Reiseblues oder die Illusion der Freiheit

in #deutsch7 years ago (edited)

Als ich vor 10 Monaten zusammen mit Jess nach Asien gereist bin, da hatte ich von grenzenloser Freiheit geträumt. Ich wollte mich loslösen von allem, was mich runterzieht. Tatsächlich versprach das Konzept einer Weltreise eine Tür zu einem erfüllten und glückseligen Paralleluniversum zu öffnen. „Wenn ich erst mal auf Reisen bin, dann kann ich endlich tun und lassen was ich will. Ich kann den Tag ganz und gar nach meinen Bedürfnissen gestalten!“ und viele ähnliche Gedanken schwirrten mir durch den Kopf.

Also packte ich zu meinem Gepäck auch unglaublich viele Erwartungen in meinen Rucksack. Erwartungen die bald enttäuscht wurden. Oh Wunder, oh Wunder: Es hat nicht gereicht von A nach B zu fliegen, um Erlösung von allen Problemen zu erfahren um so schlussendlich die Freiheit zu finden.

Ich habe angenommen, dass ich die Freiheit finde, wenn ich die Welt um mich herum verändere. Ich lag falsch. Zumindest zum Teil. Denn eines steht fest: Es gibt natürlich Lebensumstände, die es einem erleichtern sich frei zu fühlen, während andere eher behindernd wirken. Trotzdem kann ein Sträfling sich im Gefängnis frei fühlen und ein Weltreisender sich eingesperrt. Ja, das ist so paradox, wie es klingt. Ich habe dem „Was“ zu viel und dem „Wie“ zu wenig Beachtung geschenkt. Natürlich tragen die Probleme hier auf Reisen ein anderes Kleid, als jene die Zuhause geblieben sind. Doch im Kern sind sie ein und dasselbe.

Das hat mich echt deprimiert. Als sich meine Vision als illusionäre Vorstellung entpuppt hatte, verlor ich jeglichen Antrieb. „Für was mache ich das Ganze hier eigentlich?“ hab ich mich innerlich immer wieder gefragt. Es sollten etwa zwei Monate vergehen, ehe ich wieder Licht am Horizont sehen konnte.

Doch bis es so weit war, verbrachte ich unzählige Stunden am Computer und hab mich dabei immer mehr in meine eigene Welt zurückgezogen. Ich habe gezockt wie ein Verrückter. League of Legends bis zum Abwinken. Das Dümmste daran ist, dass ich kein wirklich guter Zocker bin und die ganze Zeit verloren habe. Was natürlich zusätzlich genervt hat :D.

Solange ich mich aber von meinem „realen“ Leben ablenken und das riesige Fragezeichen, welches sich vor meiner Existenz aufgebaut hat, ignorieren konnte, war das gut genug. In Retroperspektive kann ich mein Verhalten nicht anders als wahnsinnig bezeichnen :P.

Ich fühlte mich machtlos über mein eigenes Leben, so abstrus das auch zu sein scheint. Als würde das Leben mich leben anstatt umgekehrt. Kurzum: Der Reiseblues war perfekt. So als Randbemerkung muss ich aber noch anfügen, dass mir Blues im Allgemeinen sehr gefällt. Der Pathos und die Einfachheit in Wort und Spielweise dieses Genres hat mich schon seit Kindheitstagen in ihren Bann gezogen :P

Einen Ausweg aus dieser beschissenen Situation fand ich erst, als ich mit Jess ein zweites Mal auf die Philippinen geflogen bin um dort einen Teil ihrer Familie zu besuchen. Ihr Vater wohnt nämlich schon seit gut vier Jahren zusammen mit seiner (philippinischen) Ehefrau und ihrem gemeinsamen Kind in der Nähe der Hauptstadt Manila. Zudem war auch Jess’s Bruder, ebenfalls mit Frau und Kind unterwegs, gerade dort zu Besuch.

Schliesslich war es Jess’s Bruder und seine Frau, die mir den entscheidenden Impuls geben konnte um das Ruder herumzureissen: Sie verhalfen mir zu einer Perspektive, die ich lange Zeit für ausgeschlossen gehalten habe: ein Studium an einer Hochschule. Um genauer zu sein haben sie mir die Idee eingepflanzt „Audio Design“ zu studieren. Kurz gesagt, geht es bei diesem Studiengang um das Gestalten von Ton und Klang mit elektronischen Mitteln.

Endlich. Ich sah das Licht am Horizont. Der Reiseblues war zu Ende gespielt. Nach einer Periode die durch und durch von Lethargie geprägt war, verschaffte mir diese neue Perspektive enormen Aufwind und weckte meine Schaffenskraft aus dem Tiefschlaf. Ich konnte wieder Frieden mit dem Hier und Jetzt schliessen und Gefallen an den kleinen Dingen des Lebens finden.

Ich habe gelernt, dass ich eine Vision in meinem Leben brauche. Eine, die mich herausfordert, mich zwingt aus meiner Komfortzone herauszukriechen und über mich selber hinauszuwachsen. Mein neues Ziel tut dies mit Sicherheit. Denn einerseits ist mir bewusst, dass mir Musik liegt und ich sehr kreativ bin. Andererseits habe ich trotzdem meine Zweifel. Auf dem Weg bis zum Studiumsbeginn warten noch einige Stolpersteine und dann fängt das ganze Theater ja eigentlich erst an!

Liebe Grüsse

Noël

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Sehr schön und ehrlich geschrieben, uns ist es genauso ergangen. Wir haben auch feststellen müssen das Reisen alleine nicht reicht um sich frei zu fühlen, man kann ja seine Gedanken und Gefühle nicht abschütteln, man ist trotzdem noch der selbe Mensch. Schön das du für dich entdecken konntest was dir Freude macht. Timo hat während des Reisens rausgefunden das er nicht mehr zurück möchte zu seinem alten Beruf als Landschaftsgärtner. Ich bin gerade noch dabei rauszufinden was ich möchte. Wir haben auf unsrer Reise nicht die vollkommene Freiheit gefunden, die vollkommene Freiheit gibt es auch nicht, aber wir konnten uns mehr mit uns selbst als Mensch beschäftigen und lernen auf unsere Gefühle und Bedürfnisse zu hören. Grüße Salima

Ganz genau so ist es Salima! :)
Ich bin mir sicher, dass du herausfinden wirst, was dir wirklich gefällt . Ich habe für mich festgestellt, dass die wirklich tollen Ideen mich finden und nicht umgekehrt, vielleicht ist es ja bei dir auch so.
Ich wünsche euch auf eurem weiteren Weg alles, alles guute :)

Hi Noel letztlich muss man sich den Problemen stellen aber als alter gamer ist mir das weglaufen in parallel Welten nur zu bekannt. Schön das du eine Perspektive gefunden hast ! Ich wünsch dir viel Glück und Durchhaltevermögen, im Studium braucht man beides :)

Die einen kiffen, die anderen gehen feiern und wieder andere zocken halt :P. Ich glaube es ist wirklich ganz normal, wenn man sich ab und zu eine Auszeit gönnt. Wenn diese Auszeit aber zum Alltag mutiert, sollte man dann aber doch was ändern :D.

Das kann ich nur zurückgeben, vielen Dank :D

Der Weg zu sich selbst ist manchmal steinig, aber vor allem endlos.... Gott sei Dank
:)

Wie recht du hast! :)

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Ein sehr schöner Bericht lieber Noël und sehr ehrlich.
Ich glaube viele wollen Reisen, um ihre Altlast los zu werden und merken unterwegs, das sie selbst das Problem sind und nicht die Umgebung.

Den wahren Frieden und echte Bestimmung, finden wir nur in uns selber, egal wo wir sind. Aber dennoch finde ich, Reisen auf diesem Weg zu sich selber unglaublich bereichernd.

Der neue Input bringt mich näher zu mir und gibt mehr raum, um herauszufinden was ich wirklich im leben möchte, wie ich meine Bestimmung leben kann.

Schön, dass wir uns gegenseitig mit neuen Denkanstössen bereichern können, das sollte doch das Ziel von Steemit und ganz generell von einer Freundschaft sein, oder? :)

Ja, das mit der Altlast kann ich so unterschreiben. Das Tolle daran ist, dass man sich durch diesen Bewusstwerdungsprozess, der in Richtung Selbstverantwortung strebt, schlussendlich wirklich von vielem befreien kann.

lg noël

Das ist im Leben immer so. Egal wo man hin geht, selbst wenn man auswandert, man nimmt sich immer selber mit. Orientierung ist dabei das allumspannende Wort. Ich bin schon ein etwas älteres Semester und stelle in meinen Beobachtungen fest, das es in unserer heutigen Zeit meistens an Orientierung mangelt. Viele Wissen nicht was und wohin sie wollen. Die Zeit des Suchens wird immer länger und die Handlung immer weniger. Ob es eine Bestimmung gibt, möchte ich weder bejahen noch verneinen. Wer Orientierung hat, stellt sich selten diese Frage. Wir stehen uns auch meistens selbst im Weg. Umstände zwingen uns anscheinend permanent Qualifikationszettel nachzulaufen (ich weiß wovon ich spreche) und zu erwerben. Ob wir deshalb auch qualifiziert sind steht auf einem ganz anderen Blatt. Freiheit, was auch immer jeder einzelne darunter versteht, wird einem nicht geschenkt. Es liegt an den vielen Gängelungen die unser Leben beeinflussen. Es wäre daher viel besser mehr Angebote zu machen, die man annehmen oder auch ablehnen kann, als Gebote. Verbote braucht jede Gesellschaftsform aber Gebote braucht niemand. Angebote befördern die Freiheit, die Freiheit selbst über die Angebote nachzudenken und sie anzunehmen oder bei Nichtgefallen abzulehnen.

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