Zufall im System

in #deutsch8 years ago

Es gibt keinen Zufall

Man kann sich der Wirklichkeit auf verschiedene Weise nähern, was zu ganz unterschiedlichen Realitäten führt, scheinbar kongruenten Parallelwelten. In unserer Kultur des Materialismus hat sich der Determinismus als zuverlässige Methode zur Beschreibung der Wirklichkeit bewährt. Dieses Verfahren der Abgrenzung natürlicher Vorgänge und Phänomene, hat zu einigermaßen verlässlichen Naturgesetzen geführt, die eine gewisse Vorhersagbarkeit von Ereignissen ermöglichen. Das Geschehen außerhalb dieser Vorhersehbarkeit, nennen wir Zufall.

Der diensthabende Neurologe, ein kleiner, freundlicher Chinese mit schulterlangen, schwarzen Haaren, grinste mich breit an. Aus seinem fröhlichem Singsang heraus konnte ich erfahren: „Herr Reisbeck, Ihre Frau hat die Bilder besorgt. Wir konnten sehen, dass es sich tatsächlich um die alte Sache handelt. Sie sind gesund und dürfen Heim gehen.“ Warum hören Ärzte ihren Patienten eigentlich nie zu? Genau das hatte ich doch gesagt. „Ich hatte Recht!“, meinte ich erleichtert und fragte: „Jetzt?“ „Ja, ich schreibe nur noch den Arztbrief, dann können sie gehen. Das ist doch schön, oder nicht?“, meinte er bereits im Hinausgehen. Es war keineswegs eine Frage, auf die er eine Antwort erwartet hat.

Mir ist schon die ganze Zeit über klar gewesen, worin sich das Ärztekonzil über meinen Bildern verbissen hatte. Schon als sie während der Visite nach dem CT meinten, da wäre eine Auffälligkeit in meinem Kopf, hatte ich laut und deutlich gefragt, ob die etwa auf der rechten Seite liegt. Dabei habe ich auch noch genau zur Stelle gedeutet. „Etwa hier? Das ist die alte Sache, ein Artefakt. Fünf Millimeter groß, nicht wahr?“ „Ja, aber was es ist, können wir nicht sagen. Wir müssen sicher gehen.” Und schon wurde die nächste Untersuchung, ein sündhaft teures MRT mit Kontrastmittel, angeordnet.

Mein Fingerzeig in Richtung rechter Frontallappen hätte sie eigentlich stutzig machen müssen. Aber ein Arzt traut einzig der eigenen Diagnose und dabei spielt der Zeigefinger eines Patienten kaum eine tragende Rolle. Patientenwissen hat im System zwischen Recht und Medizin keinerlei Relevanz. So haben sie das komplette Diagnose–Programm durchgezogen, worüber ich keineswegs böse war. Andere Menschen müssen für so einen Grundcheck viele Termine planen, einige Wege gehen und bezahlen. Die Auffälligkeit im CT war ein Artefakt meiner Sinusvenen-Thrombose aus den Jahre 2011.

Damals stand mein Leben wirklich auf der Kippe. Ich hatte mit ungeeignetem Werkzeug über dem Kopf in Beton gebohrt und dabei derart heftig zwischen Leiter und Decke gepresst, dass mir die Sinusvene im Kopf geplatzt ist. Es war nur ein kurzer Moment. Stechen, wie von tausend Stecknadeln auf Kopf und Oberkörper zwang mich von der Leiter herab. Dann bin ich kurz am Boden in Embryonalstellung gegangen und gut war‘s wieder. Natürlich hatte ich das am nächsten Tag auch einem Arzt erzählt, aber außer einer Packung Schmerztabletten ist dabei nichts heraus gesprungen. Ich hatte gar keine Schmerzen und konnte sogar noch drei Wochen lang wunderbaren Blödsinn treiben, bis dann plötzlich die typischen Anzeichen einer halbseitigen Lähmung auftraten. An einem sonnigen Morgen, ganz alleine im Schrebergarten, ging es los. Alles wurde seltsam. Die Welt hatte nichts mehr mit mir zu tun und ich nichts mehr mit ihr. Trotzdem wusste ich noch instinktiv, wo ich jetzt schleunigst hin gehörte. Doch als ich im Auto saß, konnte ich mit dem Schlüssel nichts mehr Vernünftiges anfangen, hatte keine Ahnung, wo der jetzt hin gehörte. Zudem wurde ich immer träger und unwilliger überhaupt noch irgend etwas zu veranstalten.

Glücklicherweise kam ich noch auf die Idee, dass eine Garten–Nachbarin dort wohnte und sie war sogar zuhause. Dass sie auch ein Auto besaß, habe ich gar nicht gewusst. Es ist beruhigend, dass man zwar keine Ahnung mehr haben kann, was mit den ganz alltäglichen Dingen anzufangen ist, aber trotzdem noch Ideen entwickelt und sich aufraffen kann, sie zu verfolgen. Die Nachbarin hat den Ernst der Lage sofort begriffen. Kurz schwankend zwischen Telefon und Ratlosigkeit schnappte sie sich ihren Autoschlüssel. Unterwegs hat sie sich mehrfach für ihre unsichere Fahrweise entschuldigt. Dank ihr, bin ich rechtzeitig ins Krankenhaus gekommen.

Alleine der Umstand, dass sie anwesend war, hatte mich vor Schlimmerem bewahrt. Aber, als wäre all das an glücklichen und unglücklichen Zufällen immer noch nicht genug gewesen, kam just beim Aussteigen aus dem Auto meine Frau mit einem Rollstuhl über den Vorplatz des Krankenhauses geschlendert. Sie hatte Dienst und befand sich auf dem Weg in eine andere Abteilung des Hauses. Deshalb war ich ja überhaupt alleine im Garten. Ich hatte sie zuvor noch zur Arbeit gefahren. Sie hat mich in Empfang genommen und keine zehn Minuten nach Aufnahme in der Stroke–Unit, krampfte ich mich dann auch schon ins Koma hinein, in dem ein vollständiger Reset des zentralen Nervensystems gefahren wurde. Danach war wieder alles in Butter und die Reha in Bad Orb gestaltete sich, wie ein dreiwöchiger Urlaub.

Nach Reha, Abschluss-CT und Beratung bei einem externen Neurologen wusste ich genau, da ist noch ein Artefakt im Hirn das vielleicht absorbiert wird, vielleicht aber auch nicht. Es hat all die Jahre weder mich noch meinen Körper gestört, sonst hätte er es ganz sicher aufgelöst und abgetragen. Wir können damit leben. Aber wie kann ein Gesundheitssystem überleben, das solcherart elementare Medienbrüche nicht nur zulässt, sondern auch noch selbst befördert? Ohne den sofortigen Einsatz meiner Frau, die meine alten CT–Bilder besorgte, hätten sie mir heute vielleicht schon ein Loch in den Kopf gebohrt. Nur, um sicher zu gehen. Bilder in einer nicht einmal 500 Meter vom Krankenhaus entfernten Diagnosepraxis anzufordern, gehört offenbar nicht zum üblichen Workflow. Ohne Zufälle wäre unsere Gesellschaft längst gescheitert. Mein glücklichster Zufall ist meine Frau. Manchmal habe ich das Gefühl, dass sie in Wirklichkeit eine militärische Kommandoeinheit aus zehn bis an die Zähne bewaffneten Krankenschwestern ist.

Foto von Wikipedia


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