Zitate 115 - Antonio Gramsci - Sotto la Mole 1916

in #deutsch6 years ago (edited)

27. Januar 2019

Diese Woche begegnete mir ein vielsagendes, angebliches Zitat des italienischen Revolutionärs Antonio Gramsci (1891-1937) [1] in dessen englischer Übersetzung [2, 3]:

Socialism is the precisely the religion that must overwhelm Christianity. (...) In the new order, Socialism will triumph by first capturing the culture via infiltration of schools, universities, churches and the media by transforming the consciousness of society.

Der Sozialismus ist präzise die Religion, die das Christentum überwältigen muss. (...) In der neuen Ordnung wird der Sozialismus zuerst durch die Eroberung der Kultur triumphieren, über die Infiltration von Schulen, Universitäten, Kirchen und der Medien, indem man das Bewusstsein der Gesellschaft verwandelt.

Porträt Antonio Gramscis ungefähr im Alter von 30 Jahren [13].

Da wie so oft keine Referenz für das Zitat gegeben wurde, die dessen Herkunft belegte, machte ich mich auf die Suche nach derselben. Wenigstens auf der zweiten Seite mit gesammelten Zitaten [3] wurde die Jahrzahl 1915 gegeben, was erst einmal klar machte, dass ich nicht in Gramscis berühmten Gefängnisheften [4] nach dem Zitat suchen sollte. Gramsci wurde 1926 von den damals in Italien herrschenden Faschisten um den Führer - Italienisch Duce - Benito Mussolini (1883-1945) [5] verhaftet. Bis zu seinem Tod 1937 blieb er trotz seines Leidens an schweren Krankheiten inhaftiert.

Wenigstens für den ersten Teil des Zitats fanden sich englischsprachige Bücher [6, 7], die es enthielten, allerdings mit einem anderen Ende.

Socialism is the precisely the religion that must overwhelm Christianity. [Socialism is] religion in the sense that it too is a faith with its mystics and rituals; religion because it has substituted for the consciousness of the transcendental God of the Catholics, the faith in man and in his great strengths as a unique spiritual reality.

Der Sozialismus ist präzise die Religion, die das Christentum überwältigen muss. Der Sozialismus ist eine Religion in dem Sinne, dass er auch ein Glaube mit seinen Mystikern und Ritualen ist; er ist eine Religion, weil er das Bewusstsein des transzendentalen Gottes der Katholiken durch den Glauben an den Menschen und an dessen grossartige Kräfte als einzigartige geistige Realität ersetzt hat.

Das eine Buch [7] ist bei Google-Books soweit zugänglich, dass man Zitat und Referenz [8] dafür bekommt. Doch dieses Werk ist im Gegensatz zum italienischen nicht online zugänglich. In eines der erstgenannten Bücher, jenes des italienischen Historikers Emilio Gentile (geboren 1946) [9] Politics as Religion ist in seiner ersten Ausgabe in italienischer Sprache erschienen. Unter dem Titel Le religioni della politica. Fra democrazie e totalitarismi [10] - Deutsch Die Religionen der Politik. Zwischen Demokratien und Totalitarismus. In dieses konnte ich Einsicht nehmen und mit meinen nicht besonders ausgereiften Italienischkenntnissen lesen:

Il socialismo «è precisamente la religione che deve ammazzare il cristianesimo. Religione nel senso che è anch'esso una fede, che ha i suoi mistici e i suoi pratici; re­ligione perché ha sostituito nelle coscienze al Dio trascen­dentale dei cattolici la fiducia dell'uomo e nelle sue energie migliori come unica realtà spirituale».

Dieses Zitat wiederum fand sich im Text Audacia e Fede - Deutsch Kühnheit und Glaube - vom 22. Mai 1916 [11]. Dieser ist als Teil der Rubrik Sotto la Mole - Deutsch Unter der Masse - die in der Turiner Ausgabe der Zeitung Avanti! - Deutsch Vorwärts! - erschienen. Dort steht:

L'augurio che conclude la cicalata innocente è la prova migliore della incomprensione di questo giovinotto: il socialismo dovrebbe diventare cristiano. Ciò che sarebbe lo stesso che dire: il quadrato dovrebbe diventare triangolo.
Perché tutta questa gente non si è accorta, essa che a proposito, e piú spesso a sproposito, parla di valori spirituali, che il socialismo è precisamente la religione che deve ammazzare il cristianesimo.
Religione nel senso che è anch'esso una fede, che ha i suoi mistici e i suoi pratici; religione, perché ha sostituito nelle coscienze al Dio trascendentale dei cattolici la fiducia nell'uomo e nelle sue energie migliori come unica realtà spirituale. Il nostro evangelo è la filosofia moderna, cari amici del Savonarola, quella che fa a meno dell'ipotesi di Dio nella visione dell'universo, quella che solo nella storia pone le sue fondamenta, nella storia, di cui noi siamo le creature per il passato e i creatori per l'avvenire.

Mein Versuch einer Übersetzung mit Hilfe des Übersetzungsprogramms deepl.com, welche ich aber dennoch entscheidend korrigieren musste:
Der Wunsch, der dieses unschuldige Geschwätz abschliesst, ist der beste Beweis für das Missverständnis dieses jungen Mannes: Der Sozialismus sollte christlich werden. Das wäre etwa das gleiche wie zu sagen: Das Quadrat sollte zu einem Dreieck werden.
Weil all diese Menschen, die im übrigen und meistens unangebracht von spirituellen Werten sprechen, nicht bemerkt haben, dass der Sozialismus genau die Religion ist, die das Christentum überwältigen muss.
Eine Religion in dem Sinne, dass er auch ein Glaube mit seinen Mystikern und Ritualen ist; er ist eine Religion, weil er das Bewusstsein des transzendentalen Gottes der Katholiken durch den Glauben an den Menschen und an dessen grossartige Kräfte als einzigartige geistige Realität ersetzt hat. Unser Evangelium ist die moderne Philosophie, liebe Freunde von Savonarola, die ohne die Hypothese Gottes in der Vision des Universums auskommt, die nur in der Geschichte ihre Grundlagen legt, in der Geschichte, von der wir die Geschöpfe der Vergangenheit und die Schöpfer der Zukunft sind.


Dennoch, für den zweiten Teil des angeblichen Zitats, den ich unten noch einmal erwähne, fand ich kein italienisches Original, vor allem gibt es den Inhalt nicht in der selben Veröffentlichung. Es wird zwar durch (...) ein Abstand zwischen den beiden Aussagen angedeutet, aber es ist kein Hinweis gegeben, dass es sich um verschiedene Publikationen handelt.

In the new order, Socialism will triumph by first capturing the culture via infiltration of schools, universities, churches and the media by transforming the consciousness of society.

In der neuen Ordnung wird der Sozialismus zuerst durch die Eroberung der Kultur triumphieren, über die Infiltration von Schulen, Universitäten, Kirchen und der Medien, indem man das Bewusstsein der Gesellschaft verwandelt.

Gerade deswegen bin ich sehr vorsichtig bei der Wiedergabe von Zitaten, bei denen ich keinen Zugang zum Original habe. In dem englischsprachigen, angeblichen Zitat, das in Zitatelisten geführt wird, werden wie es aussieht Zitate gerne nach gerade vorhandenem Wunschdenken gebastelt werden. Ich bin der Ansicht, dass man sich mit dieser Bastelei keinerlei Gefallen tut, sondern sich im Gegenteil sehr einfach als unsauber entlarven kann. Gerade weil heute mehr Texte denn je im Internet einsehbar sind.

Mit weiterer Recherche wurde ich in einem Buch fündig, in welchem das Zitat als Phantom bezeichnet wird. Es handelt sich um Gramsci globale: guida pratica alle interpretazioni di Gramsci nel mondo [12] - Deutsch Gramsci global: Praktische Anleitung zu den Interpretationen von Gramsci weltweit - von Michele Filippini. Auch dieses ist bei Google-Books teilweise einsehbar.


[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Antonio_Gramsci
https://en.wikipedia.org/wiki/Antonio_Gramsci
https://it.wikipedia.org/wiki/Antonio_Gramsci
[2] https://www.azquotes.com/quote/657043
[3] http://libertytree.ca/quotes/Antonio.Gramsci.Quote.E447
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Gefängnishefte
https://en.wikipedia.org/wiki/Prison_Notebooks
https://en.wikipedia.org/wiki/Prison_Notebooks
[5] https://de.wikipedia.org/wiki/Benito_Mussolini
https://en.wikipedia.org/wiki/Benito_Mussolini
https://it.wikipedia.org/wiki/Benito_Mussolini
[6] Politics as Religion. Emilio Gentile, 2006, Princeton University Press. Amazon: https://www.amazon.com/dp/0691113939/ref=cm_sw_r_tw_dp_U_x_IRItCb2Y6Y2D2
[7] Totalitarian Societies and Democratic Transition: Essays in memory of Victor Zaslavsky. Vladislav Zubok, 2017, p 87-88
[8] Cronache Torinesi. Antonio Gramsci (Turin: Einaudi, 1980), page 329. English translation in Gramsci's Political Thought: Hegemony, Consciousness and the Revolutionary Process. J. V. Femia, 1981, New York: Clarendon Press.
[9] https://de.wikipedia.org/wiki/Emilio_Gentile
https://en.wikipedia.org/wiki/Emilio_Gentile
https://it.wikipedia.org/wiki/Emilio_Gentile
[10] Le religioni della politica. Fra democrazie e totalitarismi. Emilio Gentile, 2001, 2007, Gius. Laterza & Figli, pagina 48. Amazon: https://www.amazon.com/dp/B00QVD9ILC/ref=cm_sw_r_tw_dp_U_x_sSItCbM92KTSQ
[11] Sotto la mole 1916-1920. Antonio Gramsci, Audacia e Fede, pagine 215-217 http://www.abruzzoinmostra.it/letteratura/gramsci_12/sotto-la-mole-1916-1920-di-antonio-gramsci-pagt0216.htm
[12] Gramsci globale: guida pratica alle interpretazioni di Gramsci nel mondo. Michele Filippini, 2011, Odoya, pagina 163. Amazon: https://www.amazon.de/dp/8862880855/ref=cm_sw_r_tw_dp_U_x_JsJtCbGQ91TR0
[13] Porträt mit unbekanntem Urheber. Da es aus den frühen 1920er Jahren stammt, ist wahrscheinlich, dass der Urheber bereits seit 70 Jahren tot ist und das Bild gemeinfrei. Gefunden wurde es unter [1].


Bisherige Posts in der Rubrik «Zitate».
Übersicht über alle Rubriken.

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Ich habe ein bißchen herumgegoogelt und den zweiten Teil auf italienisch überhaupt nicht gefunden, nichtmal als Fake.
Z.B. mit Suchen wie:
"antonio gramsci infiltrare scuole"

Fantastische Arbeit! Grazie!

Danke für den Kommentar und gerne!

Hätte ich Filippinis Buch Gramsci globale [12] gleich gefunden gehabt, wäre die Sache ohne längere Recherche schneller durch gewesen. So habe ich mal wieder gesehen, wie gerne Zitate mit Wunschdenken angereichert verbreitet werden, gerade auch wenn noch eine Sprachbarriere existiert.

Mich regen diese Unsauberkeiten dennoch auf, ich halte sie für unnötig und schädlich. So kommt man auch kaum um langwierige Überprüfungen herum. Von Gramsci gibt es sicher genug beispielhafte Zitate, die man völlig unverfälscht wiedergeben kann. Gerade auch die Passage, in der "il socialismo è precisamente la religione che deve ammazzare il cristianesimo" steht, ist interessant genug mit ihrem tatsächlichen Inhalt.

Mit Italienisch habe ich auch nicht so grosse Schwierigkeiten, wie vielleicht im Text oben gesagt. Ich habe es ein wenig im Ohr, weil ich schon ein paar Mal mit Tessinern und Norditalienern Musik gemacht habe. Und ich hatte auch mal Latein, nur richtig gelernt habe ich Italienisch nie. So kann ich jeweils der Spur nach folgen, mit einigen Missverständnissen.

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