Lillli liest Bregman III oder „Wenn 15 Stunden reichen, was machen wir dann mit der ganzen Freizeit?“

in #deutsch7 years ago

liest bregmann.jpg

Nach Teil 1 und 2 zu dem Buch “Utopien für Realisten“ von Rutger Bregman, in denen seine Ideen zu den Folgen von Armut und dem Bedingungslosen Grundeinkommen vorgestellt wurden, geht es jetzt um die Utopie der 15-Stunden Woche. Ja, genau, er meint, es würde ausreichen, wenn jeder von uns in jeder Woche nur 15-Stunden arbeiten würden. Und auch dies, genau so wenig wie das Bedingungslose Grundeinkommen würde uns ruinieren. Und das Problem dabei: Was machen wir mit all der Freizeit?

Was war nochmal das BIP und warum glauben wir daran?

Bregman beginnt erstmal damit die Kennzahl des Bruttoinlandsprodukts als heute noch adäquate Kennzahl für unsere heutigen Bedürfnisse anzuzweifeln. Diese vor hundert Jahren noch unbekannte Größe wurde erfunden, um herauszufinden, wie viel die Wirtschaft eines Landes in der Lage ist zu produzieren – dies war vor allem in Kriegszeiten wichtig und genau in dieser Zeit ist diese höchst subjektiv berechnete Kennzahl (die letzte Ausgabe der Leitlinie hat 722 Seiten und es müssen viele subjektive Entscheidungen getroffen werden (S. 116)) auch entstanden. (S 113, 114). Heute aber erfasst diese Zahl erstens viele wertvolle Dinge unserer Gesellschaft gar nicht, also alles was kein „Geld“ kostet – Fun Fact: Dänemark errechnete den volkswirtschaftlichen Beitrag von Muttermilch: für die USA kamen sie auf ca. 110 Milliarden Dollar im Jahr, was in etwas dem chinesischen Verteidigungshaushalt entspricht (S. 107) – und zweitens erhöht sich das BIP gerade auch durch jegliche Katastrophen, angefangen von Autounfällen (Reparaturen), Krankheiten (Krankenhausrechnungen) aber natürlich auch durch Tsunamis oder ähnliches. (S. 107) Aber hilft diese Kennzahl uns wirklich zu messen, wie „gut“ es uns geht?

„Seit mehr als dreißig Jahren erhöht das Wachstum kaum noch unseren Wohlstand, und in einigen Fällen sinkt er sogar. Wenn wir eine höhere Lebensqualität haben wollen, werden wir den ersten Schritt tun müssen, um andere Mittel und Wege dorthin zu finden, und wir müssen alternative Maßeinheiten für ihre Quantifizierung entwickeln.“ (S. 110)

Es gibt Vorschläge von anderen Zahlen: „Indikator wirklichen Fortschritts“, „Index des nachhaltigen wirtschaftlichen Wohlergehens“, „Happy Planet Index“ oder auch dem „Bruttoinlandsglück“ (S. 119, 120). Aber irgendwo hat irgendwie jeder dieser Versuche seine Schwächen und sowohl Bregmans Buch als erst recht mein Post kratzt da an der Oberfläche. Zu erkennen ist, wir sind fixiert auf Zahlen, auf Effizienz und Produktivität und vergessen dabei die Qualität, zum Beispiel von Bildung oder Gesundheitspflege (S. 122). Zahlen messen nicht zwingend Inhalt.

„Die Ziele unserer leistungsorientierten Gesellschaft sind nicht weniger absurd als seinerzeit die Fünfjahrespläne der Sowjetunion. Indem wir unser politisches System auf den Produktionszahlen aufbauen, verwandeln wir das gute Leben in eine Tabellenkalkulation. (…) Das Regieren nach Zahlen ist die letzte Zuflucht eines Landes, das nicht mehr weiß, was es will, und keinerlei Utopie mehr hat.“ (S. 123)

Also auf zur Utopie der 15 Stunden Woche, oder?

Um 1850 haben einige Wissenschaftler vorausgesehen, das wir diese wir eigentlich schon hätten erreichen müssen: Die Reduzierung unserer Wochenarbeitszeit begann schrittweise: nach über 70 Stunden die Woche kam die Fünf-Tage-Woche und bis in die 80er Jahre wurde gesenkt und gesenkt. Aber dann stockte es:

„Das Wirtschaftswachstum brachte uns nicht mehr Freizeit, sondern nur mehr Dinge. (…) Siebzig Jahre nachdem das Land [USA] die 40-Stunden-Woche gesetzlich festgelegt hatte, verbrachten drei Viertel der Arbeitskräfte mehr als vierzig Wochenstunden am Arbeitsplatz“ (S. 136)

Es wurde gedacht, unser eigentliches Problem wäre, wie wir mit der ganzen Freizeit umgehen sollen (S. 129: John Maynard Keynes 1930)). Stattdessen ist das Gegenteil eingetreten: Wir arbeiten immer mehr, definieren uns darüber, wer am längsten am Schreibtisch sitzen bleibt und mit dem größten Stress angeben kann. Warum nur?

„Im 19. Jahrhundert kam es für die Reichen nicht in Frage, die Ärmel hochzukrempeln. Arbeit war etwas für Bauern und Fabrikarbeiter. Je mehr jemand arbeitete, desto ärmer war er. Heute ist ein Übermaß an Arbeit und Stress ein Statussymbol. Klagen über zu viel Arbeit sind oft einfach ein verschleierter Versuch, wichtig und interessant zu wirken. Wenn jemand Zeit für sich selbst hat, wird dies rasch mit Arbeitslosigkeit und Faulheit gleichgesetzt, insbesondere in Ländern, in denen die Wohlstandskluft wächst.“ (S.145)


Was war passiert? Und wollen wir das? Es ist nachgewiesen, dass eine längere Arbeitslosigkeit für den Menschen schädlicher ist als der Verlust eines nahestehenden Menschen (S. 148): „Denn je länger ein Mensch an den Rand gedrängt wird, desto tiefer gleitet er ab.“ (S. 148) Trotzdem:

Die Fakten deuten klar daraufhin, dass wir auf eine ausreichende tägliche Dosis Arbeitslosigkeit angewiesen sind. Weniger Arbeit schafft Raum für andere Dinge, die ebenfalls wichtig sind: Familie, Engagement für die Gemeinschaft und Erholung. Es ist kein Zufall, dass die Länder mit den kürzesten Arbeitswochen auch die größte Zahl von Freiwilligen und das meiste soziale Kapital haben.“ (S. 148)

Um aber da hin zu kommen, müssen wir entscheiden, da auch hin zu wollen!

„Gegenwärtig ist es für einen Arbeitgeber billiger, einem Beschäftigten Überstunden aufzubürden, als zwei Teilzeitkräfte zu beschäftigen. (S. 149)

Warum? Weil Arbeitskosten nicht pro Stunde, sondern pro Beschäftigtem bezahlt werden!


Was? So einfach soll die Lösung sein? Naja, da wäre ja noch das Problem mit der vielen Freizeit, die dann entstände. Das wir in Zukunft nicht mehr genug Arbeitsplätze für jeden haben werden, da die Automatisierung vieler Prozesse ja bereits jetzt stattfindet, muss an dieser Stelle nicht mehr ausgeführt werden. (Bregman tut das ausführlich in Kapitel „Der Wettlauf mit der Maschine“ S. 175 – 200)

Also, was sind unsere Werte als die momentan herrschende Selbstidentifikation über den höchsten Stresslevel und das dickste Bankkonto?

Wir müssen dahin schauen, wo unsere Zukunft entsteht, in die Schulen, aber in der Bildung werden immer noch die falschen Fragen gestellt. Es muss nicht darum gehen, wie die heutigen Kinder auf dem Arbeitsmarkt der Zukunft bestehen können, sondern:

„Welche Kenntnisse und Fähigkeiten wünschen wir uns für unsere Kinder? Wenn wir die Frage si formulieren, werden wir nicht die Entwicklungen vorwegnehmen, um uns ihnen anzupassen, sondern wir werden uns darauf konzentrieren, zu lenken und zu erschaffen. Anstatt zu fragen, was wir benötigen, um unseren Bullshitjob zu verdienen, könnten wir über die Frage nachdenken, womit wir unseren Lebensunterhalt verdienen wollen.“ (S. 170)

Und nochmal:

„Die Entscheidung darüber, was wirklichen Wert hat, liegt letzten Endes nicht beim Markt oder bei der Technologie, sondern bei der Gesellschaft.“

Liebe Steemians, was hat für euch in unserer Gesellschaft Wert? Wie wollen wir in Zukunft leben?


Dies ist der dritte Teil der Buchbesprechung "Utopien für Realisten, Teil 1 findet hier ihr:

Lilllli liest Bregman I oder "Warum Armut dumm macht"
(https://steemit.com/deutsch/@lillliputt/lillli-liest-bregman-oder-warum-armut-dumm-macht)

Teil 2 findet ihr hier:
Lillli liest Bregman II oder „Warum geschenktes Geld nicht faul macht, sondern Würde gibt.“
(https://steemit.com/deutsch/@lillliputt/lillli-liest-bregman-ii-oder-warum-geschenktes-geld-nicht-faul-macht-sondern-wuerde-gibt)

Sort:  

Ich sehe das ähnlich ... wobei 15 Stunden pro Woche? Immer noch viel zu viel! :-)

Coin Marketplace

STEEM 0.16
TRX 0.16
JST 0.029
BTC 68356.90
ETH 2509.71
USDT 1.00
SBD 2.53