Perlen der Literatur – „Die geistigen Väter des Faschismus“ von Bertrand Russel – Essay 1/3

in #deutsch6 years ago (edited)

Bert1.png


Werte Steemis,

gute Bücher und Schriften sind wie Austern, will man an die Perlen gelangen, muss man tief tauchen, Miesmuscheln hingegen, liest man am Strand auf.

Zu den Perlen der Literatur gehört sicher auch Bertrand Russels Buch „Lob des Müßiggangs“, das ihm 1950 den Nobelpreis für Literatur einbrachte. Aus diesem Buch möchte ich euch in drei Teilen ein Essay vorstellen „Die geistigen Väter des Faschismus“.

Meine einzige Kritik: Russel sollte in jedem guten Bücherregal zu finden sein, es ist nicht nur ein Vergnügen ihn zu lesen, seine überlegene Intelligenz, ist erschreckend schön.


Bertrand Russel

Die geistigen Väter des Faschismus

1/3


Wenn wir unser Zeitalter mit der Zeit etwa Georg I. Vergleichen, erkennen wir eine tiefgreifende Veränderung in der geistigen Einstellung, der eine entsprechend gewandelte politische Haltung folgte. In gewissen Sinne könnte man die Weltanschauung von vor zweihundert Jahren als „rational“ und die für unsere Zeit charakteristischste als „antirational“ bezeichnen. Doch soll, wenn ich mich dieser Worte bediene, damit weder die volle Anerkennung der einen nch die totale Ablehnung der anderen Einstellung verbunden sein. Außerdem muss man sich unbedingt daran erinnern, dass politische Ereignisse sehr häufig Farbe und Form aus der theoretischen Arbeit einer zurückliegenden Zeit beziehen: in der Regel liegt ein beträchtlicher Zeitraum zwischen dem Bekanntwerden einer Theorie und ihrem praktischen Wirksamwerden. Die englische Politik des Jahres 1860 war von den Ideen beherrscht, die Adam Smith 1776 zum Ausdruck gebracht hatte; die heutige deutsche Politik verwirklicht Theorien, die Fichte 1807 vertrat; die russische Politik verkörpert seit 1917 die Doktrinen des Kommunistischen Manifests, das aus dem Jahr 1848 datiert. Daher muss man, um die gegenwärtige Epoche verstehen zu können, auf eine frühere Zeit zurückgreifen.

Eine weitverbreitete politische Doktrin hat gewöhnlich zwei sehr verschieden geartete Ursachen. Einmal die geistigen Vorläufer: Menschen mit fortschrittlichen Theorien, die im Wege der Weiterentwicklung oder der Reaktion aus vorangegangenen Theorien erwachsen sind; zum anderen politische und wirtschaftliche Umstände, welche die Leute prädisponieren, sich Ansichten zu eigen zu machen, die solchen, aus den besonderen Umständen entstandenen Stimmungen gerecht werden. Sie allein aber können noch nicht als hinreichende Erklärung gelten, wenn, wie es nur all zu oft geschieht, die geistigen Vorläufer übersehen werden. In dem speziellen Falle, der uns interessiert, hatten verschiedene Gruppen in der Nachkriegszeit bestimmten Anlaß zu Unzufriedenheit; sie hatten daher begonnen, mit einer gewissen, zu einem viel früheren Zeitpunkt erdachten allgemeinen Philosophie zu sympathisieren. Ich beabsichtige, zunächst die Philosophie zu betrachten und dann die Gründe für ihre gegenwärtige Beliebtheit zur Sprache zu bringen.

Die Revolte gegen die Vernunft setzte als Revolte gegen das vernunftmäßige Denken und Folgen ein. In der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts, als Newton den Geist der Menschen beherrschte, war man weit und breit davon überzeugt, um zu wissen und zu erkennen, gelte es nur, die einfachen Grundgesetze zu entdecken, aus denen man durch deduktive Vernunftschlüsse Folgerungen ziehen könnte. Wobei viele Leute vergaßen, dass Newtons Gravitationsgesetz auf hundertjährigen eingehenden Beobachtungen beruhte, und sich einbildeten, die Grundgesetze seinen im Lichte der Natur zu entdecken. Es gab Naturreligionen, Naturrecht, Naturmoral und so fort. Diese Gegenstände hielt man, im Stil Euklids, für überzeugende Schlussfolgerungen aus selbstevidenten Axiomen. Das politische Resultat dieser Anschauungen war die Lehre von den Menschenrechten, wie sie während der amerikanischen und der Französischen Revolution gepredigt wurde.

Aber gerade in dem Augenblick, als der Tempel der Vernunft seiner Vollendung entgegenzugehen schien, wurde eine Mine gelegt, die schließlich das ganze Gebäude in die Luft sprengen sollte. Der Mann der diese Mine legte, war David Hume. Sein Traktat über die menschliche Natur, der im Jahre 1739 veröffentlicht wurde, trägt den Untertitel: „Versuch einer Einführung der experimentellen Methode des logischen Schlusses bei moralischen Gegensätzen“. Damit ist zwar seine Absicht voll und ganz, die Durchführung jedoch nur zur Hälfte ausgedrückt. Es war seine Absicht die Deduktion aus angeblich selbstevidenten Axiomen durch die Wahrnehmung und Induktion zu ersetzen. Seiner geistigen Einstellung nach war er ganz und gar Rationalist, wenn auch mehr von der Art Bacons als des Aristoteles. Aber in seiner fast einmaligen, mit Scharfsinn gepaarten intellektuellen Aufrichtigkeit kam er zu gewissen vernichtenden Schlüssen: dass die Induktion eine ungerechtfertigte Methode und der Glaube an die Kausalität kaum höher zu bewerten sei als Aberglaube. Daraus folgte, dass die Wissenschaft zugleich mit der Theologie ins Fegefeuer der trügerischen Hoffnungen und irrationalen Überzeugungen zu verweisen sei. Bei Hume bestanden Rationalismus und Skeptizismus friedlich nebeneinander. Skeptizismus war nur beim Forschen und Studieren angebracht, in den Angelegenheiten des täglichen Lebens aber sollte man ihn außer acht lassen. Darüber hinaus sollten im praktischen Leben so weit als möglich, eben jene wissenschaftlichen Methoden bestimmt sein, die er mit seinem Skeptizismus sonst anficht. Ein derartiger Kompromiss war nur bei einem Mann möglich, der Philosoph und gleichermaßen Weltmann war; und wenn er den Eingeweihten einen gewissen esoterischen Unglauben vorbehält, so haftet dem etwas von aristokratischem Toryismus an. Die Welt lehnte es größtenteils ab, Humes Doktrinen in ihrer Gesamtheit anzuerkennen. Seine Schüler verwarfen seinen Skeptizismus, während seine deutschen Gegner diesen Skeptizismus als das unvermeidliche Ergebnis einer rein wissenschaftlichen und rationalen Einstellung nachdrücklich hervorhoben. Daher folgte aus seiner Lehre im Ergebnis, dass die britische Philosophie oberflächlich und die deutsche Philosophie antirational wurde – in beiden Fällen aus Angst vor einem unerträglichen Agnostizismus. Das europäische Denken hat seither nie wieder zu seiner früheren starken Geschlossenheit zurückgefunden; bei allen Nachfolgern Humes wurde stets gesunde Vernunft mit Oberflächlichkeit, und Gründlichkeit mit irgendeiner Art von Verrücktheit gleichgesetzt. In den allerjüngsten Diskussionen über eine der Quanten-Physik entsprechende Philosophie sind die alten, von Hume ausgelösten Streitigkeiten wieder aufgelebt. Die Philosophie, die für Deutschland kennzeichnend wurde, beginnt mit Kant, und zwar beginnt sie als eine Reaktion, gegen Hume. Kant war entschlossen, an die Kausalität, Gott und die Unsterblichkeit, das moralische Gesetz und sofort zu glauben, erkannte jedoch, dass Humes Philosophie das alles sehr erschwerte. Daher erfand er einen Unterschied zwischen „reiner“ und „praktischer“ Vernunft. „Reine“ Vernunft befasste sich mit allem Beweisbaren, was aber nicht viel war; „praktische“ Vernunft beschäftigte sich mit allem, was der Tugendhaftigkeit erforderlich war, und das war eine ganze Menge. Selbstverständlich und unverkennbar ist „reine“ Vernunft, ganz einfach Vernunft, „praktische“ Vernunft hingegen Vorurteil. Auf diese Weise führte Kant in der Philosophie wieder einen Appell an etwas, anerkanntermaßen außerhalb der Sphäre der theoretischen Rationalität Liegendes ein, was seit Beginn der Scholastik aus den philosophischen System stets verbannt war.

Noch wichtiger selbst als Kant war, von unserem Thema her, sein unmittelbarer Nachfolger Fichte, der von der Philosophie zur Politik überging und die Bewegung auslöste, die sich zum Nationalsozialismus entwickelte. Aber bevor wir auf Fichte zu sprechen kommen, ist noch etwas mehr über den Begriff der „Vernunft“ zu sagen.

Angesichts der Tatsache, dass Hume nicht zu widerlegen ist, kann „Vernunft“ nicht mehr als etwas absolutes gelten, wobei jedes Abweichen davon aus theoretischen Gründen zu verwerfen ist. Trotzdem gibt es da offensichtlich einen Unterschied, und zwar einen wichtigen Unterschied, zwischen dem gedanklichen System etwa der philosophischen Radikalen und solchen Leuten wie die frühen mohammedanischen Fanatiker. Wenn wir die Geisteshaltung der ersten vernünftig und die der zweiten unvernünftig nennen, dann tritt klar zutage, dass wir in den jüngsten Zeiten eine zunehmende Unvernunft zu verzeichnen haben.

Ich glaube, was wir praktisch mit Vernunft meinen, lässt sich an drei charakteristischen Merkmalen erläutern. In erster Linie stützt sie sich auf die Überzeugungskraft statt auf Gewalt; zweitens sucht sie mit Argumenten zu überzeugen, die der Mann der sie vorbringt, für vollkommen gültig hält; und drittens bedient sie sich bei der Meinungsbildung so weit wie möglich der Wahrnehmung und der Induktion und so wenig wie möglich der Intuition. Durch das erste Charakteristikum verbietet sich die Inquisition, das zweite richtet Methoden wie die britische Kriegspropaganda, die Hitler lobend erwähnt, weil „die rein geistige Höhe der Propaganda um so tiefer zu stellen sein wird, je größer die zu erfassende Masse der Menschen sein soll“; durch das dritte verbieten sich so ungeheure Voraussetzungen, wie Präsident Andrew Jackson sie anlässlich der Mississippi-Frage aussprach: „Der Gott des Universums wollte, dass dieses große Stromtal einer Nation gehöre“, was ihm und seinen Zuhören selbstverständlich vorkam, aber einem Zweifelnden nicht leicht zu erklären und zu beweisen war.

Vertrauen auf die so definierte Vernunft setzt eine gewisse Gemeinsamkeit der Interessen auf Auffassung zwischen uns und unseren Zuhören voraus. Zweifellos machte Mrs. Bond die Probe darauf, als sie ihren Enten zurief,: „Kommt her und lässt euch schlachten, ihr müsst gefüllt und meine Gäste satt werden“, aber in der Regel hält man den Appell an die Vernunft denjenigen gegenüber, die wir zu verschlingen gedenken, für verfehlt. Leute, die gerne Fleisch essen, suchen nicht erst nach Argumenten, die einem Schaf einleuchten können, und Nietzsche macht gar nicht den Versuch, die Masse der Menschen zu überzeugen, die er „die Mißratenen“ nennt. Und so wirbt Marx auch nicht um die Unterstützung der Kapitalisten. All diese Beispiele beweisen, dass leichter an die Vernunft zu appellieren ist, wenn die Macht unbestritten auf eine Oligarchie beschränkt ist. Im England des achtzehnten Jahrhunderts fielen nur die Ansichten der Aristokraten und ihrer Freunde ins Gewicht, und diese Ansichten ließen sich immer in vernünftiger Form anderer Aristokraten präsentieren. Wenn aber das politische Staatsgebiet sich ausweitet und heterogener wird, ist damit auch der Appell an die Vernunft erschwert, weil es weniger allgemein anerkannte Voraussetzungen gibt, von denen das Bemühen um Einmütigkeit ausgehen kann. Wenn sich überhaupt keine derartige Voraussetzungen finden, sind die Menschen gezwungen, sich auf ihre Intuition zu verlassen; und da die Intuition verschiedener Gruppen voneinander abweichen, führt das Vertrauen darauf zu Widerstreit und Machtpolitik.

Revolution gegen die Vernunft in diesem Sinne sind ein häufig wiederkehrendes Phänomen der Geschichte. Der frühe Buddhismus war vernünftig; seine späteren Formen und der Hinduismus, der in Indien an seine stelle trat, waren es nicht. Im antiken Griechenland brachten die Orphiker die Revolte gegen die homerische Rationalität zum Ausdruck. Von Sokrates bis Marc Aurel waren die hervorragenden Männer der Antike vorwiegend rational; nach Marc Aurel waren selbst die konservativen Neu-Platoniker voll Aberglauben. Die Ansprüche der Vernunft blieben, von der mohammedanischen Welt abgesehen, latent im Hintergrund bis zum elften Jahrhundert; danach gewannen sie dank der Scholastik, der Renaissance und er Wissenschaft zunehmend vorherrschende Bedeutung. Mit Rousseau und Wesley setze eine Reaktion ein, die jedoch durch die Triumphe der Naturwissenschaft und der Maschinen im neunzehnten Jahrhundert in Schach gehalten wurde. Der Glaube an die Vernunft erreichte seinen Höhepunkt in den sechziger Jahren; seither hat er allmählich abgenommen und nimmt noch weiter ab. Rationalismus und Antirationalismus haben seit Beginn der griechischen Zivilisation nebeneinander bestanden, und sooft eine der beiden Richtungen zur Alleinherrschaft zu gelangen schien, kam es stets durch Reaktion zu einem neuen Durchbruch der gegengesetzten Richtung.

Die moderne Auflehnung gegen die Vernunft weicht in einem wichtigen Punkt von den meisten früheren Revolten ab. Von den Orphikern an war in der Vergangenheit das Ziel gemeinhin die Erlösung – ein komplexer Begriff, der sowohl Frömmigkeit als auch Glückseligkeit einschloss und in der Regel durch gewisse schwierige Entsagungen zu erreichen war. Die Irrationalisten unserer Zeit streben jedoch nicht Erlösung, sondern Macht an. Sie entwickeln damit eine Ethik, die im Gegensatz zur christlichen und buddhistischen Ethik steht, und ihre Herrschsucht treibt sie zwangsläufig zu politischer Betätigung. Ihre geistige Ahnen unter den Schriftstellern sind Fichte, Carlyle, Mazzini, Nietzsche – die Unterstützung finden durch Treitschke, Rudyard Kipling, Houston Chamberlain und Bergson. Die Gegner dieser Bewegung, Benthamiten und die Sozialisten, kann man als zwei Flügel der gleichen Partei betrachten: beide sind kosmopolitisch, beide sind demokratisch, beide appellieren an den wirtschaftlichen Eigennutz. Sie weichen nur in der Frage der Mittel, nicht der Ziele voneinander ab, während die neue Bewegung, die (bisher) in Hitler ihren Kulminationspunkt erreicht hat, von beiden auch hinsichtlich der Ziele und sogar von der Tradition der christlichen Zivilisation abweicht.
Welches Ziel die Staatsmänner nach der Vorstellung fast aller Irrationalisten, aus deren Ideen sich der Faschismus entwickelt hat, verfolgen sollten, ist am klarsten von Nietzsche herausgestellt worden. In bewußter Opposition zum Christentum wie auch zu den Utilitariern, verwirft er Benthams Doktrin hinsichtlich des Glücks und der „größten Zahl“. Er sagt: „Die Menschheit ist viel eher noch ein Mittel als ein Ziel … die Menschheit ist bloß das Versuchsmaterial.“ Das von ihm vorgeschlagene Ziel ist die Größe außergewöhnlicher einzelner: „Es handelt sich darum, jene ungeheure Energie der Größe zu gewinnen, um durch Züchtung und andererseits durch Vernichtung von Millionen Mißratener den zukünftigen Menschen zu gestalten und nicht zugrunde zu gehen an dem Leid das man schafft und dessengleichen noch nie da war.“ Diese Auffassung vom Ziel, das sollte man beachten, kann an sich noch nicht als Vernunft zuwiderlaufend gelten, da sich Fragen der Ziele der rationalen Argumentation entziehen. Wir mögen sie verabscheuen – so wie ich es tue -, aber wir können sie nicht widerlegen, sowenig wie Nietzsche sie zu beweisen vermag. Es besteht hier nichtsdestoweniger ein natürlicher Zusammenhang mit dem Irrationalen, Vernunftwidrigen, da die Vernunft Objektivität fordert, indes der Kult des großen Mannes stets auf dem Untersatz der Behauptung aufbaut: „Ich bin ein großer Mann.“

Ende 1/3


Teil 2/3: https://steemit.com/deutsch/@joe-c-whisper/perlen-der-literatur-die-geistigen-vaeter-des-faschismus-von-bertrand-russel-essay-2-3

Teil 3/3: https://steemit.com/deutsch/@joe-c-whisper/perlen-der-literatur-die-geistigen-vaeter-des-faschismus-von-bertrand-russel-essay-3-3


Quelle: http://find.nlc.cn/search/doSearch?query=bertrant%20russel&secQuery=&actualQuery=bertrant%20russel&searchType=2&docType=%E5%85%A8%E9%83%A8&isGroup=isGroup&targetFieldLog=%E5%85%A8%E9%83%A8%E5%AD%97%E6%AE%B5&fromHome=true
Quelle: http://www.nl.go.kr/nl/search/search.jsp?all=on&topF1=title_author&kwd=Bertrand+Russell
Quelle: https://search.rsl.ru/ru/search#q=bertrand%20russel


Joe C. Whisper

Sort:  

Bitte noch Verweise zu den anderen Teilen einschreiben. Danke.

Coin Marketplace

STEEM 0.19
TRX 0.12
JST 0.029
BTC 61043.90
ETH 3378.35
USDT 1.00
SBD 2.46