Der Spatz (joru001)

in #deutsch6 years ago (edited)

Der Spatz

Langsam stieg er die Anhöhe hinauf. Einsam schlurfte er mit nachdenklich gesenktem Kopf durch das noch morgenfeuchte Gras und hinterließ einen schnurgeraden Pfad nach oben. Doch hinter sich konnte er sie lachen hören. Da war keiner da – es war noch zu früh und das ganze Dorf schlief noch an diesem Sonntagmorgen. Am Montag mussten sie ohnehin wieder früh aus den Federn zur Arbeit oder zur Schule. Warum also sonntags mal ausschlafen? Zumindest bis die Glocken zur Kirche riefen.

Sie lachten über ihn, das wusste er. Über ihn, über seine Ideen – Einfälle, die sonst keiner hatte. Und dieser hier war sein größter, sein „genialster“. Sie lachten über seine Kostümierung – über die Federn an seinen Armen und Beinen. Er hörte sie, obwohl, außer Vogelgezwitscher nur zwischendurch ein langgezogener Schnarcher aus den geöffneten Fenstern brummte. Er hatte Spatzenfedern genommen. Jeder andere Vogel hätte es auch getan, aber diese lustigen kleinen Gesellen, die so mutig den Großen die gewaltigsten Brocken unterm Schnabel wegschnappten, hatten es ihm angetan.

Schnell war er am höchsten Punkt des Hügels angelangt. Es war überhaupt der weitaus höchste Punkt und auch der einzige steile Felsenhügel in der leicht hügeligen Landschaft um das kleine Dörfchen und man konnte alle Häuser, den Dorfplatz und natürlich auch das höchste Gebäude, den Kirchturm, sehen.

Mit konzentriert zusammengekniffenen Augen betrachtete er seinen eben ausgetretenen Weg durch das nasse Gras unter den Felsen hinunter und sah nun ein paar Frühaufsteher auf dem Dorfplatz in die üblichen Morgengespräche vertieft. Rechterhand verlief der in warmen Herbstfarben bemalte Laubwald in einem Halbbogen um das Dorf. Er liebte diese Jahreszeit: den Nebel, der morgens alles in undurchsichtiges Weiß tauchte und dann, wenn die Sonne höher stieg, immer mehr Farben enthüllte. Er beobachtete die Szene in Ruhe und immer mehr Leute kamen aus ihren Häusern, manche noch im Morgenmantel, auch im Pyjame – man war ja auf dem Land.

Sie wurden munter, lachten und alberten herum, wie immer. „Ruhe“, gebot er mit einer für ihn untypischen „herrischen“ Handbewegung. Der nun entstehende Lärm störte ihn, störte die Ruhe dieses so wichtigen Morgens. Aber natürlich bemerkte ihn niemand. Sollte er es also wirklich machen – jetzt da die Steine hinunterlaufen und sich an dem kleinen Abgrund oberhalb der Wiesen mit einem gewaltigen Flügelschlag in die Lüfte schwingen? Keinen Zweifel hegte er daran, dass es ihm leicht gelingen würde, denn es war lange geplant und er wollte es.
Aber sollte er diesem Publikum etwas vorführen, was es niemals verdient hatte, was sie nicht verstehen würden – wer wollte denn schon sowas tun? Sie würden doch nur noch mehr verständnislos lachen und ihn verspotten.

Aber er war nun mal schon hier und nun, so sei es denn. Noch einmal streckte er die Arme in die Höhe, schwang locker die Flügel und rannte abwärts. Dann bemerkte ihn einer der Dorfbewohner, rief etwas und dann schauten alle zu ihm hoch, riefen, winkten. Im Laufen sah er ihre Augen, ja er konnte sie aus dieser Entfernung sehen. Das Ende der Bahn kam immer näher. Angstgeweitet starrten sie ihn nun an. „Haben sie wirklich Angst?“, fragte er sich noch, dann stieß er sich lachend ab und schlug die Flügel nieder. Er hörte Schreie, fühlte sich jäh emporgerissen „ich fliege!“.

Dann sah er sie wieder – von hoch oben brachte ihn eine kleine Flügeldrehung näher runter. Es war, als hätte er noch nie etwas anderes getan als zu fliegen. Doch keiner schaute zu ihm herauf und bewunderte ihn. Er konnte erkennen, wie sie den Grashügel hinaufliefen bis zu den Felsen. Immer mehr kamen, schlaftrunken zum Teil, aus ihren Häusern und liefen hinauf. Dichtgedrängt standen Sie dort. Ein paar schienen zu weinen, andere schüttelten nur den Kopf. Doch was sie sagten konnte er nicht verstehen. Und sie schienen ihn auch nicht zu sehen, obwohl er nur wenige Meter oberhalb in der Luft flatterte. Er lachte ihnen zu, dass er hier sei und nicht dort unten – „schaut mich an, ich fliege! Was habt ihr dort zu sehen?“.

Dann, durch das laute Schreien wurden sie aufmerksam. Sie sahen zu ihm auf. Jetzt begannen die Gesichter wieder zu lächeln und dann lachten sie alle. „Ihr lacht mich wieder aus“, schrie er, „trotzdem. Ihr seht doch, ich fliege, ich hatte recht!“ Wütend drehte er sich um und flog schimpfend davon. Niemals wollte er wieder in die Nähe von Menschen kommen.

Hätte er verstanden was sie da gesagt hatten, hätte er dieses Lachen richtig gedeutet – er wäre geblieben. Auf seinen Grabstein ließen sie einen kleinen Spatz meißeln.

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https://steemit.com/introduceyourself/@joru/artikel-zur-vorstellung-meiner-person-vorwort
https://steemit.com/deutsch/@joru/noch-ein-tipp-um-mich-vielleicht-besser-zu-verstehen


Bildquelle:
https://pixabay.com/de/spatz-vogel-bad-dusche-1908357/
Fotograf(in):
Babil Kulesi https://pixabay.com/de/users/babilkulesi-4016372/

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