Land der großen, weißen Wolke – II

in #deutsch8 years ago (edited)

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Chaos, Tod und Liebe

Man kann es sich nicht vorstellen. Jede Erzählung darüber ist nur ein blasser Schatten von dem, was wirklich passiert ist. Sieben Kinder sind über Jahre von sterbenden Eltern umgeben und umgekehrt. Meine Schwestern Barbara, Nela und der Schwager Pieter starben ganz langsam, hintereinander. Für jeden sichtbar, zogen sich die Monate über Jahre hin. Der Tod war Gewissheit und Gegenwart, die immer im Raum stand, zwischen den Worten hing und sich in flüchtigen, besorgten Blicken austauschte. Wir haben auch viel gelacht, hatten großes Vergnügen. Besonders gerne haben die Dahinscheidenden gelacht. Jeder hat in dieser Zeit getan, was er konnte. Es gab nicht viel, was man hätte tun können, außer dem Notwendigsten. Aber das Leben ging einfach weiter und wenn Elke und ich dort zu Besuch waren, haben wir in erster Linie stundenlang aufgeräumt, geputzt und Geschirr gespült. Kinderzimmer wurden geordnet, die schnell wieder in sich zerfielen. Wir haben Wäsche zusammen gelegt, die sich im Wohnzimmer auf der Riesencouch zu einem kolossalen Haufen gestapelt hat. Der Haufen, aus dem sich jeder gerne bediente, selbst mir vollkommen Fremde. Er wanderte oft bis hinter die Zimmertüre.

Das Flat

Alle Haushaltshilfen die von der Stadt geschickt wurden, haben nach ein paar Tagen, die Härtesten spätestens nach drei Wochen, aufgegeben. Eine nach der anderen. Alle versuchten, die Kinder in die Hausarbeit zu integrieren. Der Kardinalfehler. Es war unmöglich, Ordnung in einen Haufen Halbwüchsiger hinein zu tragen, die erbitterten Krieg um jede zu spülende Gabel führten. Aber wenn es gegen die Haushaltshilfen ging, waren sich alle einig. Kinder und Jugendliche wurden zum eisernen Block, an dem ein Störenfried nur abprallen konnte. Jeder war überfordert mit der Situation. Kinder, Eltern und die Helfer sowieso.

Die Wohnung der Jungs, ihr „Flat“ lag über den Innenhof hinweg, gegenüber. Das Flat war Paradies, Partyzone einer unübersehbar großen Clique sympathischer, junger Menschen aus aller Welt. Zwischen den Wohnungen gab es den innen liegenden, überdachten Hof. Auf der einen Seite war das Tor zur Straße, auf der anderen kam man in den überschaubaren Garten hinaus. Es ging zu, wie im Taubenschlag von Mittag bis lange nach Mitternacht. Immer saß jemand im Flat vor der Playstation, zusammen mit ein paar Zuschauern. Ständig lief Musik. Andi, der Sohn von Barbara saß tagelang auf dem Sofa und hat nichts gesagt und wenig gemacht. Das war normal. er hat geantwortet, wenn er gefragt wurde. Das war aber schon Alles. Kinder spielten zwischen den Wohnungen, im Treppenhaus, Garten und gerne auch auf der Straße, vor dem Haus.

Nela hat in der Eltern– und Mädelswohnung ihre Gäste schließlich im Bett empfangen, als sie langsam schwächer wurde. Ihre Haustüre stand ständig offen. Die ganze Zeit über kam eine Menge Menschen an ihrem Bett vorbei und ihr Baby Maya wurde stetig dicker, genährt von einem einzigen Busen. Ich habe viele Stunden auf Nelas Bett verbracht. Geplaudert, Gitarre gespielt, gesungen und geschlafen. Wir haben dort gegessen und Filme geguckt.

Nuklearer Niederschlag

Die Ärzte hatten dann, gegen Ende, ihr Herz punktiert. Da war ein Loch in ihrem Rücken, über das sie immer wieder Wasser abgezogen haben. Auch Monika, die Mutter von Nora, Nils‘ Partnerin, hat es in dieser Zeit erwischt. Ebenfalls Brustkrebs. Sie war eine süße, fröhliche Frau, die gerne Zeit mit meinen Schwestern verbrachte. Barbara, die ohne ihren Mann mit Sohn und Tochter im gleichen Haus lebte, hat Nela um zwei Jahre überlebt. Wir waren Kinder, die im Winter noch Schnee gegessen haben. Vielleicht war es das. In den Fünfzigern und Sechzigern war vom Atom noch kaum eine kritische Rede, während den Mädels noch Brüste gewachsen sind, waren wir Jungs fast fertig. Atom galt als nützlich und der Schnee hat einfach nur gut geschmeckt. Nora kommt mit ihren zwei Söhnen jetzt im März in Auckland an. Neuseeland liegt in der Südsee. Es ist nicht mehr die Südsee von Erich Kästner, die man auf Rollschuhen über das silberne Band des Äquators erreichen kann. Neuseeland liegt in der Südsee der H-Bomben und Atolle und das Wasser von Fukushima soll nur nach Osten ziehen, heißt es. An die amerikanische Westküste. Aber da bleibt es nicht.

Der Besucher

Uns hat eine besondere Gabe verbunden, Nela und mich. Wir haben Dinge gesehen, die sonst kein anderer Mensch überhaupt bemerkt. Ständig erzählten wir uns Geschichten, vor denen sich Andere höchstens gegruselt hätten. In der Regel hat uns niemand ernst genommen. Wir hatten beide merkwürdige Erlebnisse und eines Tages erzählte sie mir von einem Geisterbesuch. Der Geist selbst war nicht das Ungewöhnliche an der Geschichte. Ungewöhnlich war, wie sie es mir erzählt hat. Zu der Zeit hat sie noch in Hanau gewohnt, zusammen mit ihrem Freund Markus, lange bevor Pieter im dicken, grünen Jaguar in die Stadt rollte. Es war Spätnachmittag und die Sonne ging unter, schien schräg und rot hinein. Der Raum war in unwirkliches Licht getaucht. Sie lag im Halbschlaf auf der Couch. Ein Mann in langem schwarzem Umhang kam über den Garten die Balkontreppe hinauf, in ihr Zimmer hinein. Sie lag wie gelähmt und hat sich nicht getraut, nur einen Mucks zu machen. Er drehte eine bedächtige Runde in ihrem Zimmer, nahm von ihr keine Notiz, aber ein Buch aus dem Regal. Er hat aufmerksam darin gelesen, blätterte Seite um Seite und hat es schließlich wieder zurück gestellt. Er schien sich auszukennen. Während sie mir das erzählte, habe ich es sehen können, als würde es gerade passieren. Ich bin mir auch sicher, dass sie längst nicht mehr in Worten erzählte, sondern es mir einfach gezeigt hat. Er ist wieder hinaus gegangen so, wie er gekommen war. Dabei hat er bedächtig die Tür geschlossen, als wollte er sie nicht wecken. Dann war er fort. Sein schwarzer Umhang verschwand im Grau der aufsteigenden Nacht und ein Gesicht war nicht zu erkennen. Nela und ich wussten schon immer um gewisse Dinge Bescheid. Seit unserer Kindheit haben wir sie wahr genommen und uns darüber ausgetauscht. Die anderen Geschwister hatten davon nicht den Dunst einer Ahnung. Es hätte keinen Sinn gemacht, sich mit ihnen darüber zu unterhalten. So etwas kann man kaum in Worte fassen und selbst wenn, machen Worte darüber kaum Sinn.

Ein uralter Clan

Leonie, Pieter‘s Mutter, lebte in ihrer Ziegenfarm auf der Nordinsel. Die Farm stand wirtschaftlich oft auf der Kippe. Man konnte sie gerade, eben so halten und als Leonie älter wurde, haben Söhne Geld hinein gesteckt. Leonie war einst Gefangene und Sklavin von Japanern gewesen. Deren Gefangenenhaltung war besonders grausam. Daher wohnte ihr eine gewisse Härte inne und auch, weil sie fünf Buben groß ziehen musste, weitgehend ohne Mann. Der war viel auf Reisen und hat Geld geschickt. Bis zu seinem Herzinfarkt. Die Farm war Nelas erste Station, als sie mit Pieter und Nils, dem in Hanau Erstgeborenen, ausgewandert ist. Pieter war Neuseeländer, holländischer Abstammung. Sein Vater, Spross eines uralten, niederländischen Clans. Es sind Seefahrer, Händler, Künstler und Kaufleute. Auch Politiker und andere wichtige, wie viele ganz normale, unwichtige Leute. Menschen, wie du und ich und dazu ein paar durchgeknallte Geisterbeschwörer. Eingeweihte, die Okkultismus praktizieren. Sie haben durch die Jahrhunderte hindurch viel Zauberei in den Kolonien gesammelt, nach Amsterdam getragen und dort ziemlich effektiv kultiviert.

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Wir haben viel gelacht. Gerne und bis zum Schluss.

In der Zwischenwelt

Eine Deutsche in einem alten, holländischen Geschlecht war für viele Neusee– und Niederländer undenkbar. Nela hat sich aber, mit ihrem ausgeprägt natürlichen Charme, durchgekämpft. Das Mädchen war schon als Schwester anstrengend. Sie konnte eine halbe Stunde lang mit dir über Dinge diskutieren, von denen sie nicht den Hauch einer Ahnung hatte. Das hast du nicht mal gemerkt. Nach dem schwindelig Reden konnte sie mit dem Verspeisen ihrer Süßigkeiten warten, bis alle Anderen aufgegessen hatten. Dann hat sie angefangen und gerne, genüsslich kleine Happen abgegeben. Man musste dafür auch schon mal Männchen machen. Nun war sie schwanger und nach ihrem Selbstverständnis Mitglied einer neuseeländischen Familie. Welch gewaltigen Kampf sie führen musste, um in dieser Familie akzeptiert zu werden, davon hat sie mir erzählt und ich habe sogar eine Episode miterlebt, war direkt in ein Geschehen involviert, das als übles Ding beinahe eskaliert wäre. Aber das erzähle ich im nächsten Teil.

Neuseeland ist ein besonders magischer Ort. Nicht nur aufgrund der Maoris, die Magie schon immer zu nutzen wussten. Die Lage der Inseln, Erdstrahlen, Gestirne, Schicksale und was weiß ich. Ich will es gar nicht wissen. Dort wirkt viel Starkes, auf das wir Menschen keinen Einfluss haben. Etwas, von dessen Existenz die Wenigsten überhaupt was ahnen. Nela hat dort viele Dinge erlebt und sogar unsere Mutter, sie war ein paar Mal dort, kaum empfänglich für solche Geschichten, hat auf der Ziegenfarm von Leonie zuverlässig, immer wieder Geister getroffen. Wer das nicht glaubt, soll doch mal selbst dort hin fahren. Wer nur ein bisschen seine Sinne öffnet, kann in Neuseeland seltsam Wunderliches erleben. Sogar in Auckland, im Deli von Devonport. Kurz vor der Torpedo Bay. Dort in der Küche spukt es. Das Cafe hat einst Nela und Pieter gehört.

Photo via Good Free Photos


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