Wochenimpuls 3-41/17 - Ich trage einen Virus in mir und ich weiß noch nichts davon…

in #deutsch7 years ago

Es war nicht immer so mit mir, doch irgendwann habe ich mich angesteckt. Die Sorgeritis hat mich erwischt, da war ich gerade mal 18 Jahre jung.  

Warum? Naja mein Immunsystem wurde damals einfach geschwächt. Ein niedriges Selbstwertgefühl, unglücklich verliebt, gestörtes Familienleben und Gefühle von Einsamkeit und dem „nicht gesehen werden“ trieben immer mehr Zukunftsängste und Sorgen auf. Die Sorgeritis hatte Ihren perfekten Nährboden in mir gefunden. 

Das hielt an, bis ich 21 Jahre alt war. Ab da wurde die Sorgeritis vorerst immer schwächen, denn die Lebensumstände haben sich etwas gebessert, sodass die Sorgeritis sich auf ein paar vereinzelne Symptome zurückbildete. Doch leider gewann sie wieder die Oberhand in mir, mit 25 Jahren erlitt ich einen krassen Rückfall. 

Aber Moment mal… was ist die Sorgeritis überhaupt?  

Eine gemeine Erkrankung, die hochgradig ansteckend und schwer auszuheilen ist. Die typischen Symptome sind Sorgen aller Art. Sorgen um die Zukunft, Sorgen um den Job, Sorgen um die Liebesbeziehung, Sorgen um das liebe Geld, Sorgen um die Gesundheit, usw. Je nach Veranlagung und Lebensgeschichte äußert sich die Sorgeritis bei jedem Menschen etwas anders und bringt neben Sorgen aller Art auch Ängste mit sich. Zukunftsängste, Kontrollverlustängste, Versagensängste, Verlustängste, Selbstwertängste, Beziehungsängste, usw. Auch Zweifel gehört zu den Begleiterscheinungen der Sorgeritis dazu – eines der häufigsten Symptome sind die Selbstzweifel. 

Es braucht meist lange Therapie, um die Sorgeritis loszuwerden. Wichtig ist vor allem die Stärkung des psychischen Immunsystems – so will ich es mal bezeichnen. Dazu gehört die Bildung und die Stärkung von Vertrauen, Geduld, dem eigenen Selbstwertgefühl und die Korrektur negativer, tiefer innerer Überzeugungen, die Ausheilung gestörter Beziehungen im sozialen Umfeld und der Beziehung zu sich selbst. Davon ab muss bei der Sorgeritis auch immer die eigene Veranlagung und die Lebensgeschichte berücksichtigt werden.  

Eine komplette Ausheilung kann nicht versprochen werden, eine gewisse Sensibilität dafür wird wohl ein Leben lang bestehen bleiben.

Die Sorgeritis in mir

Mit der Sorgeritis habe ich meine eigene Krankheitsgeschichte, das kann ich wirklich so zugeben. Zukunftsängste, Kontrollverlustängste, Geldsorgen und auch gelegentliche Selbstzweifel, das waren meine Hauptsymptome. Vor allem die Geldsorgen. Später kamen Gesundheitssorgen dazu und die Vertrauensängste. 

Bin ich heute davon geheilt? Nein. 

Mit 30 ging mir ein Licht auf, dass ich diese blöde Sorgeritis schon wieder seit so vielen Jahren in mir trage und seit der Zeit bin ich in einem guten Prozess.  

Manchmal denke ich mir, eine Selbsthilfegruppe für Betroffene wäre nicht schlecht. Ich könnte so eine gut leiten…  

Eine andere gemeine Krankheiten, vor der man nicht geschützt ist  

Die Sorgeritis ist nicht das einzige, was gemeingefährlich und hochansteckend ist. Daneben gibt es weitere, echt fiese Krankheiten, die ich gerne vorstellen möchte: 

Die Ja-Aberitis

Der Ja-Aberitis bin ich vor allem in meinem Beruf extrem häufig begegnet. Doch auch bei mir habe ich ab und an die Symptome erlebt. Doch inzwischen glaube ich, ist mir diese Ja-Aberitis innerlich so verhasst, dass meine innere Widerstandskraft enorm stark gegen diese Erkrankung geworden ist. 

Schon die  Bezeichnung spricht an der Stelle klar für sich:  

Die Ja-Aberitis geht einher mit einer ausgeprägten Neigung des „…ja, aber….“.  

Egal, um welche Lebensbereiche es geht, egal um welche Thematiken und egal in welchen Situationen man sich befindet und mit wem man kommuniziert, die Ja-Aberitis ist ein treuer Begleiter. Auch hier spielen Veranlagungen und auch die Lebensgeschichte in der Ausprägung der Erkrankung eine Rolle. 

Im Volksmund wird die Ja-Aberitis schon mal als „Beratungsresistenz“ bezeichnet, wobei das bei Weitem eine abgeschwächte Form der eigentlichen Ja-Aberitis ist. 

Das Besondere an der Ja-Aberitis sind die Symptome: Das „...ja, aber…“ muss nicht in jedem Fall von der betroffenen Person ausgesprochen werden. Es kann sich genauso gut im Inneren abspielen, als ein Gedanke oder ein Gefühl. Das „…ja, aber…“ kann sich dabei auf wirklich alles Mögliche beziehen, kennzeichnend ist vor allem die abwehrende, verneinende Haltung: 

„…ja, aber …“ 
- bei mir wird das nicht klappen 
- so wird das bestimmt nicht funktionieren 
- das ist bestimmt noch nicht gut genug 
- das hast du bestimmt nur gesagt, um mich zu trösten 
- das ist nicht das, was ich will 
- du hast mich noch nicht verstanden 
- usw.  

Dabei kann der Betroffenen in vielen Fällen nicht eindeutig unterscheiden, ob das Gesagte hinter dem Aber tatsächlich der Wahrheit entspricht oder nicht. Die Ja-Aberitis übernimmt vielmehr eine gewisse Kontrolle über den Betroffenen und überzeugt ihn dermaßen von dem „aber“, dass es sozusagen in Fleisch und Blut übergeht. 

Der Betroffene leidet durch diese Erkrankung in sehr vielen Lebensbereichen und das Kennzeichnende ist, dass die Ja-Aberitis es dem Betroffenen extrem schwer macht sich von ihr zu befreien, selbst, wenn der Betroffene es wirklich möchte. 

Meine Erfahrung mit der Ja-Aberitis

Wie durchtrieben fies die Ja-Aberitis sein kann, durfte ich in einer meiner Gruppen hautnah erleben und möchte diese Erfahrung zu Demonstrationszwecken gerne hier teilen…. Zusammengefasst war der Betroffene ein Mann, der sich gerne von der Ja-Aberitis befreien wollte und sich ein glückliches, freudvolles Leben wünschte. Er wollte gerne seinen Burn-out und seine Depression loswerden. Meine Aufgabe als Gruppenleiterin war es natürlich mit ihm (und den anderen in der Gruppe) einen individuellen Lösungsweg für ihn herauszuarbeiten. Das Ziel war es also ihm zu helfen, nachdem seine Situation verstanden wurde. Kurzum gestalteten sich alle Dialoge wie folgt:  

Ich oder die Gruppe: „Sie haben XYZ Wünsche und möchten von XYZ befreit werden.“ 

Betroffener: „ Ja, das stimmt, aber ich habe XYZ Wünsche und eigentlich möchte ich von XYZ befreit werden.“ 

Ich oder die Gruppe: „…Ok. Dann lassen Sie uns gemeinsam schauen, was Ihnen helfen könnte.“ 

Betroffener: „Das finde ich sehr gut, aber ich möchte wirklich, dass mal endlich Lösungen dafür gefunden werden.“

Ich oder die Gruppe: „Das verstehen wir. Folgende Lösungen und Ansätze sehen wir ….“  

Betroffener: „Das sind gute Ansätze, aber ich möchte ja, dass mir geholfen wird.“ 

Ich: „Moment. Fällt Ihnen das auch auf? Hier sind viele Menschen, die Ihnen helfen möchten, können Sie das auch so wahrnehmen?“ 

Betroffener: „Natürlich, das nehme ich wahr und das tut mir auch unheimlich gut. Aber ich möchte echt, dass mir geholfen wird.“ 

Ich: „Na dann sind Sie hier ja genau richtig. Lassen Sie uns nochmal konkreter nach Lösungen für Ihre Situation gucken.“  

Daraufhin wurden zahlreiche Lösungsansätze ausgearbeitet und zusammengetragen. Die Gruppe (so kann man es sagen) riss sich für diesen Mann den Hintern auf.  

Betroffener: „Wow, da ist ja eine Menge zusammengekommen, aber ich möchte konkrete Lösungsansätze, die mir helfen können.“ 

Ich: „Genau das haben wir doch gemeinsam ausgearbeitet. Was fehlt Ihnen?“ 

Betroffener: „Eigentlich fehlt mir gar nicht. Wenn ich mir das so ansehe, ist das schon echt ein guter weg, aber ich möchte ja, dass mir geholfen wird.“ 

Ich: „Merken Sie eigentlich was Sie die ganze Zeit machen und sagen?“ 

Betroffener: ? 

Ich: „Ich sage Ihnen, dass ich Ihnen wirklich helfen will.“ 

Betroffener: „Ja, das höre ich, aber ich will ja auch, dass mir endlich jemand hilft.“ 

Ich: „Und hier sitzen Menschen, die ehrlich an Ihnen interessiert sind und Ihnen gerne helfen möchten….“ 

Betroffener: „Das hab ich auch bisher noch nie so in meinem Leben erlebt. Aber ich möchte doch so gerne, dass mir geholfen wird.“ 

Ich: „Ok. Wir halten mal kurz an und betrachten die Situation. Ich hab den Eindruck, wir spielen hier ein Spiel gegeneinander, obwohl wir im gleichen Team sind. Ich sage etwas und Sie wiederholen mich im Grunde, indem Sie ein …ja, aber… einwerfen. Ich sage also „Ich will Ihnen helfen“ und Sie sagen „Ja, aber ich will, dass Sie mir helfen“ und ich antworte „Und genau das will ich und das tue ich“ und Sie sagen „Ja, das sehe ich, aber ich will doch, dass Sie mir helfen“ usw.. Was fällt Ihnen an diesem Spiel auf? Wir wollen beide dasselbe und sagen dasselbe. Wie passt da das …ja, aber… von Ihnen rein?“  

Da kam der Betroffene ins Straucheln und so langsam ging ihm ein Licht auf. Am Ende konnten wir beide gut darüber lachen, weil die Situation einfach so dermaßen lächerlich war…  In der Zwischenzeit waren die anderen in der Gruppe völlig entnervt und haben sich mächtig verarscht gefühlt Aber dazu muss man sagen, es war eine sensationell geniale Demonstration einer eingefleischten Ja-Aberitis und nach diesem Erlebnis haben alle aus der Gruppe etwas gelernt.

Doch das ist noch nicht das Ende der hochansteckenden, virulenten Krankheiten  

Warum eigentlich virulent? 

Ein Virus ist ein äußerst infektiöser Partikel (kein Lebewesen!!!), der einen Wirt braucht, um sich vermehren zu können. In der Nukleinsäure transportiert der Virus die Information für die Steuerung des Stoffwechsels der Wirtszelle und das Ziel ist:  In die Wirtszelle eindringen, das eigene Erbmaterial freisetzen, das eigene Erbmaterial vervielfältigen dank der Wirtszelle und damit die Produktion neuer Viruspartikel und deren Freisetzung. Der Virus übernimmt dabei ziemlich hinterhältig und geschickt die „hausinternen“ Prozesse der Wirtszelle und gewinnt damit die Kontrolle über die Wirtszelle.

...

Bevor dieser Beitrag in seiner Länge explodiert und wir gar nicht zum Wochenimpuls kommen, verlagere ich zwei weitere hochansteckende Krankheiten auf einen weiteren Artikel: 

Die Negativitis 

Die Jammeritis  

Mein Wochenimpuls für die kommende Woche ist,  

  •  sich ganz bewusst die nächsten Tage zu beobachten und darauf zu achten, ob man die Symptome einer Sorgeritis oder einer Ja-Aberitis an sich feststellen kann 
  • mal ganz ehrlich einzuschätzen, wie stark eine mögliche Infektion bereits fortgeschritten ist 
  • darauf zu achten, wie viel Kontrolle die mögliche Infektion bereits über einen gewonnen hat und wie schwer es werden könnte sie loszuwerden 
  • mal abzuwägen, welche Konsequenzen eine Sorgeritis oder eine Ja-Aberitis auf das eigene Leben und das Leben der Menschen, die uns am nächsten stehen, haben könnte 
  • im eigenen sozialen Umfeld darauf zu achten, wer von der Sorgeritis oder der Ja-Aberitis betroffen ist 
  • und darauf zu achten, ob man dazu tendiert sich von einer von beiden Krankheiten anzustecken, falls man mit erkrankten Personen zu tun hat  


Erfahrungen können gerne im Kommentarfeld geteilt werden ;)


Bildquellen:

Pixabay

tatjana

Sort:  

Ein ganz toller Artikel! Oh ja, dieses Virus haben wohl die meisten, ich nehme mich da nicht aus. Das Bewusstmachen und aktiv dagegen steuern hilft, damit es nicht die Oberhand gewinnt! Herrlich, der "ja aber" Dialog :-) Das teile ich doch gleich mal.

Vielen Dank Sabine!!
Ich glaube keiner ist vor diesen gemeinen Viren sicher, aber wir sind definitiv nicht machtlos und ein geschärftes Bewusstsein ist eine der besten Schutzmittel :)
Danke fürs Teilen!! :)

Herrlich deine Ausführungen, solche Gruppengespräche habe ich am Anfang gehasst aber auch nur deshalb, weil in der Gruppe bewusst wurde, das in uns auch jenes Problem steckt und es zeit wird mal daran zu arbeiten.

Am schlimmsten sind so Gruppenarbeiten wie Komplimente machen, was gefällt dir an deinem Nachbarn und das im große kreis, dann mit dem kleine Stressball zuwerfen und sagen was einem gefällt, mah des war zäh diese Runden, denn man ist es nicht gewöhnt Komplimente zu bekommen und tut sich dementsprechend schwer diese anzunehmen.

Und am beginn dieses Interview spiel, seinen zugewiesenen Partner ausfratscheln bis zum geht nicht mehr, das einzig was dann noch gefehlt hätte, wie oft ich aus Klo gehe.

Hinterher wenn alle Sitzungen die man selber an sich austesten muss vorbei sind ist alles easy.


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happy steemit wünscht
asmr-austria (Christian)

"weil in der Gruppe bewusst wurde, das in uns auch jenes Problem steckt und es zeit wird mal daran zu arbeiten." - und das ist einer der Gründe, warum ich Gruppenarbeit so liebe!! :) <3

Der andere Grund liegt an der Vielfältigkeit der Arbeit in Gruppen. Keine Gruppe ist wie die andere und ich liebe Gruppendynamiken! :D

Das Problem mit solchen Komplimente-Runden kenne ich. Ist zum Wegschießen, aber auch da kommt es auf die Gruppendynamik und das Vertrauen in der Gruppe an.

Das Problem Komplimente anzunehmen ist übrigens ein herrliches Beispiel für ein gewisses Selbstwert-Thema bzw. Selbstwert-Problem, über welches ich in meinem eBook schreibe.

Das Lesen des eBooks und den Allerwertesten hochkriegen, um etwas am Selbstwertgefühl zu verändern, kann ich nur wärmstens empfehlen :) (äh... jedem, der sich beim Thema angesprochen fühlt... ;)
https://tatjanaheidemann.de/das-ebook-fuer-mehr-selbstwertgefuehl/

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Sagen Sie dem Betroffenen das er sich nur selber helfen kann.
Der Betroffenen kommt mir vor wie ein aufgezogener Leiherkasten.
Da müssen Sie auch mal hart sein.
Am besten Sie laden den Betroffenen ein.
Ich werde sein festgefahrenes und aufgehangenes Programm mit flags neustarten.
Bei Geldsorgen einfach in Bitcoin investieren.
Oder Milliadäre therapieren.

Ohje ja, diesen Virus habe ich auch... er ist ein ziemliches Miststück, wie ich immer wieder feststellen muss.

Deine Tipps finde ich klasse, sich selber genau beobachten und reflektieren, welche Sorge ist gesund, schützt uns und welche ist Bullshit.

Ich hab den Beitrag wegen seiner enormen Länge (und der Tages- bzw. Nachtzeit ;)) nur überflogen, jetzt gerade für den Kommentar erst komplett gelesen. Der beschriebene Typ Mensch ist ziemlich anstrengend (auch für sich selbst), aber ;) ich glaube, es ist auch eine Reaktion auf ein völlig überforderndes Umfeld, sich hinzusetzen und zu sagen "ich will, daß mir jemand zuhört", bis man tatsächlich das Gefühl hat, verstanden zu werden. Ich seh es so: Jeder Mensch braucht eine innere Sicherheit, um Außenverhältnisse aushalten zu können. Ist diese gestört, entwickelt manch einer eine Impulsivität und psychosoziale Auffälligkeit. Dann wird an den letzten beiden herumgedoktert, anstatt Ursachenforschung zu betreiben und ggf. Ursachen zu eliminieren. :(

Jaaa genau so ist es, wunderbar geschrieben :-) Kenn ich auch diese Krankheit. Sie ist bei mir nur latent vorhaden. Es kommt aber ab und zu immer wieder zu Ausbrüchen.

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