Geographie 004 - Der Aralsee II

in #deutsch7 years ago (edited)

23. Mai 2017

Bereits am 1. April diesen Jahres habe ich einen Artikel über den Aralsee [1, 2] veröffentlicht und einige Punkte dargelegt, die in der Region Tiefland von Turan [3] für eine beispiellose Umwandlung der Natur gesorgt haben, leider nicht in dem Sinne, wie es die Architekten der Bewässerungspläne eigentlich vorgesehen und geplant hatten. Das Projekt, in dieser Region grosse Flächen zu bewässern, war eines derer, die unter der Zielsetzung Grosse Transformation der Natur (великое преобразование природы, velikoye preobrazovaniye prirody) [4] bekannt wurden. Im Tiefland von Turan wurde damit bereits in den 1940er Jahren begonnen.

Die Zielsetzung in der Sowjetunion, Gebiete in ihren südlichen Lagen fruchtbar zu machen, war eine sehr nachvollziehbare. Auch wenn sich im europäischen Südrussland und der Ukraine sehr fruchtbare Schwarzerdeböden [5] befinden, war die Versorgungslage nicht immer ganz einfach. Noch in den Jahren 1946-47 starben in der Sowjetunion wegen einer Hungersnot zwischen 0,5 und einer Million Menschen [6]. Die weit östlich und südöstlich gelegenen Gebiete sind vom fruchtbareren Westen weit entfernt und die Logistik schon deswegen problematisch. Weswegen eine Verbesserung der Versorgungslage sehr erwünscht war. Mit dem Projekt der grossangelegten Bewässerung wurde mindestens temporär eine geographische Diversifizierung der landwirtschaftlichen Produktion erreicht.

Bereits in den 1960er Jahren dürfte den Erbauern des gigantischen Bewässerungssystems rund um den Aralsee klar geworden sein, dass die Massenbilanz des Sees negativ geworden war und er deswegen unweigerlich an Wasser verlieren muss, was sich bis zur vollständigen Austrocknung weiter Teile des Sees über die folgenden Jahrzehnte bewahrheitet. Unter [2] wird die jährliche Verdunstung im Aralsee alter Grösse mit 70 km3 / Jahr angegeben, wovon damals 60 km3 / Jahr durch Zufluss und 9 km3 durch Niederschläge im Aralsee ankamen. Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts sank der Zufluss um mehr als 70 % auf etwa 16 km3 jährlich. Es fehlen pro Jahr etwa 40 km3, was pro Sekunde etwa 1'300 m3 ausmacht. Eine Zahl, die etwa der mittleren Abflussmenge des oberen Mittelrheins bei Speyer entspricht.

Eine Verbesserung hätte eventuell durch ein neues Grossprojekt realisiert werden können, welches als Dawydow-Plan [7] bekannt wurde. Durch dieses wäre Wasser von den sibirischen Flüssen Ob und Irtysch ins Tiefland von Turan umgeleitet worden. Dazu wäre aber die Erstellung eines gigantischen Netzes an Stauseen von der Fläche Westdeutschlands nötig gewesen, nicht abschätzbare Konsequenzen für die Umwelt wären auch dort in grossem Umfang zu erwarten gewesen. Nicht zuletzt wegen negativer Erfahrungen mit unerwünschten Auswirkungen von Grossprojekten wurde dieses 1986 definitiv begraben.

Dawydow-Plan.jpg
Zeichnerische Darstellung des Dawydow-Plans auf Grundlage einer Illustration in "Rund um die Erde" (Der Kinderbuchverlag Berlin - DDR 1970 Lizenz-Nr. 304-270/346/79-(113)) [8].

Auf eine andere Art und Weise wäre es aber auch möglich gewesen, den Wasserverbrauch für die Bewässerung substantiell zu senken. Nämlich durch Effizienzsteigerung bei der Bewässerung und vor allem der Kanalinfrastruktur. Diese wurde, wie ich vermute, nicht mit besonderer Sorgfalt erstellt, sondern nicht zuletzt mit der Absicht, das Grossprojekt rasch zum Funktionieren zu bringen. Dazu kam das sozialistische Wirtschaftssystem ohne ehrliche Preise, so dass über die Zeit kaum Unterhaltsarbeiten geleistet wurden und der Anreiz zu einer hohen Effizienz nie wirklich bestand.

Gemäss der englischsprachigen Wikipedia-Seite des Aralsees (Quelle nicht bestätigt), sind im südlichen Usbekistan gerade einmal 12 % der bestehenden Bewässerungskanäle abgedichtet und gegen das Versickern von substantiellen Wassermengen geschützt. Zwischen den Farmen bestehen 47'750 km an Kanälen, von denen etwa 28 % (13'370 km) gegen Versickerung geschützt sind. Von den Kanälen auf den Farmen selber, etwa 268'500 km, sind etwa 21 % (56'400 km) entsprechend ausgestattet. Von dem sehr langen Karakum-Kanal, der Wasser vom usbekischen Amu Darya weit nach Turkmenistan führt, wird an derselben Stelle gesagt, dass zwischen 30 und 75 % des einfliessenden Wassers nicht produktiv genutzt werden könne.

Im Norden des Aralsees, wurde seit den 1990er Jahren versucht, mit dem Kokaral-Damm [9] zwischen dem Nord- und dem Südteil den nördlichen Teil des Sees zu retten, was bisher auch gelungen ist. Der Damm ist rund 10 km lang und sein Überlauf befindet sich auf einer Höhe von 42 Metern über dem Meeresspiegel, was in etwa dem Seespiegel von 1983 entspricht. Das Land Kasachstan, zu welchem dieser nördliche Teil gehört, hat auch damit begonnen, die vom nördlichen Zufluss Syr Darja abgezweigten Bewässerungskanäle zu modernisieren. Für das Dammprojekt erhielt es Mittel von der Weltbank. Zunächst wurde die Massnahme vom südlich gelegenen Usbekistan als kasachischen Egoismus gewertet, anfang diesen Jahres wurde von usbekischer Seite aber mindestens die Absicht kundgetan, man wolle selber einige Milliarden in Infrastrukturprojekte investieren.

Gesundheit der Menschen im Tiefland von Turan heute

Mit der Austrockung des Aralsees traten eine Reihe von ökologischen Sünden wieder ans Tageslicht. Eigentlich ist für ein Regime ein abflussloser See im Inland eine gute Möglichkeit, umweltschädliche Dinge zu entsorgen, die entweder wasserlöslich sind oder sich am Seeboden ansammeln. Für Substanzen, die sich in der Biosphäre akkumulieren, wie es etwa mit Schwermetallen in Fettgeweben geschieht, ist es weniger sinnvoll, wenn Menschen diesem Gewässer Tiere zum Verzehr entnehmen. Ganz schlecht, um Verschmutzungen langfristig zu kaschieren, ist eine Austrocknung des Gewässers.

Der Aralsee hat seit Beginn der intensiven Landwirtschaft einiges an Abfällen und Giftstoffen aufnehmen müssen. Zunächst bemerkbar bei der Austrocknung eines abflusslosen Sees macht sich in der Regel die Versalzung, die es auch beim Aralsee gibt. Eine vollständige Austrockung ist nur schon deswegen gefährlich, da der dort oft stark wehende Nord- und Südwind damit Salz auf die Felder weht und deren Fruchtbarkeit absenkt. Wie es in der Mitte des 20. Jahrhunderts üblich war, wurden in grossen Mengen Düngemittel, Herbizide und Pestizide eingesetzt, deren Abbaustoffe in der Salz- und Staubwüste zurückgeblieben waren. Dazu kommen andere, teilweise hoch gesundheitsgefährdende Schadstoffe.

Eine dieser schädlichen Verbindungen ist das Dioxin TCDD (2,3,7,8-Tetra­chlor­dibenzodioxin) [10]. Mit diesem war üblicherweise das Entlaubungsmittel Agent Orange produktionsbedingt verunreinigt. Gleichzeitig ist es das giftigste aller Dioxine [11]. Agent Orange und seine Verwandten wurden in den Baumwollplantagen zur Entlaubung [12] verwendet, als die Ernte noch manuell durchgeführt wurde. Die Substanz TCDD wurde erst 1957 entdeckt und ihre Gefährlichkeit in der Folge erforscht. Im Westen sind mir die Hersteller von Agent Orange bekannt, es sind Dow Chemicals und Mobay, eine Tochterfirma der jüngst fusionierten Monsanto und Bayer. Wer es in der Sowjetunion herstellte, ist mir nicht bekannt. Bekannt ist mir, dass alle drei genannten Konzerne am Aufbau von Industrie in der UdSSR beteiligt waren [13].

TCDD - dioxin.png
Strukturformel von TCDD.

Die Salz- und Staubverschmutzung vergrössert sich weiter und ist sogar global nachweisbar, da der Aralsee in einer großen Luftschneise von West nach Süd liegt. Der Luftstrom nimmt auch Aerosole auf und verteilt sie bis in höhere Schichten der Stratosphäre, was sich global auswirkt.

Bei der heimischen Bevölkerung stiegen seit den 1970er Jahren die Zahl der Erkrankungen im Bereich Magen- und Darm sowie der Atmungsorgane sprunghaft an. Typhus, Paratyphus, Hepatitis und Tuberkulose brachen vermehrt aus. Insbesondere schwangere Frauen und Kinder sind noch heute sehr stark davon betroffen. Frauen leiden fast ausnahmslos an Blutarmut. Die Kindersterblichkeit übertrifft den Wert Russlands um das vierfache und etwa 10 % der Kinder durchleben das 1. Lebensjahr nicht vollständig. Verseuchte Nahrungsmittel und deswegen auch verschmutzte Muttermilch begünstigen die Ausbreitung von Krankheiten und die Ausbildung von Behinderungen der heranwachsenden Kinder wie Spalten oder Anenzephalie (angeborenes Fehlen des Gehirns). Akute Darmerkrankungen sind in etwa 30 % der Todesfälle bei Kindern Hauptursache. Der teilweise stark toxische Staub wirkt sich auch negativ auf Augen und Atemwege aus.

Als ob das nicht genug der negativen Einflüsse wäre, haben sich auch Krankheitserreger in der Tierwelt ausgebreitet, die sich wegen des austrocknenden Sees in die Nähe der Menschen begaben. Zu den Übertragenen Krankheitserregern gehören Pest, Cholera und Tularämie. Zur Zeit des Zusammenbruchs der Sowjetunion galten 60 % der Menschen in der Region als krank, etwa 25 % als geistig retardiert. Einige der Krankheitserreger stammen auch aus Kantubek, von der ehemaligen Insel der Wiedergeburt [14], auf der Biopreparat [15], die sowjetische Behörde für biologische Kriegsführung, ein Forschungslabor unterhielt. Dort wurde an Erregern für Milzbrand (Bacillus anthracis), Pest (Yersinia pestis) und Tularämie (Francisella tularensis) geforscht. In nicht näher ausgeführter Weise wurden diese wohl auch erprobt.

Unter [2] ist zu lesen, dass sowohl die usbekische Führung, als auch die NATO befürchten, Materialien von dort könnten eventuell von Terroristen entwendet und in gefährlicher Art und Weise genutzt werden. Dieser Gefahr will ich nicht widersprechen, einwerfen möchte ich aber, dass seit der Schliessung der Anlage 1991 mittlerweile 26 Jahre vergangen sind, in denen die Anlage garantiert für einen aus NATO-Sicht einigermassen bezahlbaren Preis unschädlich hätte gemacht werden können.


[1] https://steemit.com/deutsch/@saamychristen/geographie-004-der-aralsee-i-vorgeschichte
[2] https://en.wikipedia.org/wiki/Aral_Sea
https://de.wikipedia.org/wiki/Aralsee
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Tiefland_von_Turan
[4] https://en.wikipedia.org/wiki/Great_Plan_for_the_Transformation_of_Nature
[5] https://de.wikipedia.org/wiki/Schwarzerde
[6] https://en.wikipedia.org/wiki/Soviet_famine_of_1946%E2%80%9347
[7] https://de.wikipedia.org/wiki/Dawydow-Plan
https://en.wikipedia.org/wiki/Northern_river_reversal
Der Spiegel Nr. 19, 1950:
http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/44448284
[8] Diese Datei ist unter der Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 nicht portiert“ lizenziert. Urheber ist Mulhollant, gefunden wurde die Bilddatei unter [7]
[9] https://de.wikipedia.org/wiki/Kokaral-Damm
[10] https://de.wikipedia.org/wiki/2,3,7,8-Tetrachlordibenzodioxin
[11] https://de.wikipedia.org/wiki/Dioxin
[12] https://de.wikipedia.org/wiki/Entlaubungsmittel
[13] Western Technology & Soviet Economic Development 1930-1945. Antony C. Sutton, 1971
Western Technology & Soviet Economic Development 1945-1965. Antony C. Sutton, 1973
[14] https://de.wikipedia.org/wiki/Insel_der_Wiedergeburt
[15] https://de.wikipedia.org/wiki/Biopreparat

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