Aufklärung durch Weltliteratur – Leo (Lew) Tolstoi „Worin besteht mein Glaube“ Teil VIII.

in #deutsch6 years ago (edited)

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Werte Steemis,

in der Reihe, „Aufklärung durch Weltliteratur“ möchte ich euch und den "Gläubigen" unter euch, ein weiteres Meisterwerk Leo Tolstois vorstellen. Tolstoi wurde u. a. für dieses großartige Meisterwerk exkommuniziert.¹ Die Wahrheit schmerzt und nur der Geist (Vernunft) kann heilen.


Gute Bücher und Schriften sind wie Austern, will man an die Perlen gelangen, muss man tief tauchen, Miesmuscheln hingegen, liest man am Strand auf.


Kritik:

Tolstoi gehört sicher zu den bedeutendsten Schriftstellern aller Zeiten, die Verantwortung, die er mit diesem Meisterwerk übernimmt, unterstreicht seine Einzigartigkeit.

Lew Tolstoi:

Graf Leo/Ljew/Lew Tolstoi 1828 - †1910; entstammte einer alten russ. Adelsfamilie (Nikolajewitsch). Er war im Gegensatz zu Dostojewski wohlhabend. Tolstoi war nicht nur ein großartiger Dichter, vor allem war er ein epochaler Romancier. Er besuchte kurzzeitig die Universität Kasan, wurde Offizier und bereiste später Europa. Geschockt über den europäischen Materialismus, zog er sich auf sein Familienanwesen zurück, wo er dann seine größten Romane schrieb.

Zu seiner Bekehrung führte ihn das Gefühl von der Arbeit anderer zu leben, und so verfasste er zahlreiche religiöse, sozialkritische und ästhetische Traktate, die sich ganz scharf gegen die bestehenden Ordnungen wendeten. Da seine Predigten hohes Ansehen erlangten, entstand gegen seinen Willen, eine Glaubensgemeinschaft christlicher Anarchisten und Pazifisten - die Tolstojaner -


Seine bekanntesten Werke:

Krieg und Frieden, Anna Karenina, Kindheit, Sewastopol, Kosaken, Beichte, Was sollen wir tun?, Was ist Kunst, Der Tod des Iwan Iljitsch, Die Kreutzersonate, Macht der Finsternis, Auferstehung¹, Der lebende Leichnam, Hatschi Murat u. v. m.


Leo Tolstoi

Worin besteht mein Glaube?

Teil VIII.

Eine Studie von Graf Leo Tolstoi


IX.

[Der Glaube ohne Werke ist tot. Der Glaube ist die zur Überzeugung gewordene Auffassung des Lebens, aus der unsere Handlungen entspringen. Glauben an Christus ist Erkenntnis der Wahrheit.]


Erfüllten alle Menschen die Lehre Christi, so würde Gottes Reich auf Erden sein; erfülle ich sie allein, so tue ich das Beste für alle und für mich. Ohne die Erfüllung der Lehre Christi gibt es keine Rettung.

Wo aber soll man den Glauben hernehmen um sie zu erfüllen, um ihr stets zu folgen und sich nie von ihr loszusagen? »Ich glaube; Herr, hilf meinem Unglauben!«

Die Jünger baten Christus den Glauben in ihnen zu befestigen. »Ich will Gutes tun und tue Böses«, sagt der Apostel Paulus.

»Es ist schwer errettet zu werden«, so spricht und denkt man gewöhnlich. – Ein Mensch ist im Versinken und fleht um Rettung. Man reicht ihm ein Seil, das allein ihn retten kann, und der Ertrinkende spricht: befestige in mir den Glauben, dass dieses Seil mich retten wird. Ich glaube, sagt der Mensch, dass mich das Seil retten wird; helfet aber meinem Glauben.

Was bedeutet das? Wenn der Mensch nicht nach dem greift, was ihn rettet, so bedeutet das bloß, dass der Mensch seine Lage nicht begreift.

Wie kann ein Christ, der sich zu Christi Gottheit und seiner Lehre bekennt, wie er sie auch auffassen mag, sagen, dass er glauben will und nicht kann? Gott selbst, als er zur Erde herniedergestiegen war, hat gesagt: euch stehen ewige Qualen bevor, Feuer und äußerste Finsternis, und hier ist eure Rettung – in meiner Lehre und in der Erfüllung derselben. Es kann ein solcher Christ sich nicht des Glaubens an die gebotene Rettung und die Erfüllung derselben entsagen und zugleich sprechen: »hilf meinem Unglauben«. Damit der Mensch das sagen kann, muss er nicht nur an seinen Untergang nicht glauben, sondern er muss glauben, dass er nicht untergehen wird.

Kinder sind vom Schiffe ins Wasser gesprungen. Noch werden sie von der Strömung, von den undurchnässten Kleidern und den sehwachen Bewegungen ihres Körpers gehalten und sie begreifen nicht ihren Untergang. Von oben, vom enteilenden Schiffe aus ist ihnen ein Seil zugeworfen worden. Man sagt ihnen, dass sie sicher untergehen werden; vom Schiffe aus fleht man sie an sich zu retten (die Gleichnisse von dem Weib, das einen Pfennig gefunden, von dem Hirten, der das verlorene Schaf wiederfindet, vom Abendmahl, vom verlorenen Sohn sprechen nur hiervon): die Kinder glauben aber nicht. Es ist nicht, dass sie an das Seil nicht glauben, sondern sie glauben nur nicht, dass sie untergehen werden. Eben solche leichtsinnige Kinder wie sie selbst haben ihnen versichert, dass sie immer, auch wenn das Schiff fort sein wird, nur fröhlich baden werden. Die Kinder glauben nicht, dass ihre Kleider bald durchnässt sein und die Ärmchen sich bald müde geschwenkt haben werden; dass sie bald den Atem verlieren, sich verschlucken und auf den Grund sinken werden. Daran glauben sie nicht und deshalb glauben sie auch nicht an das Seil der Rettung.

Wie die vom Schiffe gefallenen Kinder überzeugt sind, dass sie nicht untergehen werden, und in Folge dessen nicht nach dem Seile greifen, so sind auch die Menschen, die sich zur Unsterblichkeit der Seele bekennen, überzeugt, dass sie nicht untergehen werden, und erfüllen deshalb nicht die Lehre Christi, Gottes. Sie glauben nur deshalb nicht an das, woran man nicht umhin kann zu glauben, weil sie an das glauben, woran man nicht glauben darf.

Nun aber rufen sie jemand an: bestärke in uns den Glauben daran, dass wir nicht untergehen werden!

Dies aber zu tun ist unmöglich. Damit sie den Glauben daran haben, dass sie nicht untergehen werden, müssen sie aufhören das zu tun, was sie zu Grunde richtet, und müssen beginnen das zu tun, was sie erretten wird: sie müssen nach dem Seile der Rettung greifen. Sie wollen das jedoch nicht tun, wollen sich hingegen davon überzeugen, dass sie nicht untergehen werden, trotzdem vor ihren Augen ihre Gefährten einer nach dem andern versinken. Und eben diesen törichten Wunsch sich von dem zu überzeugen, was nicht ist, nennen sie den Glauben. Es ist begreiflich, dass sie immer zu wenig Glauben haben und immer mehr haben wollen.

Erst nachdem ich Christi Lehre begriffen hatte, begriff ich auch, dass das, was die Menschen Glauben nennen, kein Glaube ist und dass der Apostel Jakobus in seinem Briefe eben diesen falschen Glauben verwirft (2. Kap.): »Was hilft es, lieben Brüder, so jemand meint, er habe den Glauben, und hat doch die Werke nicht? Der Glaube kann ihn nicht selig machen (14). So aber ein Bruder oder Schwester bloß wäre und Mangel hätte der täglichen Nahrung (15); Und jemand unter euch spräche zu ihnen: Gott berate euch, wärmet euch und sättiget euch; gäbet ihnen aber nicht, was des Leibes Notdurft ist; was hülfe ihnen das (16)? Also auch der Glaube, wenn er nicht Werke hat, ist er tot an ihm selber (17). Aber es möchte jemand sagen: du hast den Glauben und ich habe die Werke; zeige mir deinen Glauben ohne deine Werke und ich will dir durch meine Werke meinen Glauben zeigen (18). Du glaubest, dass ein einiger Gott ist: gut! die Teufel glauben es auch und zittern (19). Willst du aber wissen, du eitler Mensch, dass der Glaube ohne Werke tot sei (20)? Ist nicht Abraham, unser Vater, durch die Werke gerecht geworden, da er seinen Sohn Isaak auf dem Altare opferte (21)? Da siehest du, dass der Glaube mit gewirket hat an seinen Werken; und durch die Werke ist der Glaube entstanden (22). ... So sehet ihr nun, dass der Mensch durch die Werke gerecht wird, nicht durch den Glauben allein (24). ... Denn gleichwie der Leib ohne Geist tot ist, also auch der Glaube ohne Werke ist tot (26).«

Jakobus sagt, dass das einzige Kennzeichen des Glaubens die Werke sind, die aus ihm kommen, und dass deshalb der Glaube, aus dem keine Werke entstehen, Worten gleich ist, mit denen man ebensowenig jemand sättigen wie selig werden und erlöst werden kann. Darum ist der Glaube, aus dem keine Werke entstehen, kein Glaube. Er ist bloß der Wunsch an etwas zu glauben, bloß eine falsche Versicherung in Worten, dass ich an etwas glaube, woran ich in der Tat nicht glaube.

Der Glaube ist, dieser Definition nach, das was die Werke hervorbringt, und die Werke sind das was den Glauben vervollständigt, d. i. das was den Glauben zum Glauben macht.

Die Juden sprachen zu Christus (Joh. 6, 30): »Was tust du für ein Zeichen, auf dass wir sehen und glauben dir? Was wirkest du?«

Dasselbige sprachen sie zu ihm, als er am Kreuze war (Mark. 15,32): »So steige er nun vom Kreuz, dass wir sehen und glauben.«

Matth. 27, 42: »Andern hat er geholfen und kann sich selber nicht helfen! Ist er der König Israels, so steige er nun vom Kreuz, so wollen wir ihm glauben.«

Und auf ein derartiges Verlangen der Befestigung ihres Glaubens antwortet ihnen Christus, dass ihr Wunsch vergeblich sei und dass man sie durch nichts veranlassen könne an das zu glauben, woran sie nicht glauben. Luk. 22, 67: »Sage ich es euch, so glaubet ihr es nicht.« Joh. 10, 26: »Ihr glaubet nicht, denn ihr seid meine Schafe nicht, als ich euch gesagt habe.«

Die Juden verlangen dasselbe was die kirchlichen Christen verlangen, – irgend etwas derartiges, was sie auf äußerliche Weise zwingen würde an Christi Lehre zu glauben. Und er antwortet ihnen, dass dies Verlangen unerfüllbar sei, und erklärt ihnen weshalb. Er sagt, dass sie nicht glauben können, weil sie »seine Schafe nicht sind«, d. h. nicht jenen Lebensweg wandeln, den er seinen Schafen vorgeschrieben hat. Er erklärt (Joh. 5, 44), worin der Unterschied zwischen seinen Schafen und den andern besteht; er erklärt warum die einen glauben und die andern nicht glauben, und worauf der Glaube sich gründet. »Wie könnet ihr glauben,« spricht er, »die ihr die Lehre – δόξα [Fußnote]– von einander nehmet? Und die Lehre, die von Gott allein ist, suchet ihr nicht.«

Um zu glauben, sagt Christus, muss man die Lehre suchen, die von Gott allein ist. »Wer von ihm selbst redet, der sucht seine eigene Lehre (τὴν δόξα τὴν ἰδίαν), wer aber sucht die Lehre dess, der ihn gesandt hat, der ist wahrhaftig und ist keine Ungerechtigkeit in ihm.« (Joh, 7, 18.)

Die Lehre über das Leben (δόξα) ist die Basis des Glaubens. « Alle Werke entstehen aus dem Glauben. Die Religionen aber haben alle ihren Ursprung in der δόξα, in jenem Sinne, den wir dem Leben zuschreiben. Der Werke kann es eine unzählige Menge geben; der Religionen gibt es auch viele; Lehren aber über das Leben (δόξαι) sind nur zwei: die eine davon verwirft Christus, die andere erkennt er an. Die Lehre, die Christus verwirft, besteht darin, dass das persönliche Leben etwas wirklich Existierendes und dem Menschen Angehörendes ist. Dies ist die Lehre, an welcher die Mehrzahl der Menschen festhielt und noch festhält und welcher alle die verschiedenartigen Religionen der Welt und die Handlungen der Menschen entspringen. Die andere Lehre ist die, die von allen Propheten und von Christus gepredigt worden ist, nämlich: dass unser persönliches Leben nur durch die Erfüllung des Willens Gottes Bedeutung erhält.

Wenn der Mensch sich zu jener δόξα bekennt, dass seine Persönlichkeit die Hauptsache ist, so wird er überzeugt sein, dass sein persönliches Heil das Wichtigste und Wünschenswerteste im Leben ist, und je nach dem worin er dieses Heil sehen wird – ob in Reichtum, Ruhm, Befriedigung der Wollust u. a. –, wird er auch den diesen Ansichten entsprechenden Glauben haben und alle seine Handlungen werden dem angemessen sein.

Wenn die δόξα des Menschen aber eine andere ist: wenn er das Leben derart auffasst, dass die Bedeutung desselben nur in der Erfüllung des Willens Gottes liegt, wie Abraham es aufgefasst und wie Christus es gelehrt, so wird dieser Mensch, je nach dem worin er den Willen Gottes sehen wird, auch einen entsprechenden Glauben haben und alle seine Handlungen werden in diesem Glauben ihren Ursprung haben.

Deshalb eben können diejenigen, die an die Glückseligkeit eines persönlichen Lebens glauben, nicht an die Lehre Christi glauben, und alle ihre Bemühungen an dieselbe zu glauben werden erfolglos bleiben. Um zu glauben, müssen sie ihre Ansicht vom Leben verändern. So lange sie aber diese nicht verändert haben, werden ihre Werke stets mit ihrem Glauben und nicht mit ihren Wünschen und Worten übereinstimmen.

Der Wunsch derjenigen an Christi Lehre zu glauben, die ihn um Zeichen baten, und der Wunsch unserer Gläubigen stimmt nicht mit ihrem Leben überein und kann es nicht, wie sehr sie sich auch darum bemühen mögen. Sie können zu Gott-Christus beten, sie können das Abendmahl nehmen, philanthropische Werke vollbringen, Kirchen bauen, andere bekehren; sie tun auch das alles: sie können aber nicht Werke Christi tun, weil diese Werke ihren Ursprung in einem Glauben haben, der in einer ganz anderen Lehre (δόξα) wurzelt, als die, zu der sie sich bekennen. Sie können nicht den einzigen Sohn zum Opfer bringen, wie Abraham es getan hat, der sich nicht einmal zu besinnen brauchte, ob er seinen Sohn opfern sollte oder nicht, dem Gotte, der allein Sinn und Heil seinem Leben gab. Und ebenso konnten Christus und seine Jünger nicht umhin ihr Leben den andern zu geben, denn darin allein bestand der Sinn und das Heil ihres Lebens. Eben aus diesem Nichtverstehen des Wesens des Glaubens entspringt jener seltsame Wunsch, vermuten zu können, dass es besser ist nach der Lehre Christi zu leben; indem sie, ihrem Glauben an das Glück des persönlichen Lebens nach, sich unwiderstehlich hingezogen fühlen, zuwider dieser Lehre zu leben, dabei aber doch an die Lehre Christi zu glauben.

Die Basis des Glaubens ist der Sinn des Lebens, aus welchem die Abschätzung dessen entspringt, was im Leben wichtig und gut ist, und dessen, was unwichtig und schlecht ist. Die Abschätzung aller Erscheinungen des Lebens ist der Glaube. Und gleichwie jetzt Menschen, die einen auf ihre eigne Lehre sich gründenden Glauben haben, diesen durchaus nicht in Einklang bringen können mit dem Glauben, der aus der Lehre Christi entspringt, ebenso konnten auch seine Jünger solches nicht tun. Dieses Missverständnis ist vielmal scharf und klar im Evangelium ausgesprochen. Die Jünger Christi baten ihn vielmal, ihren Glauben an das, was er sagte, zu befestigen. Matth. 19, 16–28 und Mark. 10, 35–45. In beiden Evangelien steht Folgendes. Nach dem, für jeden, der an ein persönliches Leben glaubt und sein Heil in dem Reichtum der Welt erblickt, schrecklichen Worte, dass der Reiche nicht ins Himmelreich kommen wird, und nach den für jene Menschen, die nur an ein persönliches Leben glauben, noch schrecklicheren Worten: dass, wer nicht alles und sein Leben lässt um der Lehre Christi willen, nicht gerettet werden kann – fragt Petrus: »Was aber wird mit uns sein, die wir dir gefolgt sind und alles verlassen haben?« – Nach Markus bitten darauf Jakobus und Johannes selbst, nach Matthäus bittet ihre Mutter, »ihnen also zu tun, dass sie sitzen zu seiner Rechten und zu seiner Linken, wenn er in der Herrlichkeit sein wird«. Sie bitten darum, dass er ihren Glauben durch das Versprechen einer Belohnung befestige. Auf die Frage Petri antwortet Jesus durch ein Gleichniss (Matth. 20, 1–16); auf die Bitte Jakobi aber sagt er: »ihr wisset nicht was ihr bittet« (d. h. ihr bittet um das Unmögliche). Ihr begreift nicht meine Lehre. Meine Lehre besteht in der Verleugnung des persönlichen Lebens, ihr aber bittet um persönlichen Ruhm, um persönliche Belohnung. Den Kelch trinken (das Leben durchleben) könnet ihr ebenso wie ich; zu sitzen aber zu meiner Rechten und zu meiner Linken, d. i. mir gleich zu sein, das stehet keinem zu. Und hier sagt Christus: nur im weltlichen Leben herrschen die Mächtigen und genießen Ruhm und Gewalt des persönlichen Lebens; ihr aber, meine Jünger, sollt wissen, dass der Sinn des menschlichen Lebens nicht in dem persönlichen Glücke, nicht im Vornehmsein, sondern im Knechtsein besteht, nicht im Sichbedienenlassen, sondern in dem Dienen aller. »Des Menschen Sohn ist nicht gekommen, dass er ihm dienen lasse, sondern dass er diene und gebe sein Leben zu einer Erlösung für viele.« Auf die Forderung der Jünger, die ihm ihr gänzliches Nichtverstehen seiner Lehre zeigen, befiehlt ihnen Christus nicht, zu glauben, d. i. jene Abschätzung des Guten und Bösen, die ihrer Lehre entspringt, zu verändern (er weiß, dass dies unmöglich war), sondern er erklärt ihnen jenen Sinn des Lebens, auf dem der Glaube an ihn, d. i. die wahre Abschätzung dessen, was gut und böse, was wichtig und unwichtig ist, beruht.

Auf die Frage Petri: was wird mit uns? welcher Lohn wird uns werden für unsre Opfer? – antwortet Christus durch das Gleichniso (Matth. 20, 1–16) von den Arbeitern, die zu verschiedenen Zeiten angenommen waren und gleichen Lohn empfangen hatten. Christus erklärt Petrus das Nichtverstehen seiner Lehre, woraus auch der Mangel seines Glaubens entspringt. Christus sagt: nur im persönlichen und sinnlosen Leben ist der Lohn der Arbeit, in dem Maße der Arbeit, teuer und wichtig. Der Glaube an den Lohn der Arbeit, in dem Maße der Arbeit, entspringt aus der Lehre des persönlichen Lebens. Dieser Glaube gründet sich auf die Voraussetzung der Rechte, die wir auf etwas zu haben vermeinen; Rechte aber hat der Mensch auf nichts und kann keine haben; er hat bloß die Verpflichtung für das ihm verliehene Gut und kann deshalb mit niemand rechten. Selbst wenn er sein ganzes Leben gegeben hat, kann er dennoch das nicht vergelten, was ihm gegeben worden ist, und deshalb kann der Hausherr nicht ungerecht gegen ihn sein. Wenn aber der Mensch seine Rechte an das Leben geltend macht und mit dem Urquell des Alls, mit dem, was ihm das Leben verliehen hat, rechtet, so beweist er dadurch bloß, dass er den Sinn des Lebens nicht begriffen hat.

Die Menschen, nachdem sie das Glück empfangen haben, verlangen noch etwas. – Es stehen Menschen auf dem Markte; müßig und unglücklich, d. h. sie leben nicht. Der Hausherr kommt und gibt den Leuten Arbeit, d. h. das Leben. Sie nehmen des Hausherrn Gnade an – und bleiben trotzdem unzufrieden. Sie sind unzufrieden, weil sie keinen klaren Begriff von ihrer Lage haben. Sie sind zur Arbeit gekommen mit ihrer falschen Lehre, dass sie ein Recht an ihr Leben und an ihre Arbeit haben und dass folglich ihre Arbeit belohnt werden müsse. Sie begreifen nicht, dass diese Arbeit das höchste Gut ist, das ihnen verliehen ward, in Erwiderung dessen sie sich nur bemühen müssen ein gleiches Gut wiederzugeben, aber keine Belohnung verlangen dürfen. Und deshalb können Menschen, die einen so verkehrten Begriff vom Leben haben, keinen rechten, wahren Glauben besitzen.

Das Gleichnis vom Hausherrn und dem Arbeiter, der vom Felde heimkehrt, womit auf die direkte Bitte der Jünger um Befestigung, um Vermehrung des Glaubens in ihnen erwidert wurde, bestimmt noch klarer die Grundlage jenes Glaubens, den Christus lehrt (Luk. 17, 3–10). Auf die Worte Christi, dass man dem Bruder nicht ein Mal, sondern »siebenzigmalsieben« Mal vergeben solle, entsetzten sich die Jünger über die Schwierigkeit der Erfüllung dieses Gebotes und sprachen: ja, aber man muss glauben um das zu erfüllen; stärke und vermehre in uns den Glauben. Wie sie früher gefragt hatten: was wird uns dafür werden? so sagen sie auch jetzt dasselbe, wovon alle sogenannten Christen sprechen: ich will glauben, aber ich kann es nicht; stärke in uns den Glauben daran, dass das Seil der Rettung uns errettet. Sie sagen: mache, dass wir glauben – dasselbe was sie zu Christus sagten, als sie Wunder von ihm verlangten. Durch Wunder oder Verheißungen des Lohns mache, dass wir an unsere Errettung glauben.

Die Jünger sprachen ebenso wie wir: es wäre gut es so einzurichten, dass zu jenem einzelnen, willkürlichen Leben, welches wir leben, noch der Glaube hinzukäme: dass, wenn wir die Lehre Gottes erfüllen, wir es noch besser haben werden. Wir alle stellen diese, dem ganzen Sinne der Lehre Christi widersprechende Forderung auf und wundern uns, dass wir gar nicht zum Glauben gelangen können. Und auf dieses ursprüngliche Missverständnis, welches damals bestand wie es jetzt besteht, antwortet Christus mit einem Gleichnis, in welchem er erklärt; was der wahre Glaube ist. – Der Glaube kann nicht aus dem Vertrauen zu dem, was Christus sagen wird, entstehen; der »Glaube entsteht nur aus der Erkenntnis unserer Lage. Der Glaube gründet sich nur auf die vernünftige Erkenntnis dessen, was besser ist zu tun, wenn man sich in einer gewissen Lage befindet. Christus zeigt, dass man nicht in andern Menschen diesen Glauben durch Verheißungen von Lohn und angedrohte Strafen erwecken könne; dass dies ein sehr schwaches Vertrauen sein würde, welches bei der ersten Versuchung zusammenbrechen müsste: dass jener Glaube, welcher Berge versetzt, den nichts zu erschüttern vermag, sich auf die Erkenntnis des unvermeidlichen Unterganges und jener einzigen Errettung, die in dieser Lage möglich ist, gründet. Um den Glauben zu haben bedarf es keinerlei Verheißung eines Lohns. Man muss begreifen, dass die einzige Rettung vom unvermeidlichen Untergange des Lebens das gemeinschaftliche Leben nach dem Willen des Herrn ist. Keiner, der dies begriffen hat, wird Bestätigung dessen suchen, sondern er wird ohne alle Ermahnungen sich retten.

Auf die Bitte der Jünger den Glauben in ihnen zu stärken, sagt Christus: wenn der Hausherr mit dem Knechte vom Felde kommt, erlaubt er ihm nicht sofort seine Abendmahlzeit einzunehmen, sondern lässt ihn zuerst das Vieh besorgen und ihm dienen und dann erst sich zu Tische setzen. Der Knecht tut das alles und hält sich nicht für gekränkt, rühmt sich nicht und verlangt weder Dankbarkeit noch Lohn, wohl wissend, dass es so sein muss und dass er nur das tut was er tun muss, dass dies eine notwendige Bedingung des Dienstes und zugleich das wahre Heil seines Lebens ist. »So auch ihr«, spricht Christus; »wenn ihr alles getan habt, was euch befohlen ward, rechnet, dass ihr bloß das getan habt was ihr tun musstet.« Wer seine Beziehungen zum Hausherrn begreift, der wird auch begreifen, dass er nur wenn er sich seinem Willen unterwirft, das Leben haben kann; dass er nur dann wissen wird worin sein Heil besteht und den Glauben erlangen wird, für den es nichts Unmögliches gibt. Dieser Glaube ist es, den Christus lehrt. Seiner Lehre nach gründet sich der Glaube auf die vernünftige Erkenntnis der Bedeutung des Lebens.

Die Grundlage des Glaubens ist, nach Christi Lehre, das Licht.

Joh. 1, 9–12: »Das war das wahrhaftige Licht, welches alle Menschen erleuchtet, die in diese Welt kommen (9). Es war in der Welt, und die Welt ist durch dasselbige gemacht; und die Welt kannte es nicht (10). Er kam in sein Eigentum, und die Seinen nahmen ihn nicht auf (11). Wie viele ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht Gottes Kinder zu werden, die an seinen Namen glauben (12).«

Joh. 3, 19–21: »Das ist aber das Gericht [Fußnote], dass das Licht in die Welt gekommen ist, und die Menschen liebten die Finsternis mehr, denn das Licht; denn ihre Werke waren böse (19). Wer Arges tut, der hasset das Licht, und kommt nicht an das Licht, auf dass seine Werke nicht gestrafet werden (20). Wer aber die Wahrheit tut, der kommt an das Licht, dass seine Werke offenbar werden; denn sie sind in Gott getan (21).«

Für denjenigen, der Christi Lehre begriffen hat, kann die Frage über die Befestigung im Glauben nicht existieren. Der Glaube gründet sich, seiner Lehre nach, auf das Licht – die Wahrheit. Er fordert nie zum Glauben an Christus auf; er ruft nur auf zum Glauben an die Wahrheit.

Joh. 8, 40 spricht er zu den Juden: »Ihr suchet mich zu töten, einen solchen Menschen, der ich euch die Wahrheit gesagt habe, die ich von Gott gehört habe.«

Joh. 8, 46: »Welcher unter euch kann mich einer Sünde bezeichnen? So ich euch aber die Wahrheit sage, warum glaubet ihr mir nicht?«

Joh. 18, 37: »Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit zeugen soll. Wer aus der Wahrheit ist, der höret meine Stimme.«

Joh. 14, 6: »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.« »Der Vater« – spricht er zu seinen Jüngern in demselben Kapitel (16) – »soll euch einen andern Tröster geben, dass er bei euch bleibe ewiglich. Dieser Tröster ist der Geist der Wahrheit, den die Welt nicht siehet und nicht kennet. Ihr aber kennet ihn, denn er bleibet bei euch und wird in euch sein (17).«

Er sagt, dass seine ganze Lehre, dass er selbst die Wahrheit ist.

Die Lehre Christi ist die Lehre der Wahrheit. Und darum ist der Glaube an Christus nicht ein Zutrauen zu irgend etwas, das sich auf Christus bezieht, sondern die Erkenntniss der Wahrheit.

Man kann nicht jemand von der Lehre Christi überzeugen; man kann ihn durch nichts zur Erfüllung derselben bestechen. Wer Christi Lehre begreift, der wird auch den Glauben an ihn haben, denn seine Lehre ist die Lehre der Wahrheit. Wer aber die Wahrheit kennt, die zum Heile nothwendig ist, der kann nicht umhin an sie zu glauben. Und deshalb kann der Mensch, wenn er begriffen hat, dass er wirklich versinkt, nicht umhin nach dem Rettungsseile zu greifen. Und die Frage, wie man tun soll um zu glauben, ist nur eine Frage, die das Nichtbegreifen der Lehre Christi ausdrückt.


Wegen der Textlänge wird mit Teil IX./Abschnitt X. hier begonnen!


X.

[Die Gebote Christi sind für Jedermann ausführbar, ihre Ausführung ist leicht und glückbringend. Das Leben der Welt fordert viel größere Opfer als Christi Gebote. Aufzählung der Bedingungen eines glücklich zu nennenden Lebens. Märtyrer der Welt. Arbeit im Dienste Andrer sichert stets die Erhaltung unsres Lebens. Speisung der fünftausend Mann.]


Wir sagen: es ist schwer nach Christi Lehre zu leben. Wie sollte es auch nicht schwer sein, wenn wir selbst durch unser ganzes Leben unsre Lage sorgfältig vor uns selbst verbergen und sorgfältig in uns das Zutrauen bestärken, dass unsre Lage durchaus keine solche ist, wie sie ist, sondern eine ganz andere. Und dieses Zutrauen, das wir »Glaube« nennen, erheben wir zu einem Heiligtum und mit allen Mitteln, mit Gewalt, durch Einwirkungen auf das Gemüt, durch Drohungen, Schmeicheleien, Täuschungen suchen wir zu diesem falschen Zutrauen heranzulocken. In diesem Fordern des Vertrauens auf das Unmögliche und Unvernünftige gelangen wir so weit, dass wir die Unvernunft selbst dessen, wozu wir Zutrauen verlangen, als ein Zeichen der Wahrhaftigkeit ansehen. Es fand sich ein Christ, welcher sagte: credo quia absurdum, und die andern Christen wiederholen das mit Entzücken, voraussetzend, dass der Unsinn das beste Mittel ist um die Menschen die Wahrheit zu lehren. In einem Gespräche mit mir äußerte unlängst ein gelehrter und kluger Mann, dass die christliche Lehre, als Sittenlehre, nicht viel wert sei. »Alles das, sagte er, kann man bei den Stoikern, bei den Brahminen und im Talmud finden. Das Wesen der christlichen Lehre liegt nicht darin, sondern in der theosophischen Lehre, die in den Dogmen ausgedrückt ist.« Das heißt: nicht das ist teuer in der christlichen Lehre, was ewig und allgemein menschlich, was zum Leben notwendig und vernünftig ist, sondern im Christentum ist das wichtig und wertvoll, was durchaus unverständlich und darum unnütz ist und das, im Namen dessen Millionen von Menschen getötet worden sind.

Wir haben uns eine, auf nichts als auf unsre Bosheit und unsre persönlichen Begierden gegründete, falsche Vorstellung von unsrem und von dem Leben der Welt gemacht und halten den Glauben an diese falsche, äußerlich mit Christi Lehre verbundene Vorstellung für das Notwendigste und Wichtigste für unser Leben. Wäre nicht dieses, durch Jahrhunderte von den Menschen aufrecht erhaltene Vertrauen in die Lüge, so hätte sich die Unwahrheit unsrer Vorstellung vom Leben und die Wahrheit der Lehre Christi offenbart.

Es ist furchtbar zu sagen, mir scheint es jedoch zuweilen so: wenn Christi Lehre mit der aus ihr erwachsenen kirchlichen Lehre gar nicht existierte, so ständen diejenigen, die sich jetzt Christen nennen, der Lehre Christi, d. h. der vernünftigen Lehre über das Heil des Lebens, viel näher als sie jetzt stehen. Ihnen wären die sittlichen Lehren der Propheten der ganzen Menschheit nicht verschlossen. Sie hätten ihre eigenen Verkünder der Wahrheit und hätten ihnen geglaubt. Jetzt aber ist die ganze Wahrheit offenbar und die ganze Wahrheit ist denen, deren Werke böse waren, so furchtbar erschienen, dass sie die Wahrheit in Lüge umgewandelt haben; – und die Menschen haben das Zutrauen zu der Wahrheit verloren. In unserer europäischen Gesellschaft haben längst alle auf die Verkündigung Christi, dass er in die Welt gekommen ist »um von der Wahrheit zu zeugen, und dass deshalb jeder, der von der Wahrheit ist, ihn höret«, sich selbst mit den Worten des Pilatus geantwortet: »Was ist Wahrheit?« – Diese Worte, die eine so traurige und tiefe Ironie über einen einzelnen Römer ausdrücken, haben wir für Ernst genommen und haben sie zu unsrem Glauben gemacht. In unserer Welt leben alle nicht nur ohne Wahrheit und ohne Wunsch sie zu erkennen, sondern auch in der festen Überzeugung, dass von allen müßigen Beschäftigungen die müßigste das Suchen der Wahrheit ist, welche das menschliche Leben lenkt.

Die Lehre des Lebens, von dem, was bei allen Völkern vor unserer europäischen Gesellschaft stets für das Wichtigste gehalten worden, von dem, wovon Christus sprach, es sei »das eine was Not tut«, – diese, und diese allein, ist aus unserem Leben und aus der ganzen menschlichen Tätigkeit ausgeschlossen. Das ist es, womit sich die Einrichtung beschäftigt, die sich Kirche nennt und an die schon längst keiner mehr glaubt, selbst diejenigen nicht, die diese Einrichtung gegründet haben und festhalten.

Das einzige Fenster zum Lichte, auf das die Blicke aller Denkenden und Leidenden gerichtet sind, ist verdeckt. Auf die Fragen: »was bin ich? was soll ich? kann ich nicht mein Leben erleichtern nach der Lehre jenes Gottes, der euren Worten nach gekommen ist um uns zu erlösen?« antwortet man mir: »erfülle die Vorschriften der Obrigkeiten und glaube an die Kirche.« »Weshalb aber leben wir so schlecht auf dieser Welt?« fragt die verzweifelte Stimme des Suchenden, »wozu ist all' das Böse? ist es mir wirklich nicht möglich mich mit meinem Leben von diesem Übel fern zu halten? ist es wirklich nicht möglich dies Übel zu erleichtern?« Man antwortet: »Es ist nicht möglich. Dein Wunsch ein gutes Leben zu führen und dadurch den andern zu helfen – ist Stolz und Hochmut. Das einzige, was möglich ist, ist: sich selbst, d. i. seine Seele für ein zukünftiges Leben zu retten. Wenn du aber an dem Bösen der Welt nicht teilnehmen willst, so verlasse die Welt. Dieser Weg steht jedem offen (spricht die Lehre der Kirche): wisse jedoch, dass du, wenn du diesen Weg wählst, nicht mehr an dem Leben der Welt teilnehmen darfst, dass du aufhören sollst zu leben und dich selbst langsam töten sollst.« – »Es gibt nur zwei Wege, sagen unsere Lehrer: glauben, uns der Macht unterwerfen und uns an jenem Übel beteiligen, das wir geschaffen haben, oder die Welt verlassen um ins Kloster zu gehen, nicht essen und nicht trinken, sein Fleisch und Blut am Pfahle faulen lassen, sich beugen und aufrichten und – nichts für die Menschen tun.«

Das heißt: entweder die Lehre Christi als unausführbar und damit die von der Religion geheiligte Gesetzlosigkeit des Lebens anerkennen; oder dem Leben entsagen, was einem langsamen Selbstmorde gleichkommt.

Wie merkwürdig demjenigen, der Christi Lehre begriffen hat, die Verirrung erscheinen mag, laut welcher zugestanden wird, dass diese Lehre sehr gut, für die Menschen aber unausführbar sei; so ist doch jene Verirrung, laut welcher festgestellt wird, dass ein Mensch, der nicht in Worten, sondern in der Tat Christi Lehre befolgen will, aus der Welt gehen soll, noch merkwürdiger.

Der Irrtum, dass es für einen Menschen besser ist sich von der Welt zurückzuziehen, als sich ihren Versuchungen auszusetzen, ist ein alter, den Hebräern längst bekannter Irrtum, aber nicht nur dem Geiste des Christentums, sondern auch der jüdischen Religion vollkommen fremd. Gegen diese Verirrung ist, noch lange vor Christus, die Erzählung über den Propheten Jonas geschrieben worden, die Christus liebte und die oft von ihm angeführt wurde. Die Idee der Erzählung ist von Anfang bis zum Ende die eine: der Prophet Jonas will allein gerecht sein und zieht sich von den verderbten Menschen zurück. Gott aber zeigt ihm, dass er, ein Prophet, nur dazu da ist um den verirrten Menschen seine Kenntnis der Wahrheit mitzuteilen und dass er deshalb nicht die verirrten Menschen fliehen, sondern in Gemeinschaft mit ihnen leben soll. Jonas verachtet die verderbten Niniver und meidet sie. Wie aber auch Jonas seiner Bestimmung zu entrinnen sucht, Gott führt ihn dennoch mit Hilfe des Walfisches zu den Ninivern zurück, und es geschieht das was Gott will, d. h. die Niniver nehmen durch Jonas' Vermittlung die Lehre Gottes an und ihr Leben wird ein besseres. Jonas aber, weit entfernt sich darüber zu freuen das Werkzeug des Willens Gottes gewesen zu sein, ist unzufrieden und eifersüchtig auf die Niniver; er möchte allein vernünftig und gut sein. Er entfernt sich in die Wüste, beweint sein Schicksal und rechtet mit Gott. Und da wächst über seinem Haupte in einer Nacht ein Kürbis, der ihn vor der Sonne beschützt, und in einer andern Nacht frisst der Wurm den Kürbis auf. Jonas macht Gott noch verzweifeltere Vorwürfe darüber, dass der ihm teure Kürbis umgekommen ist. Da spricht Gott zu ihm: du trauerst um den Kürbis, den du dein eigen nennst; er ist in einer Nacht entstanden und in einer Nacht vergangen; soll ich aber nicht trauern um das große Volk, das dem Verderben entgegenging, weil es lebte wie das Vieh und die rechte Hand nicht von der linken zu unterscheiden vermochte? Deine Erkenntnis der Wahrheit war nur dazu nutze um weiter gegeben zu werden denen, die sie nicht besaßen.

Christus kannte diese Erzählung und brachte sie oft vor; außerdem wird aber in den Evangelien erzählt, wie Christus selbst, nach dem Besuche des in der Wüste lebenden Johannes des Täufers, vor dem Beginne seiner Predigten, derselben Versuchung verfiel und vom Satan (Betrug) in die Wüste geführt wurde zur Versuchung; wie Christus diesen Betrug besiegte, wie er in der Macht des Geistes nach Galiläa heimkehrte und seitdem, keinerlei noch so verderbte Menschen verabscheuend, sein Leben unter Zöllnern, Pharisäern und Sündern zubrachte und ihnen die Wahrheit predigte [Fußnote].

Nach der kirchlichen Lehre jedoch hat Christus, der Gott-Mensch, uns das Beispiel des Lebens gegeben. Sein ganzes uns von ihm bekanntes Leben verbringt Christus im Strudel des Lebens selbst: mit Zöllnern, Buhlerinnen und mit den Pharisäern in Jerusalem. Christi Hauptgebote sind: die Liebe zum Nächsten und das Verbreiten seiner Lehre durch das lebendige Wort. Das eine wie das andere verlangt eine fortwährende Gemeinschaft mit der Welt. Und plötzlich wird der Schluss gezogen, dass man nach Christi Lehre von allen fortgehen, mit niemandem zu tun haben und – sich an den Pfahl stecken soll. Es erweist sich, dass man, um Christi Beispiel zu folgen, gerade das Gegenteil von dem tun soll, was er gelehrt und was er getan hat.

Die Lehre Christi nach den kirchlichen Erklärungen erscheint den weltlichen, wie den im Mönchsstande lebenden Menschen nicht als eine Lehre über das Leben, wie man dieses besser für sich und für andere einrichten solle, sondern für die weltlichen Menschen als eine Lehre über das, woran sie glauben sollen um, schlecht lebend, dennoch im zukünftigen Leben erlöst zu werden, und für die im Mönchsstande Lebenden wie sie dieses Leben für sich noch schlechter machen sollen als es ist.

Christus aber lehrt nicht das.

Christus lehrt die Wahrheit, und wenn eine abstrakte Wahrheit Wahrheit ist, so wird sie auch in der Wirklichkeit Wahrheit sein. Wenn ein Leben in Gott das allein wahre und glückselige ist an sich selbst, so ist es wahr und glückselig auch hier auf Erden, bei allen Zufälligkeiten des Lebens. Wenn das Leben hier die Lehre Christi über das Leben nicht bestätigen würde, so würde diese Lehre keine wahre sein.

Christus beruft nicht vom Guten zum Schlimmeren, sondern im Gegenteil vom Schlimmeren zum Guten. Er bemitleidet die Menschen, die ihm wie verlorene, ohne Hirten zu Grunde gehende Schafe vorkommen, und verspricht ihnen einen Hirten und eine gute Weide. Er sagt, dass seine Jünger um seiner Lehre willen verfolgt werden, und ermahnt sie die Verfolgungen der Welt zu dulden und mit Standhaftigkeit zu ertragen. Er sagt aber nicht, dass sie mehr leiden werden, wenn sie seiner Lehre, als wenn sie der Lehre der Welt folgen werden; im Gegenteil: er sagt, dass diejenigen, die der Lehre der Welt folgen, unglücklich sein, die aber seiner Lehre folgen, glückselig sein werden.

Christus lehrt nicht die Erlösung durch den Glauben oder das Asketentum, d. i. den Betrug der Einbildung oder das freiwillige Märtyrertum in diesem Leben; er lehrt ein Leben, in welchem der Mensch, außer der Errettung des persönlichen Lebens vom Untergange, bereits hier, in dieser Welt, weniger Leiden und mehr Freuden empfindet, als im persönlichen Leben.

Christus sagt den Menschen, dass sie, selbst wenn sie allein seine Lehre befolgen inmitten derer, die sie nicht befolgen, dennoch dadurch nicht unglücklicher, sondern im Gegenteil glücklicher sein werden, als diejenigen, die seine Lehre nicht befolgen, Christus sagt, es sei eine sichere weltliche Berechnung um das persönliche Leben nicht zu sorgen.

Mark. 10, 28-31. »Da sagte Petrus zu ihm: Siehe, wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt (28). Jesus antwortete und sprach: Wahrlich, ich sage euch: es ist niemand, so er verlässt Haus, oder Brüder, oder Schwestern, oder Vater, oder Mutter, oder Weib, oder Kinder, oder Äcker, um meinetwillen und um des Evangelium willen (29); Der nicht hundertfältig empfange, jetzt in dieser Zeit, Häuser und Brüder, und Schwestern, und Mütter, und Kinder, und Äcker, mit Verfolgungen, und in der zukünftigen Welt das ewige Leben (30). Viele aber werden die letzten sein, die die ersten sind; und die ersten sein, die die letzten sind (31).« (Matth. 19, 27-30; Luk. 18, 28-30.)

Es ist wahr: Christus erwähnt, dass denen, die ihm folgen werden, die Verfolgungen derer bevorstehen, die ihm nicht folgen werden; er sagt aber nicht, dass seine Jünger dadurch etwas verlieren werden. Im Gegenteil, er sagt: seine Jünger werden hier, in dieser Welt, mehr Freuden haben als die, so nicht seine Jünger sind.

Dass Christus dies sagt und denkt, daran kann kein Zweifel bestehen, nach der Deutlichkeit seiner Worte sowohl wie nach dem Sinne der ganzen Lehre; nach dem, wie er gelebt hat und wie seine Jünger lebten. – Ist das aber wahr?

Wenn wir die Frage: wessen Lage besser sei, die der Befolger der Lehre Christi oder die der Befolger der weltlichen Lehre, abstrakt erörtern, können wir nicht umhin zu sehen, dass die Lage der Jünger Christi schon darum besser sein muss, weil die Jünger Christi, indem sie allen Gutes tun, keinen Hass in den Menschen erwecken werden. Indem die Jünger Christi keinem Böses zufügen, können sie nur durch böse Menschen verfolgt werden; die Befolger der weltlichen Lehre dagegen müssen von allen verfolgt werden, da das Gesetz der weltlichen Lehre ein Gesetz des »Kampfes« ist, d. h. der gegenseitigen Verfolgung. Die Zufälligkeiten der Leiden aber sind dieselben für die einen wie für die andern, bloß mit dem Unterschiede, dass die Jünger Christi vorbereitet sein werden sie entgegenzunehmen, die Jünger der Welt dagegen alle ihre Seelenkräfte darauf verwenden, werden ihnen zu entgehen; indem sie leiden, werden die Jünger Christi denken, dass ihre Leiden für die Welt notwendig sind; die Jünger der Welt aber werden, wenn sie leiden, nicht wissen, wozu sie leiden. Aus alledem müssen wir schließen, dass die Lage der Jünger Christi eine vorteilhaftere sein wird, als die der Jünger der Welt. Ist sie es aber auch in Wirklichkeit?

Um sich davon zu überzeugen möge jeder von uns sich die schweren Momente seines Lebens, die Körper- und Seelenleiden, die er erduldet hat und noch erduldet, ins Gedächtnis zurückrufen und sich fragen: warum habe ich alle diese Leiden erduldet, um Christi willen oder um der Welt willen? Möge jeder aufrichtige Mensch sich genau sein ganzes Leben vergegenwärtigen, und er wird sehen, dass er nie, nicht ein einziges Mal durch die Erfüllung der Lehre Christi gelitten hat, sondern dass die meisten Trübsale seines Lebens nur dadurch entstanden sind, dass er gegen seine Neigung der ihn bindenden Lehre der Welt gefolgt ist.

In meinem, ausschließlich im weltlichen Sinne glücklichen Leben kann ich so viele Leiden aufzählen, die ich um der Lehre der Welt willen ertragen, dass sie für einen guten Märtyrer um Christi willen genügen würden. Alle schwersten Momente meines Lebens, von den Gelagen und Ausschweifungen der Studentenzeit ab bis zum Duelle, zum Kriege und jenen ungesunden, unnatürlichen und quälenden Lebensbedingungen, in denen ich jetzt lebe, das alles ist ein Märtyrertum um der Lehre der Welt willen. So spreche ich über mein, im weltlichen Sinne ausnahmsweise glückliches Leben. Wie viele Märtyrer aber gibt es, die gelitten haben und leiden um der Lehre der Welt willen, deren Leiden ich mir nicht einmal lebhaft vorzustellen vermag!
Wir sehen bloß deshalb nicht die ganze Schwierigkeit und Gefahr der Erfüllung der Lehre der Welt, weil wir annehmen, dass alles, was wir um ihretwillen ertragen, unumgänglich notwendig ist.

Wir halten uns davon überzeugt, dass alle Trübsale, die wir uns selbst bereiten, unvermeidliche Bedingungen unsres Lebens sind, und können deshalb nicht begreifen, dass Christus gerade lehrt, wie wir uns von unseren Trübsalen befreien und glücklich leben sollen.

Um im Stande zu sein die Frage zu entscheiden, welches Leben das glücklichere ist, müssen wir uns mindestens in Gedanken von dieser falschen Vorstellung befreien und ohne Vorurteil in und um uns schauen.

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Teil I.: https://steemit.com/deutsch/@joe-c-whisper/aufklaerung-durch-weltliteratur-leo-lew-tolstoi-worin-besteht-mein-glaube-teil-i

Teil II.: https://steemit.com/deutsch/@joe-c-whisper/aufklaerung-durch-weltliteratur-leo-lew-tolstoi-worin-besteht-mein-glaube-teil-ii

Teil III.: https://steemit.com/deutsch/@joe-c-whisper/aufklaerung-durch-weltliteratur-leo-lew-tolstoi-worin-besteht-mein-glaube-teil-iii

Teil IV.: https://steemit.com/deutsch/@joe-c-whisper/aufklaerung-durch-weltliteratur-leo-lew-tolstoi-worin-besteht-mein-glaube-teil-iv

Teil V.: https://steemit.com/deutsch/@joe-c-whisper/aufklaerung-durch-weltliteratur-leo-lew-tolstoi-worin-besteht-mein-glaube-teil-v

Teil VI.: https://steemit.com/deutsch/@joe-c-whisper/aufklaerung-durch-weltliteratur-leo-lew-tolstoi-worin-besteht-mein-glaube-teil-vi

Teil VII.: https://steemit.com/deutsch/@joe-c-whisper/aufklaerung-durch-weltliteratur-leo-lew-tolstoi-worin-besteht-mein-glaube-teil-vii

Teil IX.: https://steemit.com/deutsch/@joe-c-whisper/aufklaerung-durch-weltliteratur-leo-lew-tolstoi-worin-besteht-mein-glaube-teil-ix

Teil X.: https://steemit.com/deutsch/@joe-c-whisper/aufklaerung-durch-weltliteratur-leo-lew-tolstoi-worin-besteht-mein-glaube-teil-x

Teil XI.: https://steemit.com/deutsch/@joe-c-whisper/aufklaerung-durch-weltliteratur-leo-lew-tolstoi-worin-besteht-mein-glaube-teil-xi


Quelle: http://gutenberg.spiegel.de/buch/worin-besteht-mein-glaube-9472/1


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