Damals - Dazwischen - Heute

in #deutsch6 years ago (edited)

Wie Gastarbeiter ein Land verändern - und zwar ihr eigenes


an der Leine.JPG


Gestern:

Ich wohne ruhig und idyllisch gelegen zwischen zwei kleinen Dörfern, zirka 50 Kilometer von Zagreb, der Hauptstadt Kroatiens, entfernt.
1960 lebten und arbeiteten in dem Dorf, das (bildlich betrachtet) zu meinen Füßen liegt, 75 Menschen. Im zweiten Dorf, etwas oberhalb gelegen, waren es gar 115 Einwohner, die sich mit dem über Wasser hielten, was das Land abwarf oder anderswie mit den eigenen Händen erschaffen und verkauft werden konnte. Ein Bäcker, ein Schmied, eine Schneiderin, der nicht ganz Unwichtige, der Lesen und Schreiben konnte, Landbesitzer und Tagelöhner. Im Gegensatz zu anderen “kommunistischen” Ländern, ließ Jugoslawien den Kleinbauern ziemlich freie Hand, was sie mit den erwirtschafteten Produkten nach der Ernte anstellten. Verkaufen, horten für die Großfamilie oder Tauschgeschäfte in die Wege leiten.
Hört sich bis hier her ganz gut an. Nur leider war das vorhandene Land zu 80% in den Händen der “Großbauern”. Natürlich nicht vergleichbar mit dem, was wir uns unter der Bezeichnung vorstellen, aber groß genug, um aus den viele “Kleinbauern” Tagelöhner zu machen. Das System funktionierte reibungslos bis zu dem Tag, als der erste Tagelöhner dem Ruf des Nordens folgte und ab sofort sein Geld in Deutschland, Frankreich oder was weiß ich wo verdiente.


Heckenrose kämpft sich vor.JPG


Dazwischen:

Dem Ersten folgte der Zweite, dann stieg gleich eine ganze Gruppe in den Bus und urplötzlich, quasi über Nacht, kamen den Großbauern ihre Tagelöhner abhanden, Frauen vermissten ihre Männer und Kinder kannten den Papa nur noch vom Foto an der Wand.
Denn nur in den ganz seltensten Fällen kam es vor, dass eine ganze Familie sich auf den Weg machte. Wenn, dann ging es meist nach Kanada, Australien oder die USA. Europa war mehr oder weniger reine Männersache. Die durchaus übliche Argumentation für die Familienspaltung: Was soll die Frau dort oben? Versteht sowieso kein Wort, auf der Baustelle kann sie nicht arbeiten, macht nur Kosten und hat zuhause außerdem 2 Kinder, ein Schwein, eine Kuh, Garten und ein paar Reben. Auf das wenig Hab und Gut muss schließlich auch jemand aufpassen.


Holz vor der Hütte.JPG

Und von nun an ging es stetig bergab!

Zuerst mit der Zahl der Einwohner, dann mit der Harmonie im Dorf und mit der ehelichen Treuepflicht. Der Postbote avancierte plötzlich zum beliebtesten und gleichzeitig meist gehassten Besucher im Dorf. Denn der überbrachte regelmäßig etwas von dem, was in der Ferne erarbeitet wurde. Und der Großbauer ohne Tagelöhner musste tatenlos mit ansehen, wie ein kleines bisschen Wohlstand sich dort breitmachte, wo er nach deren Meinung eigentlich nichts zu suchen hatte.
Es begannen die Glocken des Exodus zu läuten. Denn auch die Frauen und Kinder der Großbauern blieben alleine zurück. Die Felder wurden nicht mehr alle bestellt und im Widerspruch dessen ersetzte man die Arbeitspferde durch Traktoren, mit denen kaum jemand richtig umgehen konnte.


vor die Hunde.JPG

Heute:

Momentaner Stand der Dinge bezüglich der Einwohnerzahlen:

  • Dorf unten: 7 (in Worten - SIEBEN)
  • Dorf oben: 13 (in Worten - DREIZEHN)

Was ist von dem Wohlstand geblieben, der eigentlich mit dem Wegzug der Männer in den Dörfern hätte Einzug halten müssen? Die alten Holzhäuser, meist auf einem Naturstein-Fundament ohne einen einzigen Nagel aufgestellt, verfallen oder wurden gleich ganz abgerissen und durch Backsteinhäuser ersetzt, die ohne Bauplan, aber mit jeder Menge Hang zur Einfallslosigkeit in die Landschaft geklatscht wurden.
Ein nicht unwesentlicher Teil der Männer wurde den Ehefrauen in einem Transport-Sarg aus dem reichen Norden zurück in den Süden überbracht. In den meisten dieser Fälle war letztendlich kaum genügend Geld vorhanden, um die Kosten der deutschen oder französischen Behörden zu begleichen. Andere schafften es lebend zurück, aber als körperliches Wrack. Und dann gibt es noch die, die sogar Gesundheit und Geld mit zurück in die Heimat brachten. Entweder sie waren nach einem Jahr dem Alkohol verfallen, gingen mit ihrem protzigen Verhalten einem gehörig auf den Geist oder sie blieben vollkommen fremd im eigenen Land.
Die Kinder hatten sich längst den größten Teil des Kapitals unter den Nagel gerissen und in der Stadt eine Wohnung im 15. Stockwerk gekauft.
Aber manchmal am Wochenende, dann finden sie wieder den Weg hoch in das Dorf, das einmal ihre Heimat war.


aus Stein.JPG

Sort:  

Eine dramatische Entwicklung mal wieder auf phänomenale Weise beschrieben!
Darf ich hier so öffentlich etwas persönliches fragen? Naja klar, du brauchst ja nicht antworten...
Konntet ihr euer Anwesen zwischen den Dörfern "für'n Appel und 'n Ei", also zum Spottpreis, erwerben?

Würde ich deine Frage jetzt mit "Ja" beantworten, hätte @erniegereenhill bereits seinen "Expansionsdolch" in die Landkarte gerammt, um das Terrain für eine neue Pferderennbahn zu sondieren.
Daher: Alles unverkäuflich und unter dem Schutz einer Organisation, die es noch zu gründen gilt.
Bis später
Wolfram

Ich komme durcheinander, aber gab es da so eine Dorfgemeinschaft in der Nähe, die sich mit Panzerfäusten und Kalaschnikow den Anspruch auf Grasanbau erstritt?

Das mit der Organisation ist eine sehr gute Lösung.
So kann man sich dann ja auch seine Nachbarn aussuchen.

Läuft leider fast überall so, das Land verödet. Wenn es nicht die Emigration ins Ausland ist, ist es die "Emigration" in die größeren Städte.
In Spanien ist es schon soweit, dass junge Familien Häuser auf dem Land geschenkt bekommen oder Unsummen als Zuschuss, wenn sie sich dort niederlassen. Eine Chance für alle, die die Schnauze voll haben :-)

Ich habe es nicht mehr genau auf dem Schirm wann der Höhepunkt erreicht war, aber mit Sicherheit hat sich nicht viel verändert:
Wer in der Grenzregion zur Grande Nation etwas Geld auf der hohen Kante hatte machte sich breit in den ländlichen gebieten. Alte Bauernhäuser waren zum Spottpreis zu haben. Erst kaufte Paule, dem folgte der Kegelbruder Hennes, und weil es sich zu zweit so schlecht kegeln lässt ...
Wahrscheinlich eine Möglichkeit. Aber das Land bleibt unbearbeitet. Die Folge: Verheerende Brände in der Provence, in Asturien oder dem dalmatinischen Hinterland. Wer nicht mähen will, legt einfach Feuer.
Land verschenken - ja! Aber nur an den, der auch mit dem Gut umgehen kann.
Du weißt, was ich sagen will ...
Gruß, Wolfram

Tolle Beschreibung der Realität vor Ort. Immerhin bist Du noch dazu gekommen, in die Runde verwitweter Weiber.

Lange, sehr, sehr lange Geschichte und vor langer Zeit mit Sicherheit nicht das Domizil, das ich blind ausgesucht hätte.
Heute sieht die Sache natürlich ganz anders aus. Aber nicht vergessen:
Aufstehen 4:30, Frühstück 8:30, Mittagessen 12:00, Abendessen 19:00.
Was glaubst du, was sich zwischen diesen Terminen angesiedelt hat?
Das wird nämlich meist vergessen.
Ab und an folgen weitere Berichte.
Gruß, Wolfram
P.s.: Egoistisch, wie ich nun einmal bin, wäre mir lieber, du würdest mich mit wirklich gutem deutschen Rap aus dem Sessel heben. Wenigstens ab und zu.

Der Lokalpatriot hat da was aus der City zum spammen, echt guten Rap? Zum letzten Video hab ich auf jeden Fall sehr direkt Bezug was die Örtlichkeiten angeht.



Sind ja gute BSG Fans und auch sonst bisl grün hinter den Ohren die Jungs, aber unsere Hood ist immer geil.

Anspruchsvoll ist das jetzt aber nicht so. Naja. Kommt bei mir so und so :)

Danke, wird sogleich aufgesogen, wenn ich den Jazz Friday abgewickelt habe.
Bis die Tage
Wolfram

Ist schon traurig sowas.
Ich war vor JAhren mal auf einer Kulturfahrt zu den Wehrkirchen in Siebenbürgen und bei den Moldauklöstern (übrigens, wirklich sehenswerte Bauten allesamt!), da war es ähnlich. Nur mehr alte, die jungen konnte man an einer Hand abzählen. Alles am verfallen, schade. Denn durch den bröckelnden Putz und die eingestürzten Dächer sah man noch das diese Dörfer in der Regel lebenswerte Orte gewesen seien müssen. Wer weiss...

Ist aber bei uns in Österreich nicht anders. Ohne Tourismus wären 90 % der Alpentäler bereits menschenleer. Was wohl nur die Ökoterroristen freuen dürfte (nachdem sie sich über die vollen Städte aufgeregt hätten).
Wer weiss, vielleicht ermöglicht die Digitalisierung ein weiteres Standbein für das Land.
Mal schauen.
Gruß

Genau das ist auch meine Hoffnung. Reicht aber alleine nicht aus. Denn wer kommt, muss auch seine Hände in Arbeitshandschuhe stecken wollen.
Gruß

Deine Offenbarungen werden immer detaillierter, jetzt finde ich dich ganz bestimmt ;) Hab den Text verschlungen. In manch ostdeutscher Provinz sehen die Häuser ähnlich aus und die Verhältnisse sind irgendwie zu vergleichen ;) Aber der Westen halt ja auf in Punkto Verfall und wir haben jetzt schicke Innenstädte und Leipzig ist natürlich Magnet.
Hab mal in einem Rundlingsdorf mit 60 Einwohnern (Schreyahn) gelebt in einem alten Fachwerk für paar Monate und beim einzigen Bauern und in den Ferien gejobbt.

Diese Zeit werde ich nie vergessen. Es gab einmal im Monat das Dorfkehren wo alle ihren Weg bis zur Dorfmitte schick machten und anschließend gemeinsam gegessen haben. Die wenigen Kinder (ich war damals 14) spielten alles zusammen, der jüngste war 8, die älteste 15. Laternenaustreten, das ganze Dorf dunkel bekommen, war eine unserer Lieblingsbeschäftigungen.
Mach es gut.

Man,....du “Sau” hast schon alles gesagt Watt ick schreiben wollt!!!! Mannooooo!!!!!! Dann kann ich ja jetzt nur “dito” schreiben...😂💐🌈🕊🌞😘😘🧘🏻‍♀️💗
Heute is gestern wegen morgen, oder liebster @w74 ...????
Mega schöner Post!

Du schreibst so schön bunt...Erster! :)
Testfrage: Wie hieß der Hütehund auf dem Bauernhof? War ein altdeutscher Schäfer...
Nachname Schweiß..Na gut war zu leicht.

Ihr seit schon ne verrückte crew! Da bin ich noch zu yogisch normal du..;-)
Doch das mag ich an euch!
Hach, ernielein...isch drück da! Gruß an Berdi mausi :-P

Dank dir schön. Jogilein, wir halten immer auf Jamaica

So sind sie halt, die Jungs. Kommen immer schnell zum Punkt, obwohl keiner gerade das keiner von ihnen in gewissen Momenten erwartet.
Dein Lob ist jedenfalls angekommen
Zweideutigkeiten bitte ausschließen ...
LG , Wolfram

Du und Akasha scheinen ja wieder den gleichen Film, aber in verschiedenen Übersetzungen zu genießen.
Unterhaltsam ist es für mich auf jeden Fall.
Hast du vielleicht eine Idee, wie dieser wahnsinnige Trend der Landverödung zu stoppen ist?
Ich hüte zumindest einen Ansatz, aber auch für den interessiert sich niemand.
Gruß, Wolfram

Moin Moin,
Steemitfestival in Kroatien, ob die alte Garde der Barden auch in Echt erscheint?
Sonst eben Techno auflegen und W-Lan. Das reicht.
LG

Servus,

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