Ideologie 050 - Zur Wahl gehen bringt wirklich nichts? GroKo und Jamaika inexistent!

in #deutsch7 years ago (edited)

20. November 2017

Schon mehrfach wurde ich im Internet in Diskussionen verwickelt, in denen es über den Sinn und Zweck von Wahlen im politischen System der Demokratie ging und an der bürgerlichen Teilnahme an solchen. Meine Position ist eindeutig pro Teilnahme an Wahlen. Warum habe ich schon öfter erklärt. Aus meiner Sicht ist man als Staatsbürger auf vielen Ebenen zur Kooperation mit staatlichen Organen und Institutionen gezwungen, dass man die Teilnahme an Wahlen oder Abstimmungen nicht glaubwürdig als das ausschlaggebende Signal für Unterwürfigkeit oder 'Kapitulation vor dem System' ausmachen und bewerben kann.

Vom ehemaligen Hedgefondsmanager und skrupellosen Investmentspekulant Florian Homm [1] sind mir aktuelle Zitate bekannt. Er hat es ähnlich formuliert, obwohl er das nicht gerade auf einem sprachlich hochstehenden Level tat. Ich nehme Aussagen von Leuten aus dem Investmentbereich immer wieder gerne zur Kenntnis, da gerade die Stars darin über ein besonderes Verständnis von Mechanismen, Abläufen und Strategien verfügen. Ein Bereich, der in der Öffentlichkeit kaum je zum Thema gemacht wird, aber für persönlichen Erfolg entscheidend wichtig. Florian Homm hat folgendes in einem Gespräch mit Heiko Schrang und Thorsten Schulte geäussert [2]:

(4:40)

«Gar nicht wählen geht gar nicht. Auch wenn es um das kleinere Übel geht. Wahlverzicht ist Demokratieverlust, auf keinen Fall. Wenn dann Sachen eintreten, die man nicht will, muss man sich an die eigene Nase greifen.»

(7:04)

«Der Markt sucht alternative Informationen, sonst gäbe es uns nicht. Wenn er transparent und agil wäre. (...) Man hat wenigstens den Informationsfluss und die anderen Sichtweisen. Je weniger davon, desto weniger Demokratie. Es ist kindisch, Leute anzugreifen und zu vermöbeln, die anderer Meinung sind. Das ist Faschismus.»

(47:19)

«Das (Buch Kontrollverlust, von Thorsten Schulte) kann auch Demokrativerlust heissen. Wenn wir uns da nicht dagegen äussern, (ist alles vorbei, Ergänzung). Wir kriegen sie nicht zurück!»


Nach dieser Einleitung will ich aber auf das Ereignis des gestrigen 19. Novembers 2017 zu sprechen kommen. Es wurde in Deutschland nicht nur der Volkstrauertag [3] begangen, sondern es sollte auch die Einigung über die neue Regierungskoalition auf Bundesebene verkündet werden.

Doch es kam anders. Die Freie Demokratische Partei (FDP) sah sich aus meiner Sicht zu Recht nicht ausreichend berücksichtigt und erklärte das Experiment vor seiner Vollendung für beendet [4]. Der Parteivorsitzende Christian Lindner legte die umstrittenen Punkte in einer kurzen, zumindest mich überzeugenden Stellungnahme dar [5]:

Die FDP kam erst bei der Bundestagswahl 2017 zurück in das Bundesparlament und sollte deswegen sehr darauf bedacht sein, sich selbst nicht bis zur Unkenntlichkeit zu verraten. Die über die letzten mindestens 10 Jahre sozialdemokratisierte Union aus CDU und CSU und das Bündnis 90 / die Grünen hatten dieses Problem etwas weniger, obwohl die CDU/CSU viele Wähler an die Partei Alternative für Deutschland (AfD) abgeben musste. Sieht man sich an, wie in vielen Medienerzeugnissen des Mainstreams AfD-Wähler oder dieser Partei nahestehende Menschen niedergeschrieben oder -geredet werden, muss man zum Schluss kommen, dass diese entbehrlich seien. Doch dem ist nicht so, jede Wählerstimme zählt einfach, es kann den Parteien vollkommen egal sein, was die Menschen privat denken, solange sie bei ihnen das Kreuz setzen.

In Deutschland haben bei der Bundestagswahl im September 2017 12,6 % der Wähler der AfD die Stimme gegeben, 10,7 % der FDP und 32,9 % der CDU/CSU. Ich habe zeitnah eine Analyse veröffentlicht [6]. Bei den Mandaten ergeben sich 418 von 709 für Parteien, die in ihrem Kern als bürgerlich-konservativ oder klassisch liberal gelten oder einmal gegolten haben. Das sind 59,0 % der Mandate. Die linken Parteien SPD, Linke und Grüne stehen bei nur noch 289 Mandaten, 40,8 %. Die übrigen beiden Mandate gehören den beiden fraktionslosen, ehemaligen AfD-Mitgliedern, die ich deswegen nicht als links stehend zähle.

In Konsequenz haben das Wiedererstarken der FDP und die Etablierung der AfD dafür gesagt, dass die Grosse Koalition von CDU/CSU zu Fall kam, auch wenn sie mathematisch noch immer eindeutig möglich wäre, mit 399 von 709 Sitzen, 56,3 %. Darüber hinaus kam es dazu, dass die einzige für möglich gehaltene Alternative aus CDU/CSU, Grünen und FDP, auch Jamaika genannt, auch nicht zustande gekommen ist.

Knapp zwei Monate nach der Wahl gibt es nicht mehr viele Auswege. Die Reaktivierung der grossen Koalition würde die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) unglaubwürdig machen. Die Zerfallszeit der von der SPD erklärten Aufkündigung wäre mit lediglich ein paar Monaten sehr gering. Es gäbe die Möglichkeit für Neuwahlen, hinter denen grosse Fragezeichen stünden. Denn, es ist nicht klar, ob die SPD an Glaubwürdigkeit gewinnen konnte, wie das Scheitern der Regierungsverhandlungen in der Bevölkerung angekommen ist und ob die AfD mit ihren noch immer eher begrenzten Ressourcen noch einmal einen grossen Wahlkampf durchführen könnte. Eine dritte Alternative wären Minderheitsregierungen. Die Union mit den Grünen wäre für mich schwer vorstellbar, da es in dieser Zusammensetzung wohl besonders schwer wäre, die oppositionellen Kräfte auf rechter, linker und freiheitlicher Seite für Inhalte zu gewinnen. Eine zweite Variante wäre eine Minderheitsregierung von Union und FDP. Vonseiten der AfD-Fraktionsspitze, Alice Weidel, wurde vor kurzem in einem Interview mit der Jungen Freiheit [7] gesagt, man wäre sehr wahrscheinlich bereit, eine solche Regierung zu tolerieren und damit mehrheitlich zu unterstützen. Unter der 'klitzekleinen' Bedingung, dass die seit drei Legislaturen als Bundeskanzlerin amtierende Frau Merkel nicht an der Spitze stehen darf.

Diese Aussage fand ich persönlich sehr interessant, da sie erstens von strategischem Verständnis zeugt, aber auch von Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein. Für mediale Erzeugnisse des Mainstreams liegt der Vorschlag eher ausserhalb der Vorstellungskraft und wurde etwa beim Focus mit dem Adjektiv 'aberwitzig' bedacht [8]. Frau Weidel dürfte das nicht weiter kümmern.


Es ist eine Tatsache, dass die Bundeskanzlerin und die Vorherrschaft der CDU/CSU noch nicht gefallen sind. Aber ihre Situation hat sich objektiv sehr verschlechtert. Ein strahlendes Abtreten unter grosser Dankbarkeit, Freude und Begeisterung wird es für Angela Merkel kaum mehr geben. Mit dem Ende der letzten Legislaturperiode wurde der wohl letzte für so etwas mögliche Zeitpunkt verpasst.


[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Florian_Homm
[2] INSIDER PACKEN AUS : Bestsellerautor Thorsten Schulte u. Börsenlegende Florian Homm im Gespräch. SchrangTV YouTube Kanal, 23. Oktober 2017
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Volkstrauertag
[4] Ende von Jamaika - Lindner liest Botschaft mit zitternden Händen. 20min.ch, 20. November 2017 http://www.20min.ch/ausland/news/story/Lindner-liest-Botschaft-mit-zitternden-Haenden-15037626
[5] FDP beendet Jamaika-Sondierungen - Statement von Christian Lindner. Phoenix TV, abgerufen bei HSM2k2 YouTube Kanal, 19. November 2017
[6] Politik 042 - Bundestagswahl 2017, Analyse. @saamychristen, 25. September 2017 https://steemit.com/deutsch/@saamychristen/politik-042-bundestagswahl-2017-analyse
[7] Ein Blick in die neue AfD-Fraktion - Christian Vollradt trifft Alice Weidel. Junge Freiheit Verlag YouTube Kanal, 13. November 2017, Gespräch geführt von Christian Vollradt
[8] Falls Jamaika-Sondierungen scheitern - Weidel aberwitzig: AfD würde schwarz-gelbe Minderheitsregierung tolerieren - ohne Merkel. Focus.de, 10. November 2017 http://www.focus.de/politik/videos/falls-jamaika-sondierungen-scheitern-weidel-aberwitzig-afd-wuerde-schwarz-gelbe-minderheitsregierung-tolerieren-ohne-merkel_id_7832196.html


Bisherige Posts in der Rubrik «Ideologie».
Übersicht über alle Rubriken.

Sort:  

Unterhaltsam ist das Schauspiel allemal. Die Aufkündigung des gesellschaftlichen Mindestkonsenses während der letzten Legislaturperiode durch die große Koalition und die Umwandlung des Bundestags in die Volkskammer zeigt nun Konsequenzen.

Danke für den Kommentar!
Es ist unterhaltsam. Das Wahlergebnis und die gescheiterten Sondierungsgespräche zeigen, dass die Etablierten bei weitem nicht diese Allweisen sind, als die sie sich mindestens implizit gerne sehen. Sie haben in beiden Prozessen nicht brilliert.
Die Degradierung zur Volkskammer ist ein ganz grosses Problem, weil sie der eigentliche Wegbereiter für die recht chaotischen Schwenks der Regierung in letzter Zeit waren. Ausnahmen waren lediglich die Trends zu mehr Zentralisierung und Planwirtschaft.

So weit alles richtig. Was wir allerdings nicht kennen, sind die Hintergedanken der entscheidenden Player. Alles nur Taktik? Und dann kommt es plötzlich doch anders? Will sich die FDP nunmehr als "wählbare" AfD positionieren? Fragen über Fragen.
Es könnte jetzt aber auch die Stunde der gewählten Parlamentarier sein, indem sie sich freihändig Mehrheiten für einzelne Projekte suchen. Beispielsweise könnte man den "Soli" mit einer einfachen Abstimmung im Bundestag abschaffen. Dafür braucht niemand eine Regierung.

Wenn Merkel fällt, bleibt in der CDU kein Stein mehr auf dem anderen. Ihre Wasserträger Kauder, Altmaier, Flintenuschi und Co werden dann ebenfalls abgeräumt.
In Deutschland gibt es die Vokabel "Kanzlerdämmerung". Die hat nun begonnen. Aber es sieht nach einem langen Todeskampf aus.

Danke für den Kommentar!

Mein heutiger Artikel ist auch eher eine spontane Sache, da ich von den Vorkommnissen gestern Abend doch eher überrascht war. Das erschien mir als Gelegenheit, mal wieder einen Kommentar zur deutschen Politik zu veröffentlichen.

Über die im Hintergrund zusammengedachten Strategien weiss ich definitiv nicht Bescheid, auch bei der AfD nicht. Dass es durch die gestrige Aktion der FDP spannender wird, fällt auch jemandem wie mir auf.

Es wäre tatsächlich eine gute Gelegenheit, jetzt ohne Regierung im Parlament aktiv zu werden und Reformen ohne neue Exekutive auf den Weg zu bringen. Die Abschaffung alter Effizienzbremsen wie den Solidaritätszuschlag könnte so möglich sein. Vor allem mit einer bürgerlichen Mehrheit.

Ich bin gespannt, wie es mit der Kanzlerdämmerung weitergehen wird. Sie dürfte alternativlos sein... ;-)

Die schlauesten waren da immer noch die SPD und gingen sofort in die Opposition.

Naja ich halte net viel von diesem Europäischen - "Deutschen" Politteater...

Cool wäre wenn die Blockchain irgendwie dass in Zukunft übernimmt. Wäre ehrich , und direkte Demokratie wäre da sicher auch machbar.

sorry ... vernanalyse aus Italy (südtirol)

Danke für den Kommentar!

Ich mache auch externe Analyse, aus der Schweiz, grenznah zu Deutschland. Einige Zeit habe ich mich mit dem 'Polittheater' beschäftigt und zu den folgenden Schlüssen gekommen:

  1. Ja, es ist ein Theater
  2. Einige Beschlüsse und Tendenzen sind schon in einem Masse relevant, dass man sich nicht ganz aus Sache verabschieden sollte.

Die Blockchain ist eine neue Erfindung, deren Möglichkeiten sicherlich gross sind, aber noch nicht erschöpfend erforscht. Die wirklichen Anwendungen laufen gerade erst an.

good post dear......

Thank you for the upvote and the short comment!

Very interesting, good post and I like, hopefully the next post better with a more perfect idea. follow me @pn09s, Upvote and give a positive comment for me.

https://steemit.com/colorchallenge/@pn09s/colorchallenge-sunday-purple-lifepurple-20171120t155250543z

This post is not about ideas, it is about political and ideological analysis in German language. I consider such comments as unnecessary spam which I flag if repeated.

Coin Marketplace

STEEM 0.20
TRX 0.12
JST 0.029
BTC 61399.54
ETH 3383.74
USDT 1.00
SBD 2.50