Land der großen, weißen Wolke – I

in #deutsch8 years ago (edited)

Auckland, New Zealand

1999 kam meine jüngere Schwester Cornelia aus Auckland zurück, wo sie fast zwanzig Jahre lang im Stadtteil Devonport gelebt hatte. Sie hat in Neuseeland sechs Kindern das Leben geschenkt, die bis zu diesem Zeitpunkt ihren Onkel noch nie gesehen hatten. Vier Jungs, damals etwa im Alter von 11 bis 16 Jahren und zwei Mädchen, die noch unter Zehn waren. Die damals Jüngste ist nicht auf dem Foto, weil sie noch ein Baby war. Auch Pieter kam mit, der Mann meiner Schwester. Eines Tages standen sie alle auf Rhein–Main. Wir sind mit drei Autos hin gefahren, um sie abzuholen. Bei Cornelia wurde kurz zuvor Brustkrebs diagnostiziert an dem sie dann schließlich auch, ein paar Jahre später, gestorben ist. Nicht lange danach starb auch Pieter, der zwar ein Baum von einem Mann war, aber von Geburt an einen Herzfehler hatte.

la-familia-kinderfe3c8.jpg

Foto aller Kinder von 1999. Nur zwei der damals Jüngsten fehlen.

Die Heimkehrerin und ihr neuseeländischer Anhang sind damals, nach ihrer Einreise, zunächst in der Familie meiner älteren Schwester Barbara unter gekommen, die mittlerweile leider auch, ebenfalls an Brustkrebs gestorben ist und damals in Brühl bei Mannheim lebte. Man kann darüber spekulieren, warum beide Schwestern Brustkrebs bekommen haben, die fast zwanzigtausend Kilometer voneinander entfernt ganz verschiedene Leben lebten. Es gibt als mögliche Ursache viele Theorien, die bis in den psychosozialen Bereich hinein reichen. In der Richtung gibt es in meiner Familie bedauerliche Ansatzpunkte. Zu diesem Zeitpunkt wird das aber sicher nicht Gegenstand einer literarischen Aufarbeitung werden.

Cornelia, genannt Nela, hat nach ihrer Rückkehr und trotz einer mittlerweile amputierten Brust noch ein siebtes Kind, ein Mädchen zur Welt gebracht, das sie mit dem ihr noch verbliebenen Busen genährt hat. Sie hatte ein großes Herz und war eine starke Kämpferin. Meine Schwester Barbara, Mutter von zwei Kindern, war eine begnadete Künstlerin. Sie lernte Schneiderin, weil sie Kostümbildnerin werden wollte. Da aber nicht jede talentierte Schneiderin zur Bühne gehen kann und weil sie schließlich ihre Meisterprüfung abgelegt hatte, wurde Sie Handarbeitslehrerin in einer Mannheimer Waldorfschule. Dort sind ihre eigenen und dann all die Kinder aus Neuseeland untergekommen.

Man hört ja viele Gerüchte über die Waldorf–Gemeinden und ich kann aus eigener Erfahrung auch einige davon bestätigen. Ja, sie tanzen auch ihren Namen, aber eins muss ich mit aller Deutlichkeit sagen: Diese Waldorf–Gemeinde in Mannheim war ein Segen für alle Kinder meiner beiden Schwestern. Trotz einer unglaublichen Todesserie unter ihren Eltern sind meine Nichten und Neffen alle liebenswerte Menschen geworden, weil sie von dieser Waldorf–Gemeinde mit offenen Armen aufgenommen und immer, ganz besonders in den schlimmen Zeiten, von ihr gestützt wurden. Der zweite Sohn von Cornelia, Jens, ist nun sogar Lehrer in dieser Schule geworden, nachdem er seine Schreinerprüfung abgelegt hatte. Die beiden älteren Mädels absolvieren dort gerade eine Ausbildung zur Kindergärtnerin.

Warum ich das erzähle? Heute ist Nils, der älteste Sohn von Cornelia mit seiner Tochter, die mittlerweile auch schon 15 Jahre alt ist, zurück nach Auckland geflogen. Dort will er, zusammen mit seinem Schwager eine Basis für die ganze Familie aufbauen. Ein Heim für alle Mitglieder der Familie, die in Zukunft in ihre Heimat zurückkehren wollen. Der Rest von Nils‘ Familie, seine Lebensgefährtin und zwei Söhne, werden im März folgen. Der zu solchem Anlass übliche 30–Fuß–Container ist auch schon seit drei Tagen unterwegs und wird in etwa acht Wochen in Auckland eintreffen.

Nils konnte sich nie mit dem stark reglementierten Leben in Deutschland abfinden und hat seine Heimat, wie auch all die anderen dort geborenen Kinder, immer vermisst. Er ist ein Riese. Ich bin mit 1,87m nicht klein, musste in den letzten Jahren aber immer höher zu ihm aufblicken. Er war stets von einer besonderen Schwermut befallen und hat nichts, aber auch gar nichts mit all den Möglichkeiten hier anfangen können. Deutschland war ihm zu eng, zu reglementiert, zu piefig. Nun ist er voller Hoffnung und für immer weg gegangen. So, wie einst meine Schwester. Mit ihm gegangen ist die Familie meiner Nichte Nina. Es ist die Tochter von Barbara, die ebenfalls mit einem Neuseeländer verheiratet ist. Sie kam vor ca. zwei Jahren mit Ihrem Mann aus Auckland, um dem deutschen Familienteil für eine Weile näher zu sein. Sie hat das Talent meiner Schwester geerbt und zeichnet sehr gut. Auf der Geige fiddelt sie losgelassen, wie eine Zigeunerin. Mittlerweile hat sie auch schon vier Kinder. Jetzt sind sie alle wieder weg.

Was für die einen ein Aufbruch ist, eine erregende Tür in eine spannende Zukunft, ist für die Zurückgebliebenen ein ausgesprochen trauriges Ereignis. Für mich war es eine Art vorgezogenes Ende. Ich habe geweint. Ganz heimlich. Gestern, als ich das hier geschrieben habe. Nils ist der Neffe, der mir Steemit gezeigt hat. Das Ebenbild seines Vaters, den ich sehr geliebt habe. Ich soll eines Tages auch dort bei ihnen leben, meinte er noch. Gucken Sie mal im Atlas, wo das liegt! Für einen alten Europäer unvorstellbar weit abgelegen. Kurz vor der Antarktis! Ich käme nicht einmal auf die Idee, dort einen Urlaub zu verbringen. Die Behauptung, die Welt würde immer kleiner stimmt nicht für einen, der das Fliegen hasst.

Thank‘s to pixabay for the Auckland picture.


Hier gibt es ein Hilfe–Menu für Anfänger Hilfe! Wie mache ich meine Texte schön?


Meine letzten Beiträge:
Wer aufgibt, bestätigt sein Ergebnis
Zufall im System
Der Zusammenbruch
Zombies paralized by a heavy mental disease

Sort:  

"Ich käme nicht einmal auf die Idee, dort einen Urlaub zu verbringen. Die Behauptung, die Welt würde immer kleiner stimmt nicht für einen, der das Fliegen hasst." *** Spring mal über deinen Schatten, es wird sich sicher lohnen. Ich hoffe, Nils ist dort wieder glücklicher. Ich kann gut nachempfinden, dass er sich hier eingeengt fühlt.

Wer neben einem hübschen Mädchen so ein Partie spielt sollte eigentlich wissen, was ein Blues ist.

Ein toller Beitrag! Ein sicher kein leichtes Unterfangen, einen so persönlichen Einblick in das eigene Familienumfeld zu geben. Für mich liest sich dieser Post wie der Romanauftakt in eine gross angelegte Familiensaga.
Grüsse,
Shaka

Vielen Dank, Shaka. Es ist immer wieder schön wenn ein Autor feststellen kann, dass es auch jemand gelesen hat, was man schrieb. Ich hoffe es wird keine Saga. Tatsächlich gibt es viel Stoff. Woran merkt man eigentlich, dass ich nicht längst fabuliere?

Macht es einen Unterschied, ob man noch berichtet oder schon fabuliert? Es kommt doch auch dem selben Kopf.
@afrog, Du hast ja viel geschrieben, während ich auf dem Rücken lag ... und so schön geschrieben. Danke

Danke @dirkzett. Ich freue mich so, dass Du wieder dabei bist. Glaubst Du gar nicht. Ohne dich hat was gefehlt. Ich möchte ja fast behaupen, dass Du und ich zu den „Literaten“der deutschen Gilde zählen. Wenn wir uns nur weiter fleißig auf den Hosenboden setzen, schaffen wir noch viele schöne Geschichten. Dein Bericht vom Rückenliegen war auch wieder mit Allem gespickt, was man gerne lesen möchte und ich habe Dich gar schon zahnlos gesehen. Du verstehst es auch meisterlich, Grusel zu erzeugen, aber im Gegensatz zu mir nimmst Du einfach Zutaten aus dem ganz alltäglichen Leben, die von ganz alleine skurril werden. Da musst Du noch nicht einmal Geister beschwören, Mann. Also weiter, Alter! Lassen wir die deutsche Gilde nicht hängen. Texte liefern! Ohne das Thema Steemit, nur einen am Tag, keine Religion oder Politik… Mann, ich kann die 10 Gebote immer noch nicht auswendig.

Coin Marketplace

STEEM 0.20
TRX 0.13
JST 0.030
BTC 66666.50
ETH 3503.76
USDT 1.00
SBD 2.71