Neuer Ort, Teil 4

in #schreiben7 years ago

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Nachdem er fertigerzählt hat, sitze ich eine zeitlang da wie gelähmt. Es ist dunkel geworden, aber weder Mond noch Sterne sind zu sehen, der Zaun hinter uns nur schwach zu erahnen. Der alte Mann schläft, erschöpft von seiner Geschichte. Seine Geschichte – er ist verrückt, soviel steht fest. Ich stehe auf und gehe auf und ab, um besser nachdenken zu können. Was er behauptet hatte, spottet jeder Beschreibung. Er sei vor undenklichen Zeiten hier aufgetaucht, so wie die meisten der anderen Menschen. Er sei jung gewesen damals, so alt wie ich. Das muss vor über 60 Jahren gewesen sein, so alt wie er aussieht, denke ich fassungslos. Er hätte ziemlich bald herausgefunden, dass er anders war als alle anderen, da er nicht katatonisch und antriebslos war. Wievielen so wie uns beiden ist er denn begegnet im Laufe der Zeit, hatte ich gefragt. „Keinem!“ war die Antwort gewesen. Er hatte die Versuche, die anderen aus ihrer Lethargie zu befreien irgendwann aufgegeben und hatte begonnen, die Gegend zu erkunden. Es gab nur wenig Nützliches. Alles was hier zu finden war, hatten Ankommende mitgebracht, meist Belangloses, nie etwas, das eine Erklärung für ihr Dasein an diesem Ort geboten hätte. Einige Kompasse waren dabei, doch sie funktionierten nie. Sogar einen Sextanten hatte einer dabei gehabt. Da man hier jedoch nie die Sonne oder Sterne zu Gesicht bekam, war er wertlos. Nahrung entstand spontan in Form der Würfel, die er bereits kennengelernt hatte. Sofern man lange genug an ein und demselben Ort blieb (Schlaf zählte nicht), erschienen die Würfel einfach aus dem Nichts. Er konnte daher nie lange Wegstrecken in einem Stück zurücklegen, da er sonst verhungert wäre. Alle paar Stunden musste er mindestens eine Stunde pausieren, um auf Würfel zu warten. Wenn er versuchte, ein paar aufzusparen für eine längere Reise, erschienen sie nicht mehr. Dennoch hatte er sich im Laufe der Zeit selbst "Wanderer" genannt - er hatte mittlerweile vergessen, wie er in seinem früheren Leben geheißen hatte.

So vergingen die Jahre und Jahrzehnte mit Wandern, Rasten, Schlafen, Essen und ab und zu dem Untersuchen der Mitbringsel von den wenigen Neuangekommenen (meist fanden sich Uhren, Geld, Schlüssel, Schreibutensilien und dergleichen, selten Bücher). Von gefundenen Lebensmitteln wurde ihm mittlerweile schlecht, er vertrug sie nicht mehr. Durch die erzwungenen Pausen und fehlenden Gesprächspartner hatte er viel Zeit zum Lesen gehabt, das Einzige, was ihn geistig wach hielt. Er hatte etliche Romane, Sprachführer und Wörterbücher auswendig gelernt. Alles was ihm brauchbar erschien und wert, aufgehoben zu werden, hatte er in seinem Rucksack dabei – vor allem Bücher. „Eine Bibliothek der Menschheit“ hatte er scherzhaft gemeint. Doch er hatte nicht lustig geklungen, es war ihm bitterernst. Und er hatte eine Landkarte gezeichnet und sie mir auch gezeigt. Sie war niederschmetternd. Über hunderte, wenn nicht tausende Kilometer war nichts darauf, außer dass ab und zu Kreise eingezeichnet waren, die für Menschenlager, und einige wenige Vierecke, die für eingezäunte Bereiche standen. „Soll das heißen, dass nicht wir eingesperrt sind, sondern die Menschen hinter den Zäunen?“ hatte ich ihn gefragt. Er hatte mich lange angesehen und nur gemeint „Menschen?“. Er sei tagelang an den Zäunen auf und ab gegangen, hatte manchmal Seltsames gehört, manchmal fremdartige Dinge und Schemen gesehen, die er nicht hatte zuordnen können, aber nie einen echten Menschen.
Das Unerklärlichste für mich, falls das stimmte, war seine Feststellung, dass Leute aus den verschiedensten Gegenden und auch Zeiten hier ankamen. Manche aus seiner Gegenwart, andere aber aus dem 18. Jahrhundert und manche sogar aus dem Mittelalter. An dieser Stelle hatte ich ihn unterbrochen und auf die Unmöglichkeit dessen hingewiesen, was er behauptet hatte. Er hatte nur wortlos seinen Rucksack geöffnet und Bücher, Schriftrollen, Taschenuhren und andere Gegenstände hervorgeholt, die in der Tat hunderte Jahre alt sein mussten, aber wie neu aussahen. „Und manche kommen aus meiner Zukunft“ hatte er gesagt und mich angeblickt. „Als ich hier ankam, gab es keine Uhren mit wechselnden Ziffern und flache Vierecke mit Bildschirmen darin.“ Er hatte mir ein Smartphone aus dem Rucksack geholt. Er verwendete es bloß als Spiegel. Ich hatte ihm erklärt, dass es ein Telefon sei, was er jedoch vehement bestritten hatte und ihn an meinem Verstand hatte zweifeln lassen. Der Akku war natürlich leer.
Schliesslich hatte ich gefragt „Und was jetzt?“ obwohl ich mich vor einer Antwort gefürchtet hatte. Der Greis, schon erschöpft von der langen Unterhaltung, hatte lange ins Leere gestarrt. Schließlich hatte er sich geräuspert und mit fester Stimmte erklärt „Du wirst meinen Weg fortsetzen. Du bist jung, ich bin schon zu alt. Du musst das Rätsel lösen. Du musst das Erbe der Menschheit weitertragen. Du musst der neue Wanderer sein.“

Dies ist Teil 4 eines Fotsetzungsromans, bisherige Teile:
Teil 1
Teil 2
Teil 3

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