Inspiration: Der 365. Tag vom Rest meines Lebens

in #life6 years ago

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Impression von meinem Road Trip in die Zukunft: Ein Pferd an der Grenze. Foto: @theodora.austria

365 Tage Freiheit

Inspiration aber keine 1000 Gesichter? Was ist denn hier los? Nun, meine Lieben, das ist ganz einfach: Heute erzähle ich euch einmal eine persönliche Geschichte. Weil ich denke, dass meine Geschichte vielleicht zum Teil auch die Geschichte vom einen oder anderen von euch sein könnte. Weil ich denke, dass ich vielleicht dem einen oder der anderen von euch damit Mut machen kann. Und weil ich einfach meine Freude, die ich seit 365 Tagen verspüre, gerne mit anderen teile. Das ist ein Teil meiner Geschichte - und keine Sorge: Es kommen auch wieder andere Gesichter. Schließlich fehlen noch 993!

Es ist etwa zehn Uhr als ich meine Familie und meine zweite Heimatstadt verlasse. Eine neunstündige Autofahrt liegt vor mir - eineinhalb wunderbare Wochen hinter mir. Ich wusste schon gar nicht mehr, wie es ist, wenn man einfach nur lebt. Ohne ständig erreichbar sein zu müssen. Ohne ständig Stress zu haben. Ohne an das unglaublich knappe Budget zu denken, das mir trotz mehr als 50 Wochenstunden Arbeit zu Verfügung stand. Eigentlich hätte ich mir die Reise ja gar nicht geleistet, aber ich konnte doch nicht nicht bei der Hochzeit einer meiner besten Freundinnen auftauchen. Da wären doch die vielen Termine gewesen, ein Projekt, das noch zu machen wäre. Ich bin trotzdem gefahren. Nie hätte ich es mir verzeihen können, nicht da gewesen zu sein. Nur zu gut konnte ich mich daran erinnern, als sie mir das erste Mal von ihm erzählt hatte - meine Freundin war glücklich und ich freute mich, dieses Glück einen Tag lang mit ihr teilen zu können.

Unruhe vor dem Sturm

Vor meiner Reise hatte ich mir noch mit einer großen Tageszeitung ausgehandelt, dass ich einen Reiseartikel über meine zweite Heimatstadt schreiben würde. Endlich wieder schreiben über etwas, das mir wirklich am Herzen lag! Ja, es war irgendwie auch ein Arbeitsurlaub, aber diese Arbeit machte mir gar nichts aus. Im Gegenteil: Ich freute mich schon darauf, die einzigartige Atmosphäre meiner Stadt endlich in Worte zu fassen.

Als ich angekommen war, folgte jedoch die Ernüchterung der ersten Nacht: Ich konnte kaum schlafen. In meinem Kopf spukten meine drei Jobs, das Studium, andere Dinge, für die ich mich verantwortlich fühlte. Ich wälzte mich unruhig im Bett der ruhigen Wohnung mitten im Stadtzentrum, die ich für die paar Tage gemietet hatte - so ging es mir mehrere Nächte, bis ich mich endlich daran gewöhnt hatte, dass ich die nächsten Tage keine Verpflichtungen hatte. Ich spürte: Es ist Zeit, etwas in meinem Leben grundlegend zu verändern. Ich verlängerte meinen Urlaub spontan. Es war Zeit, nachzudenken, um keine Kurzschlussreaktion zu setzen, die ich danach bereuen würde - auch wenn ich schon im Gefühl hatte, was zu tun war.

Tu was dir Spaß macht und du wirst keinen Tag mehr arbeiten - oder so ähnlich

Meine Freundin war ohnehin beschäftigt und ich konnte ihr nicht wirklich helfen. So verbrachte ich meine Zeit damit, spazieren zu gehen, zu fotografieren, mit meiner Familie und meinen anderen Freunden zu reden, für besagten Artikel zu recherchieren und ihn zu schreiben. Die Worte flossen nur so aus meinen Fingern. Langsam erkannte ich, dass ich auf dem richtigen Weg war. Schreiben war tatsächlich etwas, das ich immer schon tun wollte - oder eigentlich etwas, das ich immer schon tat und womit ich mittlerweile auch einen Teil meines Geldes verdiente.

Je länger ich mich mit dem Artikel beschäftigte und auch meine eigenen Gedanken und Erlebnisse zu Papier brachte, desto mehr dachte ich darüber nach, ob ich mein Leben lang in der Forschung so viel verdienen wollte wie andere an der Supermarktkasse. War es das wirklich schon für das Multitalent, das mehrere Sprachen beherrschte? Das Benefiz-Events aus dem Boden stampfte während es drei total unterschiedliche Jobs in drei total unterschiedlichen Branchen und ein Doppelstudium gekonnt jonglierte?

War es das schon? Ich dachte nach. Meine erste Gehaltserhöhung hatte ich nach sechs Jahren bekommen. Davor gab es einfach keine Möglichkeit. Aber da waren noch die Kollegen, die ich wirklich mochte. Mit einigen von ihnen hatte ich mich angefreundet und mit den meisten verstand ich mich ausgezeichnet. Mit einem konnte ich über wirklich alles reden, eine Kollegin mochte ich für ihr ausgeprägtes Gespür für andere, eine weitere für ihre lustige und lockere Art. Ich konnte mir auch meine Zeit relativ gut einteilen. Und es war auch eigentlich gar nicht so weit von zu Hause entfernt. Praktisch war es obendrein. Und eine meiner engsten Freundinnen arbeitete auch hier. Es gab vieles, das mich in dem Job hielt - oder doch nicht?

Im Kopf hatte ich immer die Stimme meines Freundes. Er sagte immer: "Be successful." War ich das? Was würde er mir wohl raten? Ich konnte ihn nicht mehr fragen - er war ein Jahr zuvor bei einem Unfall ums Leben gekommen. Was ist Erfolg überhaupt? Im Kopf ratterte es. Aber es war nicht mehr das unangenehme Rattern, das mich nicht schlafen ließ, sondern eher ein produktives Rattern, das versprach, mich auf den richtigen Weg bringen zu können, wenn ich es richtig deuten würde.

Road Trip ins Ungewisse

Am endgültig letzten Urlaubstag, dem 31. Juli, fuhr ich früh los. Ich wusste, dass es sich an der Grenze immer wie wahnsinnig staute. Und so war es auch: Ich saß stundenlang - fast den ganzen Tag - in der brütenden Hitze in meinem Auto, Keine Aussicht auf Schatten, mehr Wasser oder sonst irgendetwas. Wieder hatte ich Zeit, nachzudenken. Und es dämmerte mir, dass der Monatsletzte war. Der Tag bis zu dem ich Nägel mit Köpfen machen konnte. Ich nahm ein Notizbuch, begann zu schreiben. "Liebe Vroni*!" Ich grübelte. Ich schrieb einige Versionen, verwarf sie, überarbeitete sie, dachte nach. Noch nie war das Anstehen an der Grenze so hilfreich, noch nie war ich so dankbar, dass ich noch diesen letzten Anstoß bekommen hatte.

Stunden später war ich - dustig, rot glühend vom Sonnenbrand und ziemlich sauer, weil mir der Zollbeamte mein Essen abgeknöpft hatte (sowas kannte ich nur von den Schulhöfen amerikanischer Serien) - zurück in der EU. Roaming! Ich rief zu Hause an: "Papa, ich kündige!" Dem Ton nach entnahm ich, dass er damit wohl schon irgendwie gerechnet hatte. Seine Unterstützung war mir jedenfalls sicher - ich war unendlich erleichtert. Das Kündigungsmail würde ich dann zu Hause aufsetzen und alles wird gut. Material hatte ich ja genug zusammenschreiben können während man mich an der Grenze gut sechs Stunden in der prallen Sonne warten ließ. Oder würde ich zu spät ankommen?

Um kurz vor Mitternacht hatte ich gerade einmal so die österreichische Grenze passiert. Nie im Leben in ich vor Mitternacht zu Hause. Ich fuhr von der Autobahn ab, parkte im Nirgendwo und fing an zu schreiben. Um 23:58 war das Mail abgeschickt - und ich fühlte mich plötzlich, als hätte man mir einen Berg von den Schultern genommen. Ich fühlte mich frei.

Wie ging es weiter?

Ich hatte natürlich überlegt, was ich danach machen würde. Die Entscheidung reifte wohl schon seit Jahren heran und der Urlaub war nur endlich der richtige Moment, um genug Mut zu sammeln. Der Sprung ins kalte Wasser war auch wenn ich diese 365 Tage zurückblicke richtig und wichtig: Ich hatte zuvor Leute belächelt, die etwas von Burnout sagten - eigentlich war ich aber auch schon mittendrin. Ich wollte und konnte nicht mehr aufstehen. Mein Körper hatte rebelliert mit allerhand psychosomatischen Reaktionen. Ich habe ihm nicht zugehört und weitergemacht, weil ich das Gefühl hatte, dass ich musste. Plötzlich war das alles weg - und ich hatte es geschafft, mich selbst rauszuziehen. Ich war unendlich stolz auf mich.

Was ist danach passiert?

  1. Ich habe letztlich auch den zweiten Job gekündigt, von dem ich noch viel weniger leben konnte als vom ersten.
  2. Ich habe mich selbstständig gemacht.
  3. Ich habe die letzten Semester immer deutlich mehr als das empfohlene Pensum geschafft.
  4. Ich bin in ein Haus gezogen, in dem meine Patensöhne, meine Haustiere und ich viel glücklicher sind als dort wo wir vorher gelebt haben.
  5. Ich habe von den besten aus meiner neuen Branche gelernt - und sie haben mich ermutigt, weiterzumachen. (Danke - you know who you are!)
  6. Ich schreibe gerade an meiner vierten Bakkalaureatsarbeit.

Bin ich reich geworden?
Finanziell ist es natürlich immer noch ein Auf und Ab. Ich bin jetzt erst seit 3 Monaten so richtig im Geschäft. Aber ich komme durch und ich sehe, dass es eine Aufwärtstendenz gibt. Wir werden sehen, was Tag 730 so bringt - am 31. Juli 2019! Und eines muss ich am Rande dazusagen: Ich wollte vieles werden, aber reich war nie auf der Wunschliste.

Habe ich den Schritt bereut?
Keine einzelne Sekunde.

Würde ich es wieder tun?
Ohne mit der Wimper zu zucken.

Würde ich es anderen empfehlen?
Ich empfehle jedem, sein Leben zu überdenken. In meiner Situation war es einfach, da ich keine kleinen Kinder zu Hause habe und meine Familie mir Rückhalt bietet. Mir ist bewusst, dass das ein unglaublicher Luxus ist und ich bin dafür sehr dankbar. Dennoch: Ich denke, dass man sein eigenes Leben zu einem größeren Grad in der Hand hat, als man es oft glaubt. Wenn man selbst nicht weiß, wie es weitergehen soll, dann hilft es, sich Hilfe bei professionellen Zuhörern zu holen. Psychologen und Therapeuten können in Sinnkrisen hilfreich sein. Und sich Hilfe zu holen ist keine Schande. Wir gehen ja auch zum Arzt, wenn wir Schmerzen haben und zum Mechaniker, wenn das Auto streikt!

In diesem Sinne: Ich wünsche euch viel Inspiration, Menschen, die euch unterstützen - durchaus auch mit konstruktiver Kritik - anstatt euch runterzumachen und den Mut, euer Leben anzupacken. Angeblich hat man ja nur eines.

Alles Liebe und, zur Feier des Tages, Prost!
@theodora.austria

P.S.: Lesson learned: Mit den Kollegen bin ich immer noch in Kontakt und von Zeit zu Zeit kann man auch gemeinsam Bier trinken, auf WhatsApp oder Facebook schreiben oder mal ein Room Escape Spiel gemeinsam bestreiten.


*Name meiner ehemaligen Vorgesetzten geändert

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Klasse - ja schreiben liegt dir!!! Schön zu lesen. Gratuliere dir zu deinem Entschluss. Gerade dein Beispiel - mit der "Luxussituation" zeigt, wie schwer es ist sein Leben zu ändern. Bei mir ging es erst los als mein Mann plötzlich starb... Andere werden krank... Mögest du viele Menschen mit deiner "Botschaft " erreichen!

Danke @kadna! Und mein herzliches Beileid. :-(
Ich habe tatsächlich auch intensiver zu denken begonnen, als sich binnen ca. 3 Jahren 5 Onkel und eine Tante aus dem Leben verabschiedet hatten... (Nur einer davon war mehr oder weniger "alt".)

Ohne Luxussituation ist es natürlich noch viel schwieriger. Vielleicht hat man dann das Glück, dass man Erspartes vom letzten Job hat, Freunde, die einem auf die Kinder aufpassen können von Zeit zu Zeit,... Ich habe gelernt, nicht zu stolz zu sein, um auch mal um Hilfe zu bitten. Man ist ja im Gegenzug auch für andere da :)

Danke dir - es ist jetzt bereits 14 Jahre her und mir geht es sehr gut. Im Rückblick sieht alles immer ganz anders aus. ;-)

Das stimmt allerdings! Freut mich, dass es dir so gut geht. So soll es sein!

Hey,
ich hab deine Geschichte regelrecht verschlungen, super persönlich geschrieben, ich war total mitgerissen. Denke auch, dass es heute vielen so geht wie dir, nur die wenigsten trauen sich, aus dem Hamsterrad auszubrechen..
Also: Meinen Respekt, dass du diesen Schritt gewagt hast, ich hoffe du hälst uns auf dem Laufenden und wünsche dir dabei ganz viel Erfolg :) !

Hallo @yaraha!

Danke schön - das ist echt lieb von dir!

Ich denke auch, dass es vielen so geht. Direkt nach meiner Kündigung haben sich auch gleich noch zwei Kollegen angeschlossen. (Davon der eine mit dem ich so gut reden konnte.) Wenn mein Text nur einem beim Nachdenken hilft, dann ist das gut genug :-)

Und ja, ich halte euch / dich gerne auf dem Laufenden. Momentan ist es halt so wie es ist: Bakkalaureat abschließen, viel dazulernen, in meiner Firma rumwerken, fleißig bloggen und raus in die Welt - kurz: das Leben genießen und bloß nie wieder zurück ins Hamsterrad. Schon gar nicht jetzt, wo man hier die Leute in den 12-Stunden-Tag drängt.

Ich wuensche dir viel Erfolg. 👍

Danke schön! :-) Dir auch!

Servus,

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