. Viel geweint wurde im elterlichen Schlafzimmer, denn auch kurz vor Weihnachten war noch kein Job in Aussicht. Es trifft immer die Falschen – so viele Falsche. Freddy bekam nichts mit und begriff – Gott sei Dank – auch noch nicht die Dinge, die in der Welt der Erwachsenen vorgingen. Er war vergnügt wie eh und je.

Früh wachte Freddy auf am Weihnachtstag. Ein leises Glockenklingen hatte ihn geweckt. Er lief zum Fenster und sah ein Licht hoch droben, das aber schnell verschwand. Jetzt sah er den Schnee. Der erste seit Freddy auf der Welt war. Er würde nun Schneemänner bauen können und Schneeballschlachten veranstalten mit den Nachbarsjungen, genau wie in seinen Bilderbüchern. „Es ist Weihnachten“, dacht er, „meine Gitarre!

Freddy schlich zum Schlafzimmer seiner Eltern und lugte hinein. Sie schliefen friedlich. Dann tapste er die Treppe hinunter. Wer hat denn den Christbaum aufgestellt? Die vielen Kugeln blitzten ihn freundlich an. Eine warme Freude durchströmte ihn, wie auch viele andere Kinder auf der ganzen Welt in diesem Moment, als er die Geschenke sah.
Gleich war er inmitten von vier, fünf Paketen, auf denen sein Name stand. Den konnte er nämlich schon lesen und war sehr stolz darauf. Im Nu flog Weihnachtspapier durch die Luft. Neue Wollhandschuhe und Socken in blau, eine Strickjacke und eine Wollmütze mir einer irrsinnig langen Quaste – länger als die, die im Kaufhaus von den anderen Kindern bewundert worden war, und viel, sehr viel schöner. Gleich zog er alles an. Freddy lachte glücklich. Ein Malkasten war dabei und ein großer weißer Block. Alles, was er sich eigentlich insgeheim gewünscht hatte.

Es war doch der Weihnachtsmann gewesen, der ihn geweckt hatte. „Es gibt ihn!“, dachte Freddy. Sein Freund Mario hatte gelogen. Ein großes Paket war noch übrig. In ein anderes Papier eingewickelt. Freddy riss es auf und sah die Gitarre auf der Schachtel abgebildet. Der Junge strahlte und nahm sie vorsichtig heraus. Genau die richtige Größe und ein Lehrbuch für Kinder war auch dabei. Er nahm sie, stürmte in den ersten Stock und sprang zu seinen Eltern aufs Bett. Die „erwachten überrascht“. Aber ihr hättet ihre Augen sehen sollen, als sie die Gitarre sahen. Sie wussten, sie hatten gerade genug Geld gehabt um die Wolle und den Malkasten kaufen zu können; und auch nur, weil Mrs Abbdon stundenweise putzen ging. Aber die Gitarre, von wem war die? Jedenfalls war noch keine unter dem Baum gewesen als sie ihn vor einer Stunde geschmückt und die Geschenke daruntergelegt hatten. Freddy sagte, er habe den Weihnachtsmann davonfliegen gesehen.

Dieses Weihnachten haben die Abbdons nie mehr vergessen. Und als Freddy dann zu Fred wurde, erzählten sie ihm die Geschichte. Er hatte sich inzwischen schon selbst eine Gitarre von seinem eigenen Geld kaufen können, doch die kleine Kindergitarre von damals hatte immer ihren Ehrenplatz. Was seine Eltern auch immer sagen mochten - ich erinnere mich noch genau an diesen Morgen und glaube noch immer, den Weihnachtsmann gesehen zu haben, wenn ich auch weiß, dass es ihn nicht gibt – oder vielleicht doch?

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Bildquelle: https://pixabay.com/en/cat-red-christmas-santa-hat-funny-1898640/
Fotograf(in): Alexas_Fotos
Text: joru | #originalcontent #originalworks

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