Der Patient - Hals über Kopf [#2]

in #deutsch6 years ago (edited)

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Hals über Kopf


Wenngleich ich bereits viele Monate in dieser Stadt um den Kremel herum lebe, so habe ich mich an die Kälte, die hierzulande schlicht omnipräsent ist, längst nicht gewöhnt. So durchzieht mich der eiskalte Wind auf meinem Weg zu dem Doktor trotz der warmen Kleidung, trotz des Mantels, der fast bis zu meinen Stiefeln reicht. An seiner unscheinbaren Einrichtung angekommen, bin ich mehr als froh, dass nur nach wenigen Sekunden des Wartens der Summer der Tür ertönt und ich aus der Kälte flüchten kann. Den Morgen über habe ich mir keine ernsthaften Gedanken über den heutigen Tag gemacht. Wie üblich wird der Doktor alle Abläufe durchgehen wollen und besprechen, welche Risikofaktoren wir genauer besprechen müssen. Mit dem Eintreten seiner 'Praxis' kommt mir ein Schmunzeln über die Lippen. Nie zuvor, auch wenn ich schon sehr viele Male hier war, habe ich einen anderen Patienten hier gesehen. Außer dem Doktor, seiner Assistentin Anastasia und mir selbst war nie jemand hier, was mir um ehrlich zu sein wirklich sehr angenehm war. Ich mochte es einfach noch nie, unnötig viele dieser fremden Menschen um mich zu haben und die Erfahrungen meiner, nun nicht mehr ganz so jungen, Vergangenheit hat diese Einstellung nur noch bestärkt.

Mit einem Lächeln auf den Lippen kommt mir der Doktor entgegen und begrüßt mich auf den kargen Gang, bevor ich ihm in das übliche Zimmer folge, dass einem Normalo mit Sicherheit sehr skurril vorkommen würde, mit all seinen Utensilien und dem chaotischen Touch. Ich fühle mich wohl, wie meistens, wenn ich hier bin und nehme meinen gewohnten Platz ein. Nach dem Niederlassen schaue ich zunächst einige Sekunden auf die weiße Wand, die sich seit gestern nicht verändert hat. Keinen Millimeter hat sich der feine Riss, der von der Decke beginnend sich der Wand entlang ausgebreitet hat, vergrößert. Wie in Trance stecke ich mir eine Zigarette in den Mund und entzünde Sie, während meine Augen den Riss an der Wand auf und ab wandern. Als ich den Rauch wieder hinaus puste muss ich an einen Satz denken, den mir meine Ex häufig um die Ohren schleuderte, als Sie noch ein Teil meines Lebens war. Sie konnte nicht verstehen, wie ich es mit meinem Wahn den Menschen zu verbessern und den nächsten Schritt unserer Epoche einzuleiten so ernst nehmen konnte, und dennoch eines der niedersten Laster überhaupt verfallen war. Aber so war das Leben schon immer in meinem Leben, bei genauster Betrachtung erscheint dem Beobachter ein reines Paradoxon. Jemand sagte einmal ich glich dem personifizierten Widerspruch, diese Anmerkung gefiel mir, denn ich empfand und empfinde sie als sehr zutreffend. Plötzlich reißt mich der Doktor aus meinen Gedanken.

"Mr. Zlusnijets, bevor wir beginnen…", ich blicke ihn an und er fährt mit einem leichten Grinsen im Gesicht fort. "Ich hätte eine Frage. Wissen Sie, Sie haben mir vor einigen Wochen von Ihrem Anliegen erzählt und seitdem beschäftigt mich die Frage, wie Sie sich selbst wahrnehmen?"
Ich schnaube verächtlich, was ihn allerdings dazu bewegt zu glauben, ich hätte seine Frage nicht verstanden, sodass er seiner Neugier erneut Ausdruck verleiht.
"Ja, als was sehen Sie sich? Als Weltverbesserer, Anarchist oder sind Sie für sich nur ein Technologie-Freak?"
Dies bringt mich zum Lachen. Ich schüttele mit dem Kopf und beäuge ihn ein wenig. Diese Frage ist mir nur zu bekannt. Auch wenn ich es nicht wirklich verstehen kann, so haben Sie mir doch bereits einige Leute gestellt. Damals, da war ich gerademal zwanzig gab ich spontan eine Antwort darauf, von der ich rückblickend sagen muss, dass sie treffender nicht hätte sein können. So gebe ich auch dem Doktor diese Antwort:
"Wissen Sie, ich bin ein Künstler. Ein Künstler mit Leib und Seele. " So wie alle zuvor, verblüfft auch ihn diese Antwort und er schaut einige Zeit als würde er sich fragen, ob mit mir wirklich alles in Ordnung ist oder er nicht doch einem Verrückten gegenübersitzt. Dabei bin ich wirklich davon überzeugt ein Künstler zu sein, ein Künstler, dem der Mensch Leinwand und die Technologie Pinsel ist.
"Nun, ich habe bereits einige Vorbereitungen getroffen und die benötigten Papiere vorbereitet, dass wir direkt loslegen können. ", kommt der Doktor zu dem eigentlichen Grund meines Besuches ohne eine weitere Anmerkung zu meiner Antwort zu machen.
Er ist sichtlich aufgeregt, was wohl mit unserem nahezu unglaublichen Vorhaben, so bezeichnete er es, als ich ihm das erste Mal davon erzählte, passieren würde. Ich für meinen Teil war mir sicher, dass wir Erfolg haben würden, auch wenn ich mir noch nicht ganz vorstellen kann, wie ein Bewusstsein in einer Cloud aktiv sein kann. Ich meine, die technischen Bedingungen sind zur Genüge abgeklärt und in Eigenregie von mir getestet… Die reale Vorstellung, dass all das was man selbst ist, in eine Welt aus Nullen und Einsen geladen werden und das eigene Bewusstsein dann in dieser Welt erlebt, ist mir allerdings mehr als fremdartig. Und es gibt nur extrem wenige dieser Dinge, die ich mir trotz Ihrer Unglaublichkeit kaum vorstellen kann. Ich meine, ein digitales Backup eines Bewusstseins ist logisch und einfach vorzustellen. Es funktioniert wie ein Backup einer gewöhnlichen Datei, benötigt nur eine Vielzahl mehr Speicherplatz und somit komplexere Rechnerstrukturen.
"Ich kann Ihnen um ehrlich zu sein noch nicht sagen, ob es wirklich möglich sein wird Ihr Bewusstsein auf den Server zu laden. Alleine im Übertragungsprozess liegen aufgrund meiner beschränkten Ressourcen einige Problemherde. Ich würde vorschlagen, dass wir noch heute damit beginnen, ein Abbild ihres Bewusstseins anzufertigen. Sicher ist dies sehr kurzfristig, allerdings…"
Ich unterbreche ihn mit einer Handbewegung und lasse einmal meinen Kiefer knacken.
"In Ordnung, wie lange benötigen Sie zur Erstellung des Abbildes?"
Wieso auch zögern, meine Entscheidung war schon lange getroffen, ich wollte alles geben um mein Ziel, mit meinem eigenen Bewusstsein in einer rein digitalen Struktur zu erleben, realisieren zu können und somit keine Zeit verlieren. Ich wusste allerdings, dass die Abbildung und Speicherung eines gesamten menschlichen Bewusstseins Wochen, wenn nicht sogar Monate in Anspruch nehmen kann, insofern die technischen Ressourcen nicht ausreichend vorhanden sind. Der Doktor überlegt einige Sekunden und zieht schließlich ein Blatt mit einer Rechnung darauf aus einer Aktenmappe hervor. Er drückt es mir in die Hand, während er zu reden beginnt. "Insofern wir keine Komplikationen bekommen und Sie die gesamte Phase im künstlichen Koma verbringen sollte das Abbild Ihres Bewusstseins innerhalb von sechs Tagen und acht Stunden abgeschlossen sein. Ich würde Sie über die gesamte Zeit zusammen mit Anastasia vor Ort betreuen, sodass Sie nie unbeobachtet wären."
Gerade kommen mir noch einmal die Gedanken an die gestrige Preisverhandlung. Dieser Mann könnte für einen Job wie diesen, alleine für die folgenden sieben Tage, schon zweihunderttausend Dollar nehmen. Er musste Kyonic-Systems entweder extrem hassen oder von meinem Vorhaben sehr angetan sein, vielleicht auch eine Mischung aus beiden Faktoren. Ich zünde mir erneut eine Zigarette an und puste den Rauch in Richtung des Doktors.
"Nun denn Herr Doktor, dann legen wir los.", entgegne ich etwas spöttisch, während sich mein glatzköpfiger Kumpane daran macht eine weitere Armee weißer Blätter aus der Aktenmappe hervorzuholen. Ich hatte ihn bei meinem ersten Projekt frei raus gefragt, ob die Dokumente seine Absicherung in meinem Todesfall seien. Er bejahte dies ohne mit der Wimper zu zucken und hat so sehr schnell mein Vertrauen gewonnen. Wie gewohnt unterschreibe ich also alles, das er mir vorlegt, während ich meine Zigarette zu Ende rauche. Ich lese die Dokumente nicht einmal mehr durch. Sollte bei unserem Projekt ein ernsthafter Fehlschlag zu verbuchen sein, so wäre es um mich eh geschehen, das wusste ich. Und würde ich überleben und im Nachhinein rausbekommen, dass er mich reinlegen wollte, so würde ich ihn umbringen und dies wusste er. So ist gegenseitiges Vertrauen sozusagen auf natürliche Weise vorhanden und ich bin bereit das anstrengende Verfahren, das mir bevorsteht, noch heute anzutreten.
Auf Anweisung des Doktors folge ich ihm in sein Labor, dessen Einrichtung mein Herz jedes Mal höher schlagen lässt. Die meisten Menschen würden wohl aufgrund der merkwürdigen Instrumente und Gerätschaften eher beklemmende Gefühle verspüren, ich aber fühle mich hier wie Zuhause. Zugegeben, mein 'Arbeitszimmer' sieht diesem professionell eingerichteten Labor nicht gerade unähnlich.
"Wenn Sie soweit sind beginnen wir mit der Narkotisierung. Ich injiziere Ihnen zu diesem Zweck…"
"Machen Sie Doktor.", unterbreche ich ihn und er versteht, dass er seiner Arbeit stillschweigend nachkommen soll. Ich wusste eh, was seine nächsten Worte wären. Er injizierte mir irgendeinen Sedierungscocktail und ließ es sich nicht nehmen zu erwähnen, wie angenehm eine kleine Morphinbeigabe den Sedierungsprozess gestalten würde. Er war eben doch auch ein kleiner Freak in seinem Inneren, der in seiner früheren Zeit sicher einige Selbstversuche mit Drogen durch hatte. Ich kümmerte mich nur beim ersten Mal darum, dass sein Zusatz ernsthafte Beeinträchtigungen für mich zur Folge hätte. Da dies allerdings nicht der Fall war, bin ich seitdem vollkommen entspannt und genieße schon fast das angenehme Gefühl, wenn die Substanzen ihre Wirkung entfalten. Nun sollte ich also sieben Tage in meinem Unterbewusstsein verbringen, während der Doktor ein Abbild meines Bewusstseins zu digitalisieren versuchen wird. Und während ich noch darüber nachdenke, dass der Doktor sonst alles bis ins kleinste Detail plante und mir nun bereits die ersten Tropfen der sedierenden Mittel durch die Adern zu zirkulieren beginnen, obwohl wir das Vorhaben nicht einmal in Gänze besprochen haben. Doch ich weiß aus vergangenen Erzählungen wie intensiv er sich bereits mit dem Vorhaben, ein Bewusstsein auf einen Rechner zu laden, auseinandergesetzt hat. Es schien mir zeitweise, als wolle er sogar unbedingt ausprobieren, ob dies in der Praxis zu realisieren wäre. Es ist als hätte ihm nur eine Testperson gefehlt, die er nun mit mir allerdings gefunden hat.


'Der Patient' - Inhaltsverzeichnis:

#1 - Alea iacta est!

#2 - Hals über Kopf

#3 - Monolog: Vision & Anliegen

#4 - Er ist zurück


@x888 | @b-s

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Gute Stimmung, die da gezeichnet wird. Besonders gefällt mir diese Passage (vor allem das Gleichnis darin):

"'Wissen Sie, ich bin ein Künstler. Ein Künstler mit Leib und Seele.' So wie alle zuvor, verblüfft auch ihn diese Antwort und er schaut einige Zeit als würde er sich fragen, ob mit mir wirklich alles in Ordnung ist oder er nicht doch einem Verrückten gegenübersitzt. Dabei bin ich wirklich davon überzeugt ein Künstler zu sein, ein Künstler, dem der Mensch Leinwand und die Technologie Pinsel ist."

Die Übersetzungen ins Englische, stammen die ebenfalls von dir, @x888? Hab sie noch nicht gelesen, interessiert mich nur.

Viele Grüße von einem Schreibenden zum anderen!

Oh mein Guter, da habe ich deinen Kommentar gar nicht gesehen. Danke auf jeden Fall für dein Feedback. Die Übersetzungen habe ich mit Hilfe des DeepL Übersetzers und anschließender Korrektur auf die Beine gestellt. Würde mich einmal interessieren, was du zu der Qualität des englischen Parts sagst.

Grüße zurück!

Grüß dich @x888, und gern. Also ich hatte mal in den zweiten Part reingelesen und bisher gefiel mir die englische Fassung gut (bis auf die eine oder andere Wortwiederholung, woran das Programm vermutlich nicht unschuldig ist). Die deutsche Fassung wirkt noch etwas polierter, die englische ist aber nahe dran.

Hatte schon von einem anderen Steemit-Blogger von DeepL gehört. Scheint dann ja wirklich nützlich zu sein!

Ein Hinweis: „Normalo“ gibt es so im Englischen nicht. ;) Versuchs mal mit John Doe oder Average Joe.

Frohes Schaffen weiterhin!

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