Reisebericht Sibirien, Sommer 2004, 2005 und Winter 2006 Teil 2steemCreated with Sketch.

in #deutsch7 years ago

Ankommen in einer fremden Welt

Der Transfer in die Stadt

Ein riesiges Schild mit meinem Namen kann ich gar nicht übersehen - sind doch nun, neben den 20 Passagieren, nochmal so viele Abholer gekommen. Ich kenne die Menschen die mich abholen nicht, aber es war vereinbart, dass ich bei ihnen wohne. Mir wird mitgeteilt, dass ich nicht bei ihnen schlafen kann, weil das Haus renoviert wird. Aber sie haben eine andere Unterkunft für mich besorgt. Wir fahren los. Wir, das sind Elena, ihr Mann, ein Kind, der Fahrer und ich.
Das Abholen vom Flugplatz ist in Russland sehr wichtig. Überall lauern Taxifahrer die ihre Chance wittern, einmal im Leben einen Ausländer irgendwohin zu fahren und dafür in Gold gebadet zu werden. Ist man aber verabredet und wird abgeholt ist dieses Problem nicht mehr existent. Eine Taxifahrt in Kysyl kostet 40 Rubel, etwa 1,20 Euro, egal wohin. Ein Euro ist etwa 35 Rubel wert. Der Flugplatz liegt etwas außerhalb und die Fahrt kostet 60 Rubel. Der Bus ist mit 8 Rubel fast umsonst, nur muss man dann wissen mit welchem man wohin fährt. Taxis, Busse und private Fahrer konkurieren jederzeit und daher hat man als Reisender immer jede Auswahl. Trampen auf russisch ist auch möglich, es wird eine Beteiligung an den Kosten erwartet. Mit 10 oder 20 Rubel kommt man dann noch schneller genau dahin wo man hin will. Zu empfehlen ist das aber nur mit ausreichend Sprachkenntnissen.

Wo wohne ich? Privat oder im Hotel?

Fünf Minuten mit dem Auto und wir sind in der Stadt. Weitere Minuten später sind wir in der Uliza (Strasse) Kalinina in der Nähe der Baschnya (alter Wasserturm). Auf dem Balkon eines Wohnblockes tauchen zwei Gesichter auf. Zhanna und Valeria, meine Vermieter. Alle freuen sich, das Zimmer für mich ist sehr schön, Internet, Telefon und Frühstück sind im Preis von 10 Euro pro Tag inklusive. Meine Basisstation in Tuva ist optimal, besser als alle Erwartungen, die ich eigentlich nicht hatte. Über das Internet hatte ich in Deutschland eine Frau aus Tuva kennengelernt, die in Tübingen studiert. Sie hat dann ihre Cousine, Elena in Kysyl, gefragt ob ich dort wohnen kann. Alternativ zur privaten Unterkunft gibt es Hotels. Diese erkennt man an der Aufschrift Gastiniza, oder man lässt sich von einem Taxi zu einem beliebigen Hotel fahren. Die Preise reichen von 50 Dollar in Nowosibirsk bis zu 15 Euro in Tuva für eine Nacht. Für Einzelreisende ist immer ein Zimmer frei. In Jakutsk gibt es ein Verzeichnis der Hotels und man wird für Sie so lange telefonieren, bis ein Zimmer gefunden ist.

Zu Fuß, mit dem Taxi oder mit dem Bus?

Das "oder" ist falsch - mit allem. Gehen ist in der Stadt kein Problem, es gibt nur zwei Regeln für Ausländer: Nicht nach Einbruch der Dämmerung alleine auf der Straße aufhalten, und die Betrunkenen. Bewährt hat sich das einfache Ignorieren. Keinen Blickkontakt und niemals auf irgendwas antworten. Bei Missachtung dieser beiden Regeln sind Probleme der gröberen Art vorprogrammiert und nur eine Frage der Zeit. Nicht betrunkene Menschen kann man jederzeit um Hilfe bitten und sie werden alles unternehmen um Ihnen zu helfen. In Kysyl gibt es eine spezielle Polizeitruppe die sich nur um die Mitmenschen kümmert, die nicht mehr richtig stehen können und eine Gefahr für den Verkehr darstellen. Einfangen, einen Tag einsperren und wieder von vorne. Es ist traurig, aber kein Bild das die positiven Eindrücke von Tuva schmälert.

Mit dem Taxi kommen Sie immer und sicher überallhin. Einfach an die Straße stellen und eine Hand etwa waagrecht halten genügt, um das nächste Taxi, den nächsten Bus oder den nächsten freien privaten Fahrer anzuhalten. Fahrtziel angeben, und los gehts. Die Busse bleiben auch stehen wenn man sie zwischen den Stationen anhält, man sollte aber nur dann einen Bus anhalten, wenn man weiß, dass es der richtige ist. Die Nummer steht vorne groß drauf und ist schon von weitem zu erkennen. Wenn der Bus keine Nummer vorne hat, und Sie nicht sicher sind ob es der richtige ist, wird das der Fahrer erkennen und eben langsamer fahren. Oder Sie warten auf den Nächsten mit Nummer. Ansonsten sind die Busse in Kysyl schon fast eine Reise an sich wert. Kleintransporter mit 10 Sitzplätzen, 7 Rubel pro Fahrt, und schnell. Und zwar richtig schnell. Je nach Situation ändern die Busse ihre Nummern und fahren dann andere Strecken. Alles vollkommen ohne digitale Hilfe, nur mit dem Gespür für die verdienstvollere Route. So fahren manchmal die 6'er und die 8'er Linie im Minutentakt, oder gleich hintereinander, nur um sich zwischen den Stationen wilde Jagden zu liefern. Noch nie habe ich einen Unfall mit einem Bus gesehen, vielleicht liegt es an der Vertrautheit der Fahrer zu ihren Maschinen, an den rigorosen Polizeikontrollen, die selbst volle Busse anhält und schaut ob die Papiere des Fahrers in Ordnung sind. Der Konduktor ist fast ausnahmslos unter 20 Jahren und beiderlei Geschlechtes. Beim Einsteigen gibt man den genauen Betrag von 7 Rubel ab, hat man kein kleines Geld gibt man halt was größeres. Geschickt wird das Wechselgeld bis zum Empfänger durch den Bus nachgereicht. Die Busse bleiben nur stehen, wenn jemand ein- oder aussteigen will. Also muss man, wenn man raus will, sich anderen anschließen oder selbst Initiative ergreifen und entweder Da, was soviel wie ja heißt, oder ctoite, halt, sagen. Wie das Einsteigen, kann auch das Aussteigen an jeder Stelle erfolgen. Die Stationen sind aber auch wichtig, da dort verschiedene Busse in die verschiedenen Richtungen abfahren.

Beim zentralen Busbahnhof in Kysyl muss man die Tickets vor der Fahrt kaufen, eine Fahrt nach Schaganar, etwa 100 km, kostet um die 22 Rubel. Ein oder zwei Tage vorher kaufen ist zu empfehlen. Die gleiche Strecke mit einem Taxi kostet etwa 120 Rubel, bei 4 Mitfahrern. Das geht aber nur mit Einheimischen, als Tourist kostet das 100 Dollar. Da herrschen Gesetze unter den Taxifahrern, die einen billigeren Transport nicht zulassen. 100 Dollar sind 3500 Rubel und meilenweit von den 600 Rubeln für Einheimische entfernt. Also entweder zahlen, oder mit dem Bus fahren. Bus fahren ist kein Fehler, auch wenn es langsamer als bei den Taxis zugeht. Dafür bekommt man direkten Kontakt mit den Einheimischen, und mehr Möglichkeiten die geniale Landschaft in Ruhe zu betrachten. Neben den großen ausnahmslos uralten Bussen gibt es die aus der Stadt bekannten Kleinbusse, die ebenfalls in entferntere Gebiete aufbrechen, preislich liegen die für 100 km bei etwa 70 Rubel. Auch gibt es die Möglichkeit einen privaten Fahrer zu organisieren, das kostet so etwa 1000 Rubel pro Tag plus Benzin.

Tuva

Die vier großen Städte in Tuva:
Ak-Dovyrak, Tschadan, Schaganar und Kysyl
Von links die Nachbarn: Republik Altai, Republik Chakasien, Region Krasnojarsk, Irkutsker Gebiet, Burjatien und im Süden die Mongolei.

Tuva ist eine Republik in der GUS, 170.000 Quadratkilometer groß, 300 000 Menschen aus drei Völkern leben dort, der Anteil der Russen liegt bei etwa 20 Prozent. Von Kysyl, in der Mitte des Landes, gehen einige Straßen in die verschiedenen Richtungen des Landes aus. Viele Gebiete sind nicht an das Straßennetz angeschlossen, und somit nur per Hubschrauber, Schiff oder mit dem Pferd zu erreichen. Die Geschichte von Tuva ist sehr alt, schon Dschingiskan soll vom Gesang begeistert gewesen sein, auch soll seine Frau eine Tuvanerin gewesen sein. Die Sprachen im Land sind türkischer Abstammung, allerdings seit 10 000 Jahren ohne direkten Bezug. Das Fallsystem kennt 7 Fälle: Nominativ, Genitiv, Dativ, den türkischen Akkusativ, Ablativ und Lokativ und den Direktive. Der Stein, des Steines, dem Stein, den Stein, von dem Stein, auf dem Stein, durch den Stein. Meine Bemühungen in tuwinischer Sprache habe ich zugunsten von Russisch komplett eingestellt. Ohne Lehrbuch und ohne Lehrer eine gewaltige Herausforderung, aber ich habe es versucht. Diese Versuche werden von der Menschen in Tuva sehr positiv gesehen und ich empfehle jedem wenigstens ein paar Brocken zu lernen, es macht sich tausendfach bezahlt. Das wichtigste in kürze:

Hallo - ekii, gut - eki,
Ich bin aus Deutschland - Germanii kelgen men.
Wie heißen Sie? - Adingar kimil?
Ich heiße Herbert - Meeng adimni Gerbert deer.
Ja -iie, Nein - tschok
Was ist das? - Bo tschül?
Sprechen Sie englisch? - Anglilep bilir ciler be?

Charakteristisch sind die Doppelvokale, die einfach doppelt so lange gesprochen werden, die Melodie und die fehlende Betonung in den Wörtern. Seit Anfang des letzten Jahrhunderts wird die Sprache in kyrillischen Buchstaben aufgeschrieben. Die drei zusätzlichen Buchstaben, zum russischen Alphabet, sind für uns keine Unbekannten: ng, ü und ö. Im Museum von Kysyl gibt es ein Phrase-Book für tuwinisch-englisch, mit dessen Hilfe kann man dann auch so wichtige Dinge wie, wie alt sind Sie, wie viele Kinder haben Sie usw nachschlagen und darauf zeigen, Spaß macht es auf jeden Fall, der Nutzen ist ein anderes Thema.

Tuva ist die Wiege des Jenesei, der kleine und der große Arm treffen in Kysyl zusammen. Mit etwa 4500 km ist es einer der größten Flüsse der Welt. Zwischen Ob und Lena, den beiden anderen riesigen Ströme in Sibirien, fließt er wie sie in das Nordmeer. 100 Flußkilometer hinter Kysyl beginnt der große Stausee, der auf 500 km Länge bis weit ins Nachbarland Chakasien hineinreicht. Flussaufwärts in die Quellgebiete zu reisen habe ich noch vor mir, darüber weiß ich noch nichts. Außer das dort Rehntierzüchter leben und viele heiße heilige Quellen sind. Im Westen von Tuva schmiegen sich die Berge des Altai schützend um das Land, Straßenverbindungen gibt es nur nach Norden in die Republik Chakasien. Tuva war über lange Zeit von der ganzen Welt vergessen, angesichts der Berge ist das auch kein Wunder.

Die Transsibirische Eisenbahn lässt Tuva rechts liegen und fährt fast 400 km weiter im Norden an Tuva vorbei. Erst die Russen haben in den 20'er Jahren eine Straße durch die Berge gesprengt. Diese Verbindung nach Abakan ist heute ganzjährig befahrbar und wird ständig repariert.
Der Zustand der Straßen ist gut bis sehr gut, solange man auf der Hauptstraße bleibt. Die Zufahrten in die Dörfer sind meistens nicht befestigt und passen sich den Gegebenheiten an. Bei Regen entstehen Seen und die Autos fahren außen herum. Auf dem Land gibt es oft mehrere Fahrspuren, die mit viel Gespür rechtzeitig gewechselt werden.

Bei Turan, 60 km von Kysyl Richtung Abakan, befinden sich die Gräber der Skythenherrscher von vor 3500 Jahren. In diesem Tal der Könige werden noch viele Gräber vermutet, die wissenschaftliche Erschließung ist wegen Geldproblemen aber auf einige wenige Fundstellen beschränkt. Im Moment werden die Funde in Petersburg restauriert und vielleicht dem tuwinischen Volk zurückgegeben. Sie erwarten das und haben schon mal ein neues Museum gebaut. Es ist fast fertig, und auch groß genug, um die Funde des größten Grabes der Skythen auszustellen. Das Grab ist bestimmt 30 Meter im Durchmesser, es wurde Gold in allen möglichen Variationen gefunden. Leider sind die ersten Kilogramm verschwunden, man vermutet eingeschmolzen. Hemden aus hunderten Goldplättchen, jeweils mit einem anderen Motiv, Halsringe, Haarspangen, Waffen und vieles mehr. Im Museum in Kysyl sind Fotos ausgestellt, die eine kleine Vorstellung dessen vermitteln.

Chömei, Kehlkopfgesang, Baßgesang. Wer das schon einmal gehört hat, weiß was es ist. Wer es noch nicht gehört hat tut gut daran, sich es einmal anzuhören. Da singt ein Mensch alleine zu zweit.

Der Druck im Kehlbereich und im Kopfbereich ist zu sehen, und dann ertönen feine Töne in luftigen Höhen, pulsierend wie der Galopp eines Pferdes, oder schwebend wie ein Korschun (roter Milan). Natur und dieser Gesang verbindet sich, wird eins, Du wirst eins, schließe die Augen und sei auch Du ein Pferd oder ein Adler. Spüre den Wind der dich trägt, sei das Blatt. Seit ich vor über 10 Jahren zum ersten Mal diesen Gesang gehört habe bin ich ein Anderer geworden. Ruhiger, zufriedener. Die Melodien sind für mich wie Botschaften aus einer anderen Welt, zwar bekannt aber lange Zeit vergessen. Mit jedem Puls der Musik tauchen Bilder auf, fühle ich mein Herz sich öffnen und lauschen. Ohne Notenkenntnisse, nur durch mündliche Überlieferung, wird überall in Tuva der Chömei gepflegt. Mit der Pferdekopfgeige Igil oder der Banjo-artigen Doschpulur, begleiten sich die Musiker oft selbst. Schon Kinder stehen auf der Bühne und schmettern ihre Gesänge gegen die allgegenwärtige Jury. Jeder Wettstreit hat Sieger, und die werden geehrt, und zwar in jeder Kategorie. Der jüngste und der älteste, oder der am weitesten angereiste hat prinzipiell gute Chancen auf eine Ehrung. Ansonsten gewinnt nur die beste Darbietung.

Das Klima ist kontinental. Heiße Sommer - kalte Winter, und immer schön trocken. Tuva hat 300 Sonnentage im Jahr, nur im Juni und Juli regnet es ein paar mal öfter als sonst. Aber bei 35-40 Grad sind die Straßen nach 10 Minuten wieder trocken und der Regen nur noch Vergangenheit. Der kurze Sommer wird von einem Winter abgelöst, der sich sehen lassen kann. Im Dezember und Januar fällt das Thermometer schon mal auf 50 Grad unter 0, die Schulen haben ab -44 Grad Kältefrei. Für Europäer ist das kein Spaß und sogar gefährlich, da die Lungenbläschen gefrieren können und man qualvoll erstickt. Aber bei einem längeren Aufenthalt ist auch das kein Problem, der Körper stellt sich darauf ein. Heute meldet Tomsk einen neuen Rekordwert: Seit hundert Jahren der kälteste 13. Januar mit -40,8 Grad. In Jakutsk ist es seit Wochen unter -45 und keiner meckert. In meiner Heimat in Bayern war 1929 der kälteste Winter seit der Aufzeichnung, der Spitzenwert lag damals bei -40 Grad. Zum Kennenlernen ist Sibirien auf jeden Fall im Sommer (Juni und Juli) zu bevorzugen, später kann man sich ja den Winter auch noch ansehen. Aber nicht vergessen, denn was ist denn Sibirien ohne Winter. Unsere Klischees über Sibirien kennen nur den Winter.

Fortsetzung folgt!

Teil 1: https://steemit.com/travel/@schamangerbert/reisebericht-sibirien-sommer-2004-2005-und-winter-2006-teil-1

Erstveröffentlichung/Initial release by @schamangerbert feb/06/2017

100 % Steem Power Post

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Sehr interessanter Reisebericht, schamangerbert. Klasse! Bei derBeschreibung der Musik wird er sogar richtig gefühlvoll. Es liest sich, als wärst Du alleine gereist. Respekt.

@afrog Ja, ich bin alleine gereist, beim ersten Mal für 7 Wochen, das war die beste Reise meines Lebens. Ich habe hunderte von Dias, aber leider nicht digital aufbereitet.

Hast Du keinen Diascanner? Das würde sich bestimmt lohnen. Die Dinger kosten doch so gut wie nichts mehr.
Mann, alleine nach Sibirien, Das ist schon ein Hammer!

Diascanner wird die Tage gekauft! Wäre ich nie darauf gekommen :)
Ich hatte eine alte Leica mit 64'er Farbfilm dabei.

Habe noch einen Diascanner rumstehen. Falls Du in München/Umgebung wohnst, könnte ich den Dir ausleihen.

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