Bystander-Effekt: Je mehr Personen mit einer Notsituation konfrontiert sind, desto weniger sind zur Hilfe bereit.

in #deutsch8 years ago (edited)

Als Kitty Genovese am 13. März 1964 auf dem Weg nach Hause war, wurde sie von Winston Moseley niedergestochen und vergewaltigt. Mehrere Nachbarn hörten dies, doch erst 15 Minuten später öffnete einer das Fenster, um die Frage zu rufen, was dort auf der Straße geschehe. Der Täter flüchtete, kam jedoch fünf Minuten später wieder und fiel erneut über sein Opfer her, das in der Zwischenzeit von der Straße verschwunden war. Da sie sich nicht mehr auf der Straße befand, bemerkten die Nachbarn nichts von dem zweiten Angriff. Erst einige Minuten nachdem Mosley zum zweiten Mal verschwunden war, rief ein Nachbar erfolgreich die Polizei. Der Mordfall Kitty Genovese ist sicher eine komplexe Situation, bei der es ungerechtfertigt wäre zu behaupten, dass 38 Personen den Mord gesehen hätten und eine halbe Stunde nichts unternommen hätten. Leider erschwerten Fehler in den Notrufleitungen die Analyse. Der Fall ist jedoch nur als Aufhänger für dieses Phänomen bedeutend. Es stimmt, dass es viele Personen waren, die auf die Situation aufmerksam geworden waren und bereits früher hätten annehmen können, dass gerade etwas Schlimmes passiert. Die übertriebene Darstellung des Falles in den Zeitungen war Anlass zu psychologischen Forschungen. Die beiden Psychologen John Darley und Bibb Latane wollten herausfinden ob die Tatsache, dass mehrere Zeugen anwesend waren dazu führte, dass niemand zur Hilfe herbeieilte. Zu diesem Zweck luden sie Freiwillige ein, welche persönliche Gespräche miteinander führen sollten. Diese Gespräche waren jedoch nur ein Vorwand für das eigentliche Experiment. Die Anzahl der Versuchspersonen variierte stark, um die Auswirkungen unterschiedlich großer Gruppen zu untersuchen. Für diese Gespräche wurden die Versuchspersonen in unterschiedliche Räume gesetzt und mussten über Sprechanlagen miteinander reden. In einem der Räume saß jedoch ein Schauspieler, der während des Gespräches einen epileptischen Anfall vortäuschen sollte. Wenn nur eine Versuchsperson involviert war, versuchte diese zu 85% dem Schauspieler zu Hilfe zu eilen. Waren die Versuchsperson jedoch der Ansicht, dass sie nicht die Einzigen seien waren es nur noch 31% welche den Schauspielern zur Hilfe eilten. 

An den Versuchen wurde einiges an Kritik geäußert, doch wenn es auch nicht so drastisch ist wie diese suggerierten, existiert dieses als Bystander-Effekt oder auch Genovese-Syndrom bekannte Phänomen und zeigt uns Erstaunliches über die menschliche Psyche. Wenn wir alleine einer Person in Not begegnen, sind wir sehr schnell bereit ihr zu helfen, wenn auch die anderen Umstände günstig sind. Wenn ich alleine bin, weiß ich, dass ich die einzige Person bin, die überhaupt helfen kann. Ich weiß, dass, wenn ich selber nicht helfe, niemand hilft. Diese negative Garantie macht es uns unmöglich unser Gewissen mit einer sophistischen Spitzfindigkeit abzuspeisen. Wenn ich jedoch nicht alleine bin, ist es anders. Um dieser Problematik zu begegnen haben Darley und Latane ein Modell entwickelt, nach dem derartige Situationen analysiert werden können. Denn es ist notwendig das Phänomen zu verstehen, um ihm entgegenwirken zu können. Das model of bystander intervention besteht aus 5 Punkten:   


1. Den Notfall wahrnehmen: Dies ist häufig schwierig und kann durch Lärm und andere Umstände noch erschwert werden.. 

2. Die Situation einschätzen: Hier muß ich sehen, ob die Situation für mich gefährlich oder unangenehm ist. Wenn andere Personen nicht eingreifen, kann ich dies unterbewusst als Zeichen sehen, dass in dieser Situation nicht eingegriffen werden soll. 

3. Bereit sein Verantwortung zu übernehmen: Wenn ich denke, dass irgendjemand eingreifen muß, kann ich dennoch annehmen, dass ich dazu nicht qualifiziert genug bin. Gerade wenn sehr viele Menschen anwesend sind, kann ich mir sicher sein, dass einer von ihnen besser qualifiziert ist als ich. Diese Annahme kann mich untätig verharren lassen.    

4. Wenn ich bereit bin, zu helfen muß ich entscheiden, welche Maßnahme dazu am besten geeignet ist.

5. Ich möchte handeln und weiß wie, doch mich kann immer noch die Angst vor den anderen davon abhalten. Ich muß die Angst davor überwinden, anders zu sein als die anderen, die nicht eingreifen. Wenn ich diese Angst überwinde, helfe ich der Not leidenden Person und bleibe wahrscheinlich auch nicht der Einzige dabei.  


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Interessant wäre in diesem Zusammenhang die Frage, in wie weit die Handyfizierung den Bystandereffekt noch verschärft, weil die Aufmerksamkeit, wenn man Photos macht, als subjektive Hilfeleistung unterbewusst verarbeitet werden könnte.

Zugleich bietet die Vielzahl von Zeugen dem Einzelnen die Möglichkeit, sehr effizient zu helfen, indem er die Situation mit nicht-rollenkonformem Verhalten "bricht". Sollte ich mal einen Artikel drüber schreiben, da gibt es lustige Konstellationen.

Interessant fände ich auch, wie eine solche Situation in einer Zeit ausgegangen wäre, als es noch gar keine Telefone gab. Ich hatte ja geschrieben, dass die Notrufleitungen nicht funktionierten, als mehrere der Augenzeugen versuchten die Polizei zu rufen. Ebenso wie Photos machen wird natürlich auch der Versuch die Polizei anzurufen als Hilfeleistung abgespeichert. Hätte es gar keine Telefone gegeben, wären dann diese Menschen nach draußen gegangen?

Gaffer gabs immer . Zudem ist das Verhalten in Gruppen nicht generalisierbar, sondern kultur- und kontextabhängig. In einem Dorf reagieren die Menschen anders als in einer Stadt, dort wiederum ist das eine Frage der Nachbarschaft und Bewohnerzusammensetzung. Auf St. Pauli an Stellen, wo es ständig Stress gibt, reagieren die Menschen anders als in Berlin in Marzahn oder Neukölln.
Wenn da auf türkisch herumgebrüllt wird, zucken die deutschstämmigen mit den Schultern. Schon weil sie den Kontext nicht einschätzen können.
Früher war es wahrscheinlich noch stärker Bezugsgruppenabhängig.

Vielen Dank! :D
War einer von drei Aufsätze, die ich vor Jahren im Rahmen einer Vorlesung geschrieben habe. Diesen hab ich, im Gegensatz zu den beiden anderen, nicht abgegeben, da ich nur zwei abgeben musste.

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