Lillli liest Bregman oder „Warum Armut dumm macht“

in #deutsch7 years ago (edited)

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Wir leben in einer Zeit, in der es uns so gut geht, wie noch nie. Und trotzdem sind die Psychiatrien voll, und noch nicht mal so voll, wie sie es eigentlich sein könnten, wenn die Personen sich eingestehen würden, wie schlecht es ihnen eigentlich geht. Stattdessen wird Selbsttherapie mit Alkohol, Drogen, Serien etc. betrieben. Wer ist eigentlich glücklich, und wenn wir nicht so weit gehen wollen, zufrieden? Heute schon über die nächste Kleinigkeit gemeckert oder scheinbar unnötig aufgeregt?

Aus diesem Grund ist es an der Zeit wieder Utopien zu suchen, etwas wofür wir kämpfen können. Denn wofür aufstehen, wenn es eh immer das gleiche ist? So möchte ich euch, liebe Steemians, heute das Buch „Utopien für Realisten“ von Rutger Bregman vorstellen. Seine Utopien beziehen sich wissenschaftlich, aber auf eine sehr lesbare Weise, auf drei Utopien: Die 15-Stunden-Woche, offene Grenzen und das bedingungslose Grundeinkommen. Da er die drei Themen sehr umfassend und dabei sehr nachvollziehbar darstellt, wird sich dieser Post erstmal auf die Einführung von Bregman beziehen und die Fortsetzungen werden folgen.

Rutger Bregman beginnt mit einem kurzen geschichtlichen Abriss, „während 99 Prozent unserer Menschheitsgeschichte waren 99 Prozent der Menschen arm, hungrig, schmutzig und krank. Sie lebten in Furcht, waren dumm und hässlich.“ (S. 9) Noch 1820 habe 84 Prozent der Weltbevölkerung in extremer Armut gelebt, heute liege dieser Anteil unter 10 Prozent. Wenn es so weitergeht, leben wir in einigen Jahren in einem beispiellosen Überfluss. Also alles gut?

„Das wahre Problem unserer Zeit, das Problem meiner Generation, ist nicht, dass es uns nicht gutginge oder dass es uns in Zukunft schlechter gehen könnte.

Nein, das wahre Problem ist, dass wir uns nichts Besseres vorstellen können.“ (S. 19)
Deswegen benötigen wir wieder Utopien, keine Lösungen, sondern „eine grobe Skizze (…) einen Wegweiser“. (S. 20) „Anstatt uns in eine Zwangsjacke zu stecken, animiert sie uns zur Veränderung.“ (S. 20)

Denn, seid ehrlich, leben wir wirklich in der Idealvorstellung des Lebens, wie wir es uns vorstellen könnten? Deshalb sagt Bregman:

Nicht, dass die Gegenwart schlecht wäre, im Gegenteil. Aber es ist eine freudlose Gegenwart, wenn wir nicht darauf hoffen dürfen, dass die Zukunft besser sein wird.“ (S. 29)

Soweit zu den Beweggründen, warum Bregman dieses Buch überhaupt geschrieben hat. Er ist übrigens erst 29 und hatte keine Lust auf den Weg durch die Universitäten, bevor er mit dem veröffentlichen anfangen wollte.* „Utopien für Realisten“ ist sein drittes Buch.


Behauptung „Arme können nicht mit Geld umgehen“

Bregman beginnt mit einem Experiment, diesen dreizehn Obdachlosen wird, anstatt diesen immer wieder mit Polizeieinsätzen, Gerichten und Sozialarbeitern zu begegnen (geschätzte Kosten pro Jahr 400.000 Pfund), jedem 3.000 Pfund gegeben, ohne jegliche Bedingungen, keine Auflagen, keine Gegenleistungen.

Ergebnis nach einem Jahr: Im Durchschnitt hatten sie ca. 800 Pfund ausgegeben. Und zwar eben nicht für Drogen oder Alkohol. Nach anderthalb Jahren wohnten sieben wieder in Wohnungen, zwei davon waren davor einzuziehen. Sie nahmen an Ausbildungsmaßnahmen teil und ergriffen Eigeninitiative, um ihr Leben wieder in eigene Bahnen zu lenken. (S. 33-34.)

Mit vielen Beispielen die folgen belegt Bregman, dass es so etwas, wie ich es nennen würde „Knappheitsdemenz“ gibt. Wer kein Geld hat, bei dem dreht sich alles in seinem Kopf nur um die nächste Mahlzeit, den nächsten Schlafplatz, den nächstens Rausch.

Gib dem Menschen aber die Möglichkeit auf eine Perspektive mit einem gewissen Maß an Sicherheit und er kann wieder freier und vor allem intelligenter entscheiden. Eine Untersuchung mit indischen Bauern brachte dies auf die Spitze. Sowohl im Zeitraum der Aussäung und der Beackerung der Felder, in welcher die Bauern sehr wenig bis gar kein Geld hatten, als auch kurz nach der Erntezeit, wo sie über ausreichend Geldmittel verfügten, wurden mit ihnen Intelligenztests gemacht. Der Unterschied war signifikant. (S.64-65)

Der Stress der Armut führt also zu Dummheit, nicht die Dummheit zu Armut. Weswegen auch die zahlreichen Hilfsprogramme für finanziell schlechter gestellte Personen, welche zum Beispiel gesündere Ernährung als auch effizienteren Stromverbrauch beibringen wollen, ad absurdum geführt werden. Wer die ganze Zeit nur daran denkt, wo er die nächste Mahlzeit herbekommt, hat im wahrsten Sinne des Wortes keinen Kopf dafür, den Stecker aus der Steckdose zu ziehen, damit der Fernseher nicht die ganze Zeit Strom frisst.

„Studien aus aller Welt belegen: Geschenktes Geld funktioniert. Es liegen bereits Forschungsergebnisse vor, die zeigen, dass es einen Zusammenhang zwischen auflagenfreien Zuschüssen und einer Verringerung von Kriminalität, Kindersterblichkeit, Mangelernährung, Teenagerschwangerschaften und Schulabwesenheiten sowie einer Steigerung der schulischen Leistungen, des Wirtschaftswachstums und der Gleichberechtigung der Geschlechter gibt“ (S. 37-38, zitiert aus Christopher Blattmann u.a. „The Returns to Cash and Microenterprise Support Among The Ultra Poor. A Field Experiment“.

Und der Vorschlag von „Geschenktem Geld“ ist kein neuer, bei weitem nicht, aber davon beim nächsten Mal mehr, wenn es um das bedingungslose Grundeinkommen, Versuche es einzuführen und die Hürden dabei geht.


P.S.: Ich glaube „Knappheitsdemenz“ gibt es nicht nur im Bezug zu Armut, sondern in allen Bereichen. Ein geliebter Mensch stirbt, die Arbeit wächst einem über den Kopf, man ist frisch verliebt? Der Kopf ist voll beschäftigt mit eben diesem einen Hauptthema und alles andere wird überschattet, vergessen, in den Hintergrund gedrängt, nicht mehr bearbeitet. Habt ihr diese Erfahrung auch schon gemacht?


Dies ist der erste Teil der Buchbesprechung "Utopien für Realisten", Teil 2 findet hier ihr:

Lillli liest Bregman I oder "Warum geschenktes Geld nicht faul macht, sondern Würde gibt"
(https://steemit.com/deutsch/@lillliputt/lillli-liest-bregman-ii-oder-warum-geschenktes-geld-nicht-faul-macht-sondern-wuerde-gibt)

Teil 3 findet ihr hier:

Lillli liest Bregman III oder „Wenn 15 Stunden reichen, was machen wir dann mit der ganzen Freizeit?“
(https://steemit.com/deutsch/@lillliputt/lillli-liest-bregman-iii-oder-wenn-15-stunden-reichen-was-machen-wir-dann-mit-der-ganzen-freizeit)

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