Von Heimat und Muttersprache oder: Was ist eigentlich Russlanddeutsch? I Wochenthema Sprache

in #deutsch7 years ago (edited)

Wochenserie_sprache (1).png

Meine Muttersprache ist deutsch, denn meine Mutter ist Deutsche. Dennoch war meine erste Sprache russisch, denn ich bin in der Sowjetunion geboren, in Kasachstan. Als ich zur Welt kam dachte noch niemand an den Fall der Mauer und ein Zerfall der Sowjetunion schien, trotz schwerer Wirtschaftslage, undenkbar. Meine Familie lebte schon seit 1973 in Kasachstan. Alle waren froh, das kalte Sibirien verlassen zu haben. Auch wenn der Winter in Kasachstan kalt war, waren die Minus 40 Grad hier leichter zu ertragen als im kargen Russland. Auch waren die Sommer viel heißer und schöner als in den russischen Wäldern, in denen meine Familie zuvor hauste. In unserem kleinen Dorf mit knapp 1000 Seelen waren wir immer die Deutschen. Auch wenn man bei uns nur noch wenig deutsch sprach. Meine Mutter hatte noch deutsch von ihrer Großmutter gelernt, denn meine Urgroßmutter sprach in ihrem Leben kein Wort russisch. Als ich auf die Welt kam, war meine Urgroßmutter leider schon verstorben. In Kasachstan habe ich meine Mutter nicht deutsch sprechen hören, das kam erst, als wir nach Deutschland umgesiedelt sind. Dazu komme ich aber sicher noch in einem anderen Post.

Deutsche in Russland

Aber zurück zum Thema Sprache. Ich bin also in einer deutschen Familie aufgewachsen, in der deutsch nicht mehr gesprochen und erst recht nicht an meine Generation weitergegeben wurde. Um zu erklären, warum das so war, muss ich ein wenig ausholen und von der Geschichte der Deutschen in Russland berichten. Alles begann, als Katharina die Große 1763 die Deutschen nach Russland einlud. Russland war schon damals ein riesiges Land, das in weiten Teilen brach lag. Viel Fläche wurde nicht benutzt, war nicht besiedelt. Um Russland zu einer besseren Entwicklung zu verhelfen, sollten deutsche Siedler kommen. Diese bekamen besondere Privilegien. Sie mussten keinen Kriegsdienst leisten, durften autonom in deutschen Siedlungen leben und sich selbst verwalten. Auch bekamen sie genug Land, um sich zu versorgen. Das war ein sehr gutes Angebot für alle, die auf Grund ihres Glaubens nicht in den Krieg zeihen wollten.
Im Gegenzug sollten die Deutschen Lediglich das Land bestellen, Häuser bauen und einen guten Teil ihrer Erträge an Russland geben. Die Deutschen lebten in ihren eigenen Siedlungen, hatten eigene Schulen und sprachen auch nur deutsch, denn es gab keine Notwendigkeit russisch zu lernen. Man war zufrieden in der eigenen Diaspora, bis der erste Weltkrieg ausbrach und die Russlanddeutschen plötzlich als "innerer Feind" galten. Es gab erste Demonstrationen gegen in Deutschen in Russland, 200.000 Russlanddeutsche wurden enteignet und aus ihren Siedlungen vertrieben. Hier mussten sie sich zum ersten Mal unter die russische Bevölkerung mischen. Die Lage entspannte sich zwar nach dem ersten Weltkrieg zunächst und die Deutschen bekamen, nach der Oktoberrevolution, sogar ihr eigenes Gebiet an der Wolga, aber der Ausbruch des zweiten Weltkriegs machte alle Stabilität zur Nichte. Mit dem Zweiten Weltkrieg waren die Deutschen in Russland nun Staatsfeinde. Es dauerte nicht lange und die Deutsche Sprache wurde verboten. Deutsche wurden endgültig aus ihren Siedlungen Deportiert und lebten unter Kommandantur in Arbeitslagern.
Mein Großvater ist in so einem Gulag in Sibirien groß geworden. Als sechsjähriger musste er aus seiner Siedlung am schwarzen Meer nach Sibirien und das Gebiet konnte er bis in die 70ger Jahre nicht verlassen.
Deutsch zu sprechen konnte meinem Opa sehr viel Ärger einbringen, also lernte er russisch.
Als Stalins Kommandantur aufgehoben wurde, und mein Opa mit seiner Familie Russland verlassen und nach Kasachstan gehen konnte, änderte sich vieles. In unserem kleinen kasachischen Dorf lebten ungefähr 1200 Menschen mit 16 verschiedenen Nationalitäten. In einer kleinen Gemeinschaft lebten Kasachen, Russen, Ukrainerin, Usbeken, Tataren und Deutsche, Türken, Weißrussen und einige weitere Nationalitäten mehr. Gemeinsam sprach man russisch.
Auch wenn wir noch deutsche Lieder sangen und deutsche Bräuche pflegten, zum Beispiel auf Hochzeiten. Die deutsche Sprache hörte ich als Kind nicht im Alltag. Meine Großeltern hatten zu viele Repressalien erlebt. Sie hatten Angst diese Sprache weiter zu geben. Außerdem wäre wirklich niemandem auch nur im Traum eingefallen, dass wir eines Tages tatsächlich nach Deutschland zurückkehren würden.

Russlanddeutsch?

Russlanddeutsch ist eine Art Plattdeutsch. Das kennen besonders viele Russlanddeutsche, oder Deutsche aus Russland, die in religiösen Gemeinschaften gelebt haben und sich ihre Gemeinschaft trotzt Repressalien erhalten konnten. Eine Kostprobe könnt ihr in dem Folgenden Video sehen und hören. Lebendiges, modernes Russlanddeutsch, in das sich immer wieder russische Wörter einmischen. Das Video zeigt Russlanddeutsches Theater.


Hier könnt ihr die wunderbare Maria Warkentin sehen, die selbst 1993 mit ihrem Mann nach Deutschland kam und hier das Russlanddeutsche Theater eröffnete.

Heimat und Sprache

Aus meiner Sicht ist Sprache auch ein Stück Heimat. Heute fühle ich mich in der deutschen Sprache genauso zu Hause, wie in der russischen. Ich kam mit siebeneinhalb Jahren nach Deutschland. Deutsch habe ich erst hier gelernt und mein Russisch fast vergessen.
Würde Euch auch interessieren, wie ich den Zugang zur russischen Sprache wiedergefunden habe? - Das würde nämlich auch gut zum Wochenthema passen.
Wie ist es bei Euch? Habt ihr vielleicht auch eine zweite Muttersprache?
Ich hoffe, dieser Post liest sich nicht wie ein verstaubter Aufsatz. Ich könnte natürlich noch viel detailreicher über die Deutschen aus Russland schreiben, aber ich bin mir nicht sicher, ob das dann noch als Blogpost durchgeht.

Vielen herzlichen Dank für Eure Zeit und Euer Feetback.

Dies ist mein zweiter Post in meiner Wochenserie zum Thema Sprache. Den ersten gab es gestern hier.

Sort:  

Sehr schön @sumsum, du bist eine positive Bereicherung für unsere Steemit-Gemeinschaft !

Ich kann das gut nachvollziehen, ich habe Wurzeln die in Polen liegen. Jedoch kenne ich das nur noch aus Erzählungen. Der Vater meiner Mutter war gebürtiger Pole und kam Nach dem Krieg aus Gefangenschaft nach Deutschland. Väterlicherseits stammt da irgendjemand mal aus der Slowakei. Aber Sprache spreche ich nur Deutsch und Google...... :-)

XD ... Deutsch und Google. - Das gefällt mir!

naja man muss ja ehrlich sein....

Ich dachte Du kannst noch Russisch, Towarisch.

aber nur noch bruchstückweise.....

Menja sawut S. Mne adinazschat let.
Achne, bin schon älter. Zahlen über 40 hat man ja nicht gelernt :-)

Мой адрес не деревня и не дорога, мой адрес Советский Союз........

XD ... das nimmt hier ja ganz ungeahnte Dimensionen an.

Coin Marketplace

STEEM 0.20
TRX 0.12
JST 0.027
BTC 64622.42
ETH 3518.17
USDT 1.00
SBD 2.46