Frage: Was ist typisch deutsch? / Question: What is typically German?

in Steem Germany3 years ago (edited)

[English version below]

Typisch deutsch ist, diese Frage sofort ernst zu nehmen, ziemlich ernst, zu ernst vielleicht. Und diese Frage dann erst einmal zu analysieren: Was heißt „typisch“? Ist das nicht immer eine Frage nach Klischees? Wer stellt überhaupt diese Frage – und warum? Nicht zuletzt: Wer wird hier gefragt? Ich als Deutscher?
Ernsthafte Analyse.
Natürlich sind humorvolle, ironische, bissige Antworten möglich. Aber wären diese dann selbst auch noch typisch deutsch? Oder wären sie das neue typisch Deutsche? Ist also typisch deutsch über Dekaden hinweg veränderlich, so dass wir eine Antwort für – sagen wir mal – die 1960-er akzeptieren könnten, welche von einer Antwort für die 1990-er verschieden wäre?
Was mich zu den Regionen bringt. Ist typisch deutsch dasselbe in Friesland wie im Oberallgäu, am Rhein wie jenseits der Elbe, in der Metropole wie auf dem Dorf?
Ernsthafte Analyse. Sagte ich ja bereits.
Was also ist so typisch deutsch, dass es Norden mit Süden, Osten mit Westen, heute mit gestern und außerdem auch noch Stadt mit Land verbindet?
Kaum zu glauben, aber wahr: Bier.
Biere werden in Deutschland überall gebraut und getrunken, das Reinheitsgebot von 15...irgendwas ist ein deutsches, also typisch deutsch.
Komme ich also ohne riesige Umfrage, ohne eine Million Differenzierungen so billig über die letzten 500 Jahre typischer Deutschheit? Mit Bier?
Hm.
Was ist mit den deutschen Landes- oder Sprachraum-Grenzen einerseits und folgenden Fakten andererseits: Bier wird auch gebraut und getrunken und wie eine Art Nationalgetränk gehandelt in Tschechien, Belgien, Britannien, und es stammt aus Assyrien? Wenn Bier also typisch deutsch ist, dann keinesfalls exklusiv deutsch. Folglich bleibt mir bisher nur Grübelei, Gründlichkeit, Besserwisserei/ Schlaumeierei, und das ist typisch deutsch.
Typisch deutsch ist, in anderen Worten, das Wort und die Sache der Ingenieurskunst. Klar, das Wort „Ingenieur“ ist französisch inspiriert (nach Frankreich zu schauen, ist nämlich auch typisch deutsch, und das nicht erst seit 1789), und: ja, es gibt gute Ingenieure überall auf der Welt (außer vielleicht bei der Brandschutz-Anlage des Flughafens BER). Aber Ingenieurs-KUNST, nämlich die Denkweise: „wollen doch mal sehen, ob wir das Rad nicht selbst und runder neu erfinden können“, das ist typisch deutsch.
Und diese Denkweise durchsalzt auch zahlreiche Gebiete der Organisation und der politischen Staatsführung, Stichwort: Regelungswut. Wir Deutsche schauen aufmerksam, was andere machen, doch mit deutscher Gründlichkeit können wir das besser.
Mit deutscher Gründlichkeit kann sogar in der Kunst, speziell in der Tonkunst, Erstaunliches geschaffen werden. Sind die Werke von Bach und Beethoven nicht typisch deutsch? Doch, auf jeden Fall! Nicht kleingeistig oder provinziell, sondern mit Blicken über Grenzen und auf das Ganze, und zwar gründlich. Es gibt bereits in sich vollkommene Sinfonien? Schön, dann erfinde ich eben die Gattung komplett neu. Es gibt längst schon die Oper? Danke, ich erfinde das musikalische Drama, und zwar als Gesamtkunstwerk. Okay, das letztere war Wagner. Aber typisch deutsch.

Nicht nur für das Erschaffen, leider auch für die Zerstörung und das Morden gibt es Beispiele typisch deutscher Gründlichkeit. Das muss ich hier kurz erwähnen, damit nicht der Eindruck entsteht, Gründlichkeit sei per se eine Tugend. Das ist sie leider nicht: sie ist eher eine Art Hure, die sich mit Gut und mit Böse paart.
Die typisch deutsche Gründlichkeit hat zu meinem Bedauern die Eigenheit, ab einer bestimmten Stelle zum Selbstläufer zu werden, zur Gründlichkeit um der Gründlichkeit willen, und das ohne Reflexion auf sich selbst. Mit einer gründlich reflektierten Gründlichkeit ließe sich viel anfangen und noch mehr vermeiden, doch die typisch deutsche Ausprägung neigt zum Berserkern: „...und zwar gründlich!“ bedeutet in aller Regel, ohne nochmal nach rechts und links zu schauen. Ein Tunnelblick-Syndrom.

Ich darf hier vielleicht mal kurz zusammenfassen: typisch deutsch ist eine gewisse Art von Gründlichkeit, die man ihrerseits die typisch deutsche Gründlichkeit nennen kann. Diese ist sich selbst undurchsichtig, sie wird darin arrogant und brutal, wenn sie nicht von der Freiheitsliebe an die Zügel genommen wird.
Es gab wohl auch einmal eine typisch deutsche Freiheitsliebe, aber ich fürchte, diese haben wir im 19. Jahrhundert zurückgelassen – wahrscheinlich in Versailles bei der Reichsgründung 1871.
Aus dem 19. Jahrhundert mitgebracht haben wir allerdings (glaube ich) die sogenannte Gemütlichkeit. Gemütlichkeit ist entweder an sich schon typisch deutsch, oder es gibt zumindest eine typisch deutsche Version davon.
Das Wort wurde als Fremdwort sowohl ins Französische als auch ins Englische übernommen – ein deutlicher Hinweis auf die Besonderheit als deutsches Phänomen. „Deutsch“ heißt hier ausdrücklich: deuschsprachig, den deutschen Sprachraum betreffend. Die sogenannte Wiener Gemütlichkeit ist eine Art terminus technicus für eine spezifische lokale oder regionale Ausprägung (und wird gerne kritisiert als verlogen), und jetzt entschuldigt bitte, liebe Österreicher, doch Wien ist (nicht politisch, aber kulturell) so deutsch wie Köln oder Hamburg. Na gut, sagen wir: wie München.
Ich erspare mir jetzt den schlaumeierischen Verweis auf die Entstehung und Umwidmung des Begriffs im 18. bzw. 19. Jahrhundert. Entscheidend ist vielmehr, dass Gemütlichkeit ein sogenannter subjektiver Begriff ist – wie Schönheit: jede/r nimmt sie anders wahr, es gibt zwar keine Definition und nicht einmal ein allgemein anerkanntes Ideal, aber eine allgemeine Bekanntheit und kaum einen Zweifel daran, dass es es sie in irgendeiner Form tatsächlich gibt. Und Gemütlichkeit ist von der Denke her typisch deutsch, eine ganz besondere Nuance der Behaglichkeit und des Wohlgefühls. Herzerwärmend. Mit Neigung zum Kitsch.

Typisch deutsch? Bierseligkeit, Gemütlichkeit und Gründlichkeit. Diese drei. Die größte unter ihnen, paraphrasiere ich jetzt einmal Paulus, ist die Gründlichkeit.

Was zu zeigen war. Ich meine jetzt: zu zeigen, nicht nur zu behaupten. Mit rund neunhundert Wörtern habe ich mal ganz gemütlich ein bisschen Gründlichkeit gezeigt. Prost!

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[English version]

It is typically German to immediately take this question seriously, quite seriously, perhaps too seriously. And then to analyse this question first: What does "typical" mean? Isn't that always a question of clichés? Who asks this question in the first place - and why? Last but not least: Who is being asked here? Me as a German?
Serious analysis.

Of course, humorous, ironic, biting answers are possible. But would they themselves then still be typically German? Or would they be the new typical German? So is typically German variable across decades, so that we could accept an answer for - let's say - the 1960s that would be different from an answer for the 1990s?
Which brings me to the regions. Is typically German the same in Frisia (i.e. north most district of Germany) as in Oberallgäu (southern most district of Germany), on the Rhine (in the true west of Germany) as on the other side of the Elbe (defining the eastern areas of Germany), in the big city as in the village?
Serious analysis. I already said that.

So what is so typically German that it connects north with south, east with west, today with yesterday and also city with country?
Hard to believe, but true: beer.
Beers are brewed and drunk everywhere in Germany, the law „Reinheitsgebot“ (Purity Law) of 15...something is a German one, so it's typically German.
So can I get over the last 500 years of typical Germaness so cheaply without a huge survey, without a million differentiations? With beer?
Hm.
What about the German national or linguistic area borders on the one hand and the following facts on the other: beer is also brewed and drunk and traded like a kind of national drink in the Czech Republic, Belgium, Britain, and it originates from Assyria? So if beer is typically German, it is by no means exclusively German. Consequently, all I have so far is brooding, thoroughness, know-it-all/ smart-alecky, and that is typically German.

Typically German, in other words, is the word and the cause of the art of engineering. Sure, the word "Ingenieur" (engineer) is French-inspired (looking to France is also typically German, and not just since 1789), and: yes, there are good engineers all over the world (except perhaps at the fire protection system of BER airport). But the ART of engineering, namely the way of thinking: "let's see if we can't reinvent the wheel ourselves and make it more round then before", that is typically German.

And this way of thinking also permeates numerous areas of organisation and political governance, keyword: regulatory frenzy. We Germans look carefully at what others are doing, but we can do better with German thoroughness.
With German thoroughness, amazing things can even be created in the arts, especially in musical art. Aren't the works of Bach and Beethoven typically German? Yes, definitely! Not small-minded or provincial, but looking across borders and at the whole, and thoroughly. There are already symphonies that are perfect in themselves? Fine, then I'll completely reinvent the genre. Opera has already existed for a long time? Thank you, I'll invent the musical drama, and I'll do it as a „total work of art“ (German Gesamtkunstwerk). Okay, the latter was Wagner. But typically German.

There are examples of typical German thoroughness not only for creating, but unfortunately also for destroying and murdering. I must mention this briefly here so that the impression is not created that thoroughness is a virtue per se. Unfortunately, it is not: it is rather a kind of whore, mating with good and with evil.
To my regret, typical German thoroughness has the peculiarity of becoming a self-runner after a certain point, thoroughness for thoroughness's sake, and that without reflection on itself. With a thoroughly reflected thoroughness, a lot could be done and even more avoided, but the typical German characteristic tends to go berserk: "...and thoroughly!" usually means without looking to the right and left. A tunnel vision syndrome.

Perhaps I may briefly summarise here: typically German is a certain kind of thoroughness, which in turn can be called typically German thoroughness. This is opaque to itself, it therefore becomes arrogant and brutal if it is not taken in hand by the love of freedom.
There was probably once a typical German love of freedom, but I fear we left it behind in the 19th century - probably at Versailles when the empire was founded in 1871.

However, we have brought with us from the 19th century (I think) the so-called Gemütlichkeit. Gemütlichkeit is either typically German in itself, or there is at least a typically German version of it.
The word has been adopted as a foreign word in both French and English - a clear indication of its distinctiveness as a German phenomenon. "German" here means explicitly: German-speaking, pertaining to the German-speaking area.
The so-called Viennese Gemütlichkeit is a kind of terminus technicus for a specific local or regional characteristic (and is often criticised as mendacious), and now please excuse me, dear Austrians, but Vienna is (not politically, but culturally) as German as Cologne or Hamburg. All right, let's say: like Munich.

I will spare myself the sly reference to the origin and re-designation of the term in the 18th and 19th centuries. What is decisive is that Gemütlichkeit is a so-called subjective concept - like beauty: everyone perceives it differently, there is no definition and not even a generally recognised ideal, but there is general awareness and hardly any doubt that it actually exists in some form. And Gemütlichkeit is typically German in terms of thinking, a very special nuance of cosiness and well-being. Heart-warming. With a tendency towards kitsch.

Typically German? Beeriness, Gemütlichkeit and thoroughness. These three. The greatest of these, I will now paraphrase St. Paul, is thoroughness.

Which had to be shown. I mean now: to be shown, not just to be proved. With around a thousand words, I have shown a little thoroughness at my leisure (German gemütlich). Cheers!

Sort:  

Mit rund neunhundert Wörtern habe ich mal ganz gemütlich ein bisschen Gründlichkeit gezeigt.

Solltest du nicht tun, bevor du dich noch gründlich der Community vorgestellt hast… ;-)

Though… Herzlich willkommen auf dem Steem?!

Moin! Ah, das werde ich alsbald nachholen. Jetzt war ich erst einmal darauf aus, die Abgabe-Frist einhalten zu können für den Wettbewerb.
Ich bin zwar im alltäglichen Leben viel am Rechner, dabei aber meist unterwegs, um Dinge zu regeln für andere (IT-Zeugs). Daher beschränke ich meine Freizeit am PC etwas, sonst fallen mir die Augen raus...
Wird bald nachgeholt, versprochen!

;-)
Ich freue mich drauf!!!
:-))

Nu isses passiert...
Viel Spaß beim Lesen, danke für dein Interesse.

War eigentlich schon deutlich genug, wie exorbitant hoch jetzt die Erwartungshaltung an Dich und die Meßlatte für uns geworden ist...? ;-))) Tu was!

Ahne ich da grad Vielversprechendes aus der Ecke Berlin?!... ;-)

Du bist so clever... ;-))

Der Autor sieht aus wie ein Professor am Goethe-Institut.
Ihre Argumentation hat mir sehr gut gefallen.
Ich hätte 1001 Wörter schreiben und eine Fortsetzung andeuten sollen.
Ich entschuldige mich für mein Deutsch, ich verstehe kein Wort von dem, was ich schreibe.
Ich habe Ihren Text mit einem elektronischen Übersetzer gelesen.

Danke fürs Lesen und für den Kommentar!
Besonders gefällt mir der Satz: "Ich entschuldige mich für mein Deutsch, ich verstehe kein Wort von dem, was ich schreibe."
Das geht mir manchmal ganz genauso, aber dann lese ich es neu, und mit etwas Glück verstehe ich doch noch etwas.
;-)

 3 years ago (edited)

Herzlichen Dank auch für das Goethe-Kompliment!

 3 years ago (edited)

Na das ging ja schnell, kaum habe ich deinen Account freigeschaltet und schon haust du so einen tollen Beitrag raus.

Muss gestehen mit solch einer ausführlichen Analyse des kleinen Wettbewerbs den ich aus geschrieben habe habe ich gar nicht gerechnet 😃

Schön dass Du den Weg zu uns gefunden hast, und ich bin mir ganz sicher dass du eine Bereicherung für unsere kleine deutschsprachige Community sein wirst !

Vielen Dank!
Ich habe diesen Beitrag natürlich nicht in 10 Minuten verfasst, der lag schon abgetippt bereit, um ihn gleich posten zu können...
Die Frage, was typisch deutsch ist oder sein könnte, ist halt ziemlich interessant, finde ich; sie öffnet begehbare Räume mit unerwarteten Perspektiven.

Hi, @ty-ty,

Thank you for your contribution to the Steem ecosystem.

The @ecosynthesizer Curation Team,


Please consider voting for our witness, setting us as a proxy,
or delegate to @ecosynthesizer to earn 100% of the curation rewards!
3000SP | 4000SP | 5000SP | 10000SP | 100000SP

hihi ganz gute und ausführliche Analyse, es hätten leicht mehr als 1000 Worte werden können, hättest du dazu genommen was dir jeder Ausländer sofort auch noch zuruft --> die Birkenstockschlappen und die weißen Tennissocken, aber vielleicht gehört das auch zur Gründlichkeit ;) >>> toller Artikel <<<

Steem on und weiter viel Erfolg...

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Aktueller Kurator ist @don-thomas
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Danke sehr!
Natürlich gibt es noch mehr Klischees, doch manchmal (aber nur manchmal) schaffe ich es tatsächlich, mich auf das Wesentliche zu beschränken.
Apropos Birkenstocks - gehören die nicht zu den Schweizern? Nur ne Frage...
Weiße Tennissocken gehören garantiert (also "garantiert") auch zu den Briten. Oder?
Wie dem auch sei...

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Müsste eigentlich mehr sein - aber es ist eine kleine extra Anerkennung für deinen gelungenen Beitrag !

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Herzlich willkommen auf steemit

Danke fein!

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