Aufklärung durch Weltliteratur – Leo (Lew) Tolstoi „Worin besteht mein Glaube“ Teil IX.

in #deutsch6 years ago (edited)

wbmg9.png


Werte Steemis,

in der Reihe, „Aufklärung durch Weltliteratur“ möchte ich euch und den "Gläubigen" unter euch, ein weiteres Meisterwerk Leo Tolstois vorstellen. Tolstoi wurde u. a. für dieses großartige Meisterwerk exkommuniziert.¹ Die Wahrheit schmerzt und nur der Geist (Vernunft) kann heilen.


Gute Bücher und Schriften sind wie Austern, will man an die Perlen gelangen, muss man tief tauchen, Miesmuscheln hingegen, liest man am Strand auf.


Kritik:

Tolstoi gehört sicher zu den bedeutendsten Schriftstellern aller Zeiten, die Verantwortung, die er mit diesem Meisterwerk übernimmt, unterstreicht seine Einzigartigkeit.

Lew Tolstoi:

Graf Leo/Ljew/Lew Tolstoi 1828 - †1910; entstammte einer alten russ. Adelsfamilie (Nikolajewitsch). Er war im Gegensatz zu Dostojewski wohlhabend. Tolstoi war nicht nur ein großartiger Dichter, vor allem war er ein epochaler Romancier. Er besuchte kurzzeitig die Universität Kasan, wurde Offizier und bereiste später Europa. Geschockt über den europäischen Materialismus, zog er sich auf sein Familienanwesen zurück, wo er dann seine größten Romane schrieb.

Zu seiner Bekehrung führte ihn das Gefühl von der Arbeit anderer zu leben, und so verfasste er zahlreiche religiöse, sozialkritische und ästhetische Traktate, die sich ganz scharf gegen die bestehenden Ordnungen wendeten. Da seine Predigten hohes Ansehen erlangten, entstand gegen seinen Willen, eine Glaubensgemeinschaft christlicher Anarchisten und Pazifisten - die Tolstojaner -


Seine bekanntesten Werke:

Krieg und Frieden, Anna Karenina, Kindheit, Sewastopol, Kosaken, Beichte, Was sollen wir tun?, Was ist Kunst, Der Tod des Iwan Iljitsch, Die Kreutzersonate, Macht der Finsternis, Auferstehung¹, Der lebende Leichnam, Hatschi Murat u. v. m.


Leo Tolstoi

Worin besteht mein Glaube?

Teil IX.

Eine Studie von Graf Leo Tolstoi


X.

[Die Gebote Christi sind für Jedermann ausführbar, ihre Ausführung ist leicht und glückbringend. Das Leben der Welt fordert viel größere Opfer als Christi Gebote. Aufzählung der Bedingungen eines glücklich zu nennenden Lebens. Märtyrer der Welt. Arbeit im Dienste Andrer sichert stets die Erhaltung unsres Lebens. Speisung der fünftausend Mann.]


… Gehet heran an einen Menschenhaufen, namentlich städtischer Leute, und blicket in diese erschöpften, erregten und kranken Gesichter und gedenket dann eures eigenen Lebens und des Lebens derjenigen Leute, aus deren Vergangenheit euch zufällig einige Einzelheiten bekannt geworden sind; erinnert euch jener gewaltsamen Todesfälle, erinnert euch der Selbstmorde, über die ihr vernommen, und fragt euch: weshalb alle diese Qualen des Todes, woher diese Verzweiflung, die zum Selbstmorde geführt? Und ihr werdet sehen – wie sonderbar dies anfangs erscheinen mag –, dass neun Zehntel der menschlichen Leiden um der Lehre der Welt willen erduldet werden, dass alle diese Leiden unnütz sind und gar nicht zu sein brauchten – dass die Mehrzahl der Menschen Märtyrer der Lehre der Welt sind.

Unlängst fuhr ich an einem regnerischen Herbstsonntage auf der Pferdebahn über den Marktplatz am Sucharewo-Turm. Auf ei ner Strecke von einer halben Werst schob der Wagen einen dichten Menschenknäuel auseinander, der sich sofort hinter ihm wieder schloss. Vom Morgen bis zum Abend drängen sich hier im Schmutze Tausende von Menschen, von denen die meisten hungrig und zerlumpt sind, und stoßen, schimpfen, betrügen und hassen einander. Dasselbe geschieht auf allen Märkten, namentlich in großen Städten. Den Abend verbringen diese Leute in der Schenke und im Wirtshaus, die Nacht in ihren Winkeln und Löchern. Der Sonntag ist der beste Tag ihrer Woche. Am Montag erwachen sie aus ihrem Rausch in ihren verpesteten Kammern, stärken sich durch neuen Rausch und gehen dann an ihre ihnen überdrüssig gewordene Arbeit.

Versetzt euch in das Leben dieser Leute, in den Zustand, den sie verlassen haben um denjenigen zu wählen, in dem sie sich jetzt befinden; denkt euch hinein in die unaufhörlichen Mühseligkeiten, die diese Leute, Männer und Weiber, freiwillig ertragen, – und ihr werdet sehen, dass sie wahrhafte Märtyrer sind.

Alle diese Leute haben Haus, Acker, Vater, Brüder, oft Weib und Kind verlassen, haben allem, selbst dem Leben entsagt und sind in die Stadt gekommen um das zu erringen, was nach der Lehre der Welt jedem von ihnen für unentbehrlich gilt. Und sie alle – gar nicht zu sprechen von jenen Tausenden Unglücklicher, die alles verloren haben und sich nur noch mit Gekröse und Branntwein in den Nachtherbergen durchschlagen – alle, vom Fabrikarbeiter, Fuhrmann, von der Näherin und dem Freudenmädchen an bis zum reichen Kaufmann und bis zum Minister und ihren Frauen, alle ertragen das schwerste, unnatürlichste Leben und haben dennoch das, was ihnen nach der Lehre der Welt für das Notwendigste gilt, nicht errungen.

Suchet unter diesen Leuten, vom Armen bis zum Reichen, und findet einen Menschen, dem das, was er erwirbt, hinreicht zu dem, was er für notwendig, für unentbehrlich hält nach der Lehre der Welt, und ihr werdet sehen, dass ihr nicht einen unter Tausenden finden werdet. Jeder plagt sich aus allen Kräften um das zu erringen, was er nicht braucht, was aber die Lehre der Welt von ihm verlangt und dessen Nichtbesitz sein Unglück ausmacht. Und sobald er das Verlangte errungen hat, wird von ihm wieder anderes verlangt, und so geht diese Sisyphus-Arbeit, die das Leben der Menschen vernichtet, fort ohne Ende. Nehmet eine Abstufung der Vermögensverhältnisse der Menschen an, die von 300 bis 50 000 Rubel jährlich verleben, und ihr werdet selten einen Menschen finden, der sich nicht abquälte und erschöpfte bei der Arbeit, um 400 Rubel zu verdienen, wenn er 300 hat, und 500 zu erwerben, wenn er 400 besitzt, und so ohne Ende. Und es gibt nicht einen, der 500 hätte und freiwillig zu dem Leben desjenigen überginge, der 400 hat. Und wenn es auch solche Beispiele gibt, so geschieht dieser Übergang nicht darum, um das Leben zu erleichtern, sondern um Geld zu sammeln und es bei Seite zu legen. Alle Massen mehr und mehr ihr ohnehin belastetes Leben durch neue Mühen beschweren und ihre Seele vollständig der Lehre der Welt hingeben. Heute hat er Rock und Galoschen erworben, morgen Uhr und Kette, übermorgen eine Wohnung mit Sofa und Lampe, darauf Teppiche in vier Gastzimmer und Samtkleider, dann ein Haus, Pferde und Bilder in Goldrahmen, dann – erkrankt er aus Überanstrengung seiner Kräfte und stirbt. Ein anderer setzt dieselbe Arbeit fort und opfert sein Leben demselben Moloch und weiß gleichfalls selbst nicht wozu er das alles getan. Vielleicht aber ist dieses Leben, im Verlaufe dessen der Mensch das alles tut, an sich selbst ein glückliches?

Wägt dieses Leben nach dem Gewichte dessen, was alle Menschen stets »Glück« genannt haben, und ihr werdet sehen, dass dies Leben ein entsetzlich unglückliches ist. In der Tat: welches sind die Hauptbedingungen eines irdischen Glücks, die Bedingungen, über die niemand streiten würde?

Eine der ersten und von allen anerkannten Bedingungen zum Glücke ist ein Leben, in welchem die Beziehungen des Menschen zu der Natur aufrecht erhalten bleiben, d. i. ein Leben unter freiem Himmel, bei Sonnenlicht und freier Luft; Gemeinschaft mit der Erde, mit Pflanzen und Tieren. Alle Menschen haben stets die Entbehrung alles dessen für ein großes Unglück angesehen. Die im Kerker Schmachtenden empfinden diese Entbehrung am heftigsten. – Betrachtet nun das Leben der Menschen, die nach der Lehre der Welt leben. Je größere Erfolge sie, nach der Lehre der Welt, erzielt, umso mehr wird ihnen diese Bedingung zum Glück entzogen. Je höher das weltliche Glück steht, das sie errungen, umso weniger sehen sie das Licht der Sonne, Wiesen und Wälder, wilde und Haus-Tiere. Viele von ihnen, fast alle Frauen erreichen das Greisenalter ohne mehr als ein- oder zweimal im Leben den Sonnenaufgang und Morgen und ohne je die Wiesen und Wälder anders gesehen zu haben, als von der Kalesche oder vom Waggon aus, und nicht nur ohne je etwas gesäet oder gepflanzt, oder eine Kuh, ein Pferd, ein Huhn aufgefüttert und aufgezogen, sondern auch ohne einen Begriff davon zu haben, wie die Tiere zur Welt kommen, wie sie aufwachsen und leben. Diese Menschen sehen nur Gewebe, Steine und Holz, das durch menschliche Mühe verarbeitet ist, und auch das sehen sie nicht bei Sonnenlicht, sondern bei künstlicher Beleuchtung; sie hören nur Laute von Maschinen, Equipagen, Kanonen und musikalischen Instrumenten, sie riechen nur spirituöse Gerüche und Tabakrauch; zu Händen und Füssen sind sie umringt von Gewebe, Stein und Holz; ihres schwachen Magens wegen gemessen sie größtenteils Verdorbenes und Übelriechendes. Ihr Herumziehen von Ort zu Ort rettet sie nicht von diesen Entbehrungen. Sie fahren in geschlossenen Kasten, im Dorfe sowohl wie im Auslande; wohin sie auch kommen mögen, überall haben sie dieselben Steine und dasselbe Holz unter den Füssen, dieselben Vorhänge, die ihnen das Licht der Sonne verhüllen, dieselben Lakaien, Kutscher und Hausknechte, die sie nicht zur Gemeinschaft mit der Erde, den Pflanzen und Tieren zulassen. Wo sie auch sein mögen, überall entbehren sie, Gefangenen gleich, diese Bedingung des Glücks. Und wie der Gefangene sich mit dem auf dem Gefängnishofe hervorgesprossenen Grase, mit einer Spinne, einer Maus tröstet, so trösten sich auch diese Menschen mitunter mit siechen Stubenpflanzen, mit einem Papageien, einem Hündchen, einem Affen, die sie auch noch nicht selbst füttern und aufziehen.

Eine andere unzweifelhafte Bedingung zum Glücke ist – Arbeit: erstens angenehme und freie Arbeit; zweitens physische Arbeit, die Appetit und festen, beruhigenden Schlaf gibt. Auch hier: ein je größeres Glück, ihren Begriffen der Lehre der Welt nach, die Menschen errungen haben, umso mehr entbehren sie auch diese zweite Bedingung des Glücks. Alle Glücklichen der Welt, Würdenträger und Millionäre entbehren, Gefangenen gleich, entweder gänzlich die Arbeit und kämpfen erfolglos gegen Krankheiten, die von Mangel an physischer Anstrengung herrühren, und kämpfen noch erfolgloser gegen die sie überwältigende Langeweile (ich sage »erfolglos«, weil die Arbeit nur dann eine freudige ist, wenn sie unzweifelhaft notwendig ist; sie aber haben nichts nötig), oder sie tun eine ihnen verhasste Arbeit, wie die Bankiers, die Prokurore, Gouverneure und Minister mit ihren Frauen, die Salons einrichten und Prachtgeschirre und Putz für sich und ihre Kinder anschaffen. (Ich sage »verhasste«, weil ich noch nie unter ihnen einem Menschen begegnet bin, der seine Arbeit gepriesen und sie mindestens mit dem gleichen Vergnügen verrichtet hätte, wie mancher Hausknecht den Schnee vor dem Hause wegfegt.) Alle diese Glücklichen, entbehren entweder der Arbeit oder sind zu einer unliebsamen Arbeit gezwungen, d. h. sie befinden sich beinahe in derselben Lage wie die Galeerensträflinge.

Die dritte zweifellose Bedingung zum Glück ist die Familie. Und abermals, je weiter die Menschen im weltlichen Erfolge vorgeschritten sind, umso weniger ist ihnen dieses Glück zugänglich. Die Mehrzahl sind Ehebrecher und entsagen vollkommen bewusst den Freuden der Familie, sich nur deren Unbequemlichkeiten unterwerfend. Wenn sie aber auch nicht Ehebrecher sind, so sind doch die Kinder für sie keine Freude, sondern eine Last, der sie sich selbst entziehen, indem sie oft durch alle möglichen, selbst die qualvollsten Mittel sich bemühen ihre Ehe unfruchtbar zu machen. Wenn sie aber Kinder haben, so entbehren sie die Freude der Gemeinschaft mit ihnen. Ihren Gesetzen nach müssen sie ihre Kinder Fremden, größtenteils ganz Fremden weggeben, zuerst Ausländern, dann Staatserziehern, sodass sie von der Familie nur Kummer haben, d. h. Kinder, die von Jugend auf ebenso unglücklich werden wie die Eltern und in Beziehung auf die Eltern nur ein Gefühl haben – den Wunsch ihres Todes, um sie zu beerben [Fußnote]. Sie sind nicht in einen Kerker eingesperrt, aber die Folgen ihres Lebens in Beziehung auf ihre Familie sind qualvoller als jenes Entbehren der Familie, dem die Gefangenen unterworfen sind.

Die vierte Bedingung zum Glücke ist eine freie, liebevolle Gemeinschaft mit allen verschiedenartigen Menschen der Welt. Und abermals: eine je höhere Stufe die Menschen in der Welt erreicht haben, um so mehr entbehren sie diese Hauptbedingung des Glücks. Je höher, um so enger, beschränkter ist jener Kreis von Menschen, mit denen eine Gemeinschaft möglich ist, und umso niedriger ihrer geistigen und sittlichen Entwickelung nach stehen jene wenigen Menschen, die diesen Zauberkreis bilden, aus dem es keinen Ausweg gibt. Dem Bauer und seinem Weibe steht die Gemeinschaft mit der ganzen Welt offen, und wenn eine Million Menschen mit ihnen nicht in Gemeinschaft treten will, so bleiben ihm noch 80 Millionen ebensolcher arbeitender Menschen wie er, mit denen er von Archangelsk bis Astrachan, ohne Visiten und Vorstellungen abzuwarten, sofort in die nächste, brüderliche Gemeinschaft tritt. Für den Beamten, für den Kaufmann und ihre Frauen gibt es hunderte von ihresgleichen; die Höheren aber lassen sie nicht zu sich heran und die Niedrigeren sind alle von ihnen abgeschnitten. Für den reichen Weltmann und seine Frau gibt es einige zehn, zwanzig, fünfzig weltliche Familien; alles übrige ist von ihnen abgeschnitten. Für den Minister und den Millionär mit ihren Familien gibt es vielleicht zehn ebenso hochgestellte oder reiche Leute wie sie. Für Kaiser und Könige wird der Kreis noch enger. – Ist denn das nicht eine Kerkerhaft, bei welcher der Gefangene die Möglichkeit der Gemeinschaft nur mit zwei, drei Gefangenen hat?

Die fünfte Bedingung zum Glücke ist endlich: Gesundheit und ein schmerzloser Tod. Und wiederum: je höher die gesellschaftliche Stufe ist, auf der die Menschen stehen, umso mehr entbehren sie diese Bedingung des Glücks. Nehmet im Durchschnitt einen Mann aus dem wohlhabenden Stande und einen Bauern mit seinem Weibe: ungeachtet all' des Hungers und der übermäßigen Arbeit, die der Bauernstand, nicht durch eigne Schuld, sondern durch menschliche Grausamkeit erträgt – vergleichet die beiden miteinander und ihr werdet sehen, dass Mann und Weib, je niedriger sie stehen, um so gesunder, und je höher, um so kränklicher sind. – Ruft euch jene Reichen und ihre Frauen ins Gedächtnis, die ihr gekannt habt und kennt, und ihr werdet sehen, dass die Mehrzahl von ihnen krank sind. Ein gesunder Mensch, der sich nicht fortwährend oder periodisch – den Sommer hindurch – behandelt, ist eine ebensolche Ausnahme, wie ein Kranker im Arbeiterstande. Alle diese Glücklichen beginnen ohne Ausnahme mit dem Organismus, der in ihrem Dasein zu einer natürlichen Bedingung der Entwickelung geworden ist; alle Zahnlosen, alle Ergrauten oder Kahlköpfigen werden es in den Jahren, wenn der arbeitende Mensch anfängt in volle Kraft zu treten. Fast alle sind von Nerven-, Magen- und Geschlechtskrankheiten heimgesucht, die durch Unmäßigkeit, Trunksucht, Ausschweifung und Kuren entstanden, und diejenigen, die nicht jung sterben, verbringen die Hälfte ihres Lebens mit Morphium-Einspritzungen u. dergl. oder sterben als verkommene Krüppel, unfähig von eignen Mitteln zu leben und nur den Parasiten jener Ameisen gleich zu leben im Stande, die durch Sklaven gefüttert werden. Erinnert euch, wie sie gestorben sind: der eine hat sich erschossen, der andere ist an der Syphilis verfault, der dritte ist als Greis an Konfortativen gestorben, der vierte als Jüngling an Peitschenhieben, denen er sich selbst zur Erregung des Sinnenreizes unterworfen; einer ist bei lebendigem Leibe von Läusen, ein anderer von Würmern aufgezehrt worden; der eine hat sich zu Tode getrunken, der andere zu Tode gegessen; der ist an Morphium und die am künstlichen Abort gestorben. Einer nach dem andern geht zu Grunde um der Lehre der Welt willen. Und haufenweise folgen ihnen die Menschen und suchen, Märtyrern gleich, Qualen und Untergang.

Ein Leben nach dem andern wirft sich unter den Wagen dieses Gottes, und der Wagen geht über sie hin, ihr Leben zerfetzend – und neue, immer neue Opfer werfen sich stöhnend und schluchzend unter das todbringende Rad!

»Die Erfüllung der Lehre Christi ist schwer.« Christus spricht: wer mir folgen will, der soll Haus und Acker und Brüder verlassen und mir, seinem Gotte, folgen und er wird in dieser Welt hundertfach wieder empfangen Häuser, Äcker, Brüder und außer alledem das ewige Leben. – Und niemand folgt – Die Lehre der Welt sagt: verlasse Haus, Acker und Brüder, verlasse dein Dorf und gehe in die verderbte Stadt, lebe dein Leben lang als Bader, nackt, im Dampfe die Rücken andrer einseifend, oder als Krämer, dein Leben lang fremde Kopeken im Keller zählend, oder als Richter und Prokuror, dein ganzes Leben im Gerichte und über Papieren verbringend, damit beschäftigt das Leben der Unglücklichen zu verschlimmern, oder als Minister, dein Leben lang geschäftig unnütze Papiere unterschreibend, oder als Militär, dein Leben lang Menschen tötend – lebe dies abscheuliche Leben, das stets im qualvollen Tode endet, und du wirst nichts erringen in diesem Leben und auch kein ewiges Leben erhalten. – Und alle folgen. – Christus hat gesagt: »nimm dein Kreuz auf dich und folge mir«, d. h. trage geduldig das Los, das dir beschieden, und gehorche mir, deinem Gotte – und niemand folgt. Aber dem ersten besten, verlorenen, zu nichts als zum Totschlage tauglichen Menschen in Epauletten, dem es einfällt zu sagen: Nimm – nicht das Kreuz, sondern den Ranzen und ein Gewehr und folge mir zu allen erdenklichen Qualen und zum sicheren Tode – dem folgen alle.

Familie, Eltern, Weib und Kind verlassend, in Narrenkleider gehüllt und sich der Macht des ersten besten Menschen mit hohem Titel unterwerfend, durchfroren, hungrig, erschöpft durch übermäßige Märsche, gehen sie gleichviel wohin, wie eine Herde Ochsen zur Schlachtbank«, sie sind aber nicht Ochsen, sondern Menschen. Sie können nicht umhin zu wissen, dass sie zur Schlachtbank getrieben werden; mit der unlösbaren Frage: wozu? und mit Verzweiflung im Herzen gehen sie und sterben vor Kälte und Hunger und ansteckenden Krankheiten, so lange bis sie unter die Kugeln kommen und ihnen befohlen wird unbekannte Menschen zu töten. Sie töten und sie werden getötet. Und niemand von den Tötenden weiß: warum und weshalb? – Die Türken braten sie lebendig am Feuer, reißen ihnen die Haut herunter, zerfetzen ihre Eingeweide ... Und morgen pfeift wieder irgend jemand und wieder gehen alle zu entsetzlichen Qualen, zum Tode und zum offenbaren Bösen. Und keiner findet das schwer. Nicht nur die, welche leiden, sondern selbst Väter und Mütter finden nicht, dass dies schwer sei; sie raten selbst ihren Söhnen zu gehen. Ihnen erscheint das nicht allein notwendig und unumgänglich, sondern sogar gut und sittlich.

Man könnte glauben, die Erfüllung der Lehre Christi sei schwer, furchtbar und qualvoll, wenn die Erfüllung der Lehre der Welt sehr leicht, gefahrlos und angenehm wäre. Die Erfüllung der Lehre der Welt jedoch ist viel schwerer, gefährlicher und qualvoller als die Erfüllung der Lehre Christi.

Es gab dereinst, sagt man, Märtyrer Christi, dies waren aber Ausnahmen: man zählt ihrer bei uns 380 Tausend freiwillige und unfreiwillige im Verlauf von 1800 Jahren; zählet aber die Märtyrer der Welt und auf einen Märtyrer Christi kommen tausend Märtyrer der Lehre der Welt, deren Leiden hundertfach schrecklicher sind. Der allein im heutigen Jahrhundert im Kriege Getöteten zählt man bis 30 Millionen Menschen.

Das alles sind Märtyrer der Lehre der Welt, die, ohne Christi Lehre zu befolgen, nur der Lehre der Welt nicht zu folgen brauchten, um den Leiden und dem Tode zu entgehen.

Der Mensch braucht nur das zu tun was er möchte, z. B. sich vom Kriege loszusagen, so wird man ihn schicken um Kanäle zu graben oder etwas anderes zu tun und wird ihn nicht bei Sebastopol oder Plewna in den Tod jagen. Der Mensch braucht nur an die Lehre der Welt nicht zu glauben: dass es notwendig sei Galoschen und eine Kette zu tragen und ein für ihn unnötiges »Gastzimmer« zu besitzen; er braucht nur alle jene Albernheiten, welche die Lehre der Welt von ihm verlangt, nicht zu tun und er wird keine übermäßige Arbeit und Qual, keine fortwährende Sorge und Mühe ohne Erholung und ohne Zweck kennen; er wird nicht der Gemeinschaft mit der Natur entzogen, wird nicht seiner Lieblingsarbeit, seiner Familie und seiner Gesundheit beraubt und wird nicht ein sinnloses Leben in einem qualvollen Tode endigen.

Nicht Märtyrer soll man sein im Namen Christi; nicht das lehrt uns Christus. Er lehrt, dass man aufhören soll sich zu quälen im Namen der falschen Lehre derzeit.

Die Lehre Christi hat eine tiefe metaphysische Bedeutung; die Lehre Christi hat einen allgemein menschlichen Sinn; die Lehre Christi hat auch den einfachsten, klarsten, praktischen Sinn für das Leben jedes einzelnen Menschen. Dieser Sinn lässt sich sogar auch folgendermaßen ausdrücken: Christus lehrt die Menschen keine Torheiten zu begehen. Darin besteht der durchaus einfache, allen zugängliche Sinn der Lehre Christi.

Christus sagt: zürne nicht, halte keinen für geringer als dich selbst, das ist töricht; wenn du zürnen, wenn du Menschen kränken wirst, wird es schlimmer für dich sein. Christus sagt ferner: lauf nicht allen Weibern nach, sondern verbinde dich mit einem Weibe und lebe mit ihm – es wird besser für dich sein. Er sagt: versprich keinem dies oder jenes zu tun, sonst wird man dich zwingen Torheiten und Verbrechen zu begehen. Noch sagt er: vergilt nicht Böses mit Bösem, da sonst das Böse noch schlimmer auf dich zurückfällt, wie der über den Honig aufgehängte Klotz, von dem Bären zurückgestoßen, auf denselben zurückfällt und endlich ihn totschlägt. Und noch sagt er: achte nicht die Menschen fremd, bloß weil sie in einem andern Lande leben und eine andere Sprache sprechen als du. Wenn du sie für Feinde hältst, werden sie auch dich für ihren Feind halten und es wird schlimmer für dich sein. Also: begehe nicht alle diese Thorheiten, und es wird besser für dich sein.

»Ja – antwortet man darauf –, aber die Welt ist so eingerichtet, dass es noch qualvoller ist sich ihren Einrichtungen zu widersetzen als mit ihnen im Einklang zu leben. Sage sich ein Mensch vom Kriegsdienste los, so wird er in die Festung gesperrt, möglicherweise erschossen. Sichere einer nicht sein Leben durch den Erwerb dessen, was er und seine Familie braucht, so wird er und seine Familie Hungers sterben.« – So sprechen die Menschen, indem sie die Einrichtungen der Welt zu verteidigen suchen, selbst aber denken sie anders. Sie sprechen so, bloß weil sie die Gerechtigkeit der Lehre Christi, an die sie anscheinend nicht glauben, nicht ableugnen können und sich irgendwie rechtfertigen müssen, dass sie diese Lehre nicht erfüllen. Nicht genug aber, dass sie nicht so denken, sondern sie haben überhaupt nie daran gedacht. Sie glauben an die Lehre der Welt und benutzen bloß eine Ausrede, die ihnen von der Kirche gelehrt worden: dass sie, Christi Lehre befolgend, viel leiden müssten, und deshalb haben sie auch nie versucht Christi Lehre zu erfüllen. Wir sehen zahllose Leiden, die von den Menschen im Namen der Lehre der Welt erduldet werden, Leiden aber im Namen der Lehre Christi sehen wir heutzutage niemals. Dreißig Millionen Menschen sind um der Lehre der Welt willen in blutigen Schlachten umgekommen; tausende von Millionen sind umgekommen im qualvollen Leben um der Lehre der Welt willen, aber nicht nur keine Millionen, selbst keine tausende, keine hunderte, ja keinen einzigen Menschen kenne ich, der eines qualvollen Todes vor Kälte oder Hunger um der Lehre Christi willen gestorben wäre. Dies ist nur eine lächerliche Ausrede, die beweist wie vollständig unbekannt uns die Lehre Christi ist. Nicht nur, dass wir mit ihr nicht einverstanden wären, sondern wir haben sie auch nie ernstlich angenommen. Die Kirche hat sich bemüht uns die Lehre Christi derart vorzustellen, dass sie uns nicht als eine Lehre des Lebens, sondern als ein Schreckbild erscheint.

Christus ruft die Menschen heran zum Quell, der hier, neben ihnen ist. Die Menschen sind von Durst geplagt, sie essen Kot und trinken einer des andern Blut, ihre Lehrer aber haben ihnen gesagt, dass sie umkommen werden, wenn sie zu jenem Quell gehen, zu dem Christus sie ruft. Und die Menschen glauben das und quälen sich und verschmachten vor Durst, zwei Schritte vom Wasser, ohne sich heranzuwagen. Man braucht jedoch nur Christus zu glauben, dass er die Glückseligkeit auf die Erde gebracht hat, zu glauben, dass er uns die wir schmachten, den Quell des lebendigen Wassers gibt und zu ihm zu kommen, um zu erkennen wie arglistig uns die Kirche hintergeht und wie töricht unsre Leiden sind, wenn die Rettung uns so nahe liegt. Man braucht nur Christi Lehre gerade und einfach aufzunehmen, auf dass jene entsetzliche Täuschung offenbar werde, in der wir alle und jeder einzelne von uns leben. –

Von Geschlecht zu Geschlecht mühen wir uns um Sicherung unseres Lebens und Eigentums durch Gewalt. Das Glück unseres Lebens erscheint uns in der größten Macht und im größten Reichtum. Wir haben uns derart an diese Anschauung gewöhnt, dass Christi Lehre darüber, dass des Menschen Glück nicht abhängig sein könne von Macht und Reichtum, dass der Reiche nicht glücklich sein könne, – uns als die Forderung eines Opfers im Namen der zukünftigen Glückseligkeit erscheint. Christus jedoch denkt nicht daran uns zum Opfer aufzurufen; er lehrt uns, im Gegenteil, das zu unterlassen was schlimmer ist und das zu tun was für uns hier in diesem Leben besser ist. Christus, in seiner Liebe zu den Menschen, lehrt sie Enthaltung von der Sicherung ihrer selbst und ihres Eigentums durch Gewalt, ebenso wie man, aus Liebe zu den Menschen, die Enthaltung von Prügeleien und Trunkenheit lehrt. Er sagt, dass die Menschen glücklicher wären, wenn sie ohne Widerstand und ohne Eigentum lebten, und bestätigt dies durch das Beispiel seines Lebens. Er sagt, ein Mensch der nach seiner Lehre lebt, müsse jeden Augenblick bereit sein durch die Gewalt eines anderen, durch Kälte und Hunger zu sterben und könne nicht auf eine einzige Stunde seines Lebens rechnen. Uns erscheint das als eine schreckliche Forderung irgend welcher Opfer, es ist aber bloß die Bestätigung jener Bedingungen, in denen jeder Mensch notwendig lebt. Ein Jünger Christi muss jeden Augenblick zu Leiden und zum Tode bereit sein. Befindet sich aber der Jünger der Welt nicht in derselben Lage? Wir sind derart an unsre Täuschung gewöhnt, dass alles was wir zur vermeintlichen Sicherung unseres Lebens tun: unsere Kriegsheere, Festungen, Vorräte, Kleidungen, Kuren, unser ganzer Besitz, unser Geld – alles uns als etwas Wirkliches, das unser Leben ernstlich sichert, erscheint. Wir vergessen was unvermeidlich ist, vergessen was mit jenem geschah, dem es einfiel Speicher zu bauen um sich auf lange Zeit zu sichern: er starb in derselben Nacht. Alles, was wir zur Sicherung unseres Lebens tun, ist genau dasselbe, was der Vogel Strauss tut, wenn er stehen bleibt und den Kopf verbirgt um nicht zu sehen wie man ihn tötet. Wir tun schlimmer als der Strauss: um einer zweifelhaften Sicherung unseres zweifelhaften Lebens willen in einer zweifelhaften Zukunft geben wir unser sicheres Leben in einer sicheren Gegenwart dem sicheren Verderben preis.

Die Täuschung besteht in der irrtümlichen Überzeugung, dass unser Leben durch unsern Kampf mit andern Menschen gesichert werden kann. Wir sind derartig an diese Täuschung einer scheinbaren Sicherung unseres Lebens und Eigentums gewöhnt, dass wir gar nicht bemerken was wir alles dadurch verlieren. Und wir verlieren alles – das ganze Leben. Das ganze Leben wird von der Sorge um diese Sicherung des Lebens und den Vorbereitungen dazu verschlungen, sodass nichts von ihm übrig bleibt.

Man braucht ja nur auf einen Augenblick seiner Gewohnheit zu entsagen und das Leben unparteiisch zu betrachten um zu sehen, dass alles, was wir für die scheinbare Sicherung unseres Lebens tun, wir gar nicht deshalb tun um unser Leben zu sichern, sondern nur um über der Beschäftigung damit zu vergessen, dass das Leben nie gesichert ist und nie gesichert sein kann. Nicht genug aber, dass wir uns selbst betrügen und unser wirkliches Leben um eines eingebildeten willen zu Grunde richten, sondern in diesem Streben nach Sicherung zerstören wir auch am häufigsten gerade das, was wir sichern wollen. Die Franzosen begannen im Jahre 70 den Angriff »um ihr Leben zu sichern«, und durch dieses Sich sichern wollen kamen hunderttausende von Franzosen ums Leben. Dasselbe geschieht mit allen Völkern, die sich zu einem Kriege rüsten. Der Reiche sichert sein Leben dadurch, dass er Geld sammelt. Und gerade dieses Geld lockt den Räuber heran, der ihn totschlägt. Der ängstliche Mensch sichert sein Leben durch ärztliche Behandlung und diese selbst ist es, die ihn langsam ums Leben bringt, und wenn sie ihn auch nicht gerade tötet, so macht sie ihm doch sein Leben verkümmern, wie jenem Kranken, welcher 38 Jahre lang nicht lebte, sondern auf den Engel am Teiche Bethesda wartete.

Die Lehre Christi darüber, dass man sein Leben nicht sichern könne, sondern immer, jeden Augenblick bereit sein müsse zu sterben, ist unzweifelhaft besser als die Lehre der Welt, dass man sein Leben sichern müsse; nicht nur deshalb besser, weil die Unvermeidlichkeit des Todes und die Unsicherheit des Lebens bei der Lehre der Welt sowohl wie bei der Lehre Christi bestehen bleiben, sondern auch deshalb, weil das Leben selbst, nach Christi Lehre, nicht gänzlich von der müßigen zwecklosen Beschäftigung der scheinbaren Sicherstellung des Lebens verschlungen wird, sondern frei bleibt und dem einzigen, ihm angemessenen Ziel, dem eigenen Heile und dem Heile der Menschen gewidmet werden kann.

Der Jünger Christi wird arm sein, gewiss; d. h. er wird immer alle jene Güter benutzen, die Gott ihm verliehen hat. Er wird nicht sein Leben zu Grunde richten. Wir haben mit einem Worte, welches Unglück und Elend bedeutet, das bezeichnet, was Glück ist; das Wesen aber bleibt deshalb unverändert. Arm das heißt: er wird nicht in der Stadt, sondern auf dem Lande leben; er wird nicht zu Hause sitzen, sondern er wird arbeiten, im Wald, im Felde, wird das Licht der Sonne, Erde, Himmel und Tiere sehen; wird nicht darüber grübeln was er essen soll um seinen Appetit zu reizen und was er tun soll um seine Verdauung zu befördern, sondern er wird dreimal am Tage hungrig sein; er wird sich nicht auf weichen Kissen wälzen und nachsinnen wie er sich von der Schlaflosigkeit retten solle, sondern wird schlafen; wird Kinder haben, wird mit ihnen leben, wird in freier Gemeinschaft mit allen Menschen stehen, und was die Hauptsache ist, er wird nichts tun was er nicht tun mag; wird nicht Furcht haben vor dem, was mit ihm geschehen kann. Krank sein, leiden, sterben wird er ebenso wie alle (danach zu urteilen wie Arme krank sind und sterben, haben sie es leichter als Reiche), aber ohne Zweifel wird er glücklicher leben. Arm sein ist das, was Christus gelehrt hat. Er hat gesagt dass es nur den Armen möglich sei in das Reich Gottes einzutreten und auf Erden glücklich zu sein.

»Niemand aber wird dich speisen und du wirst Hungers sterben«, entgegnet man darauf. Auf den Einwand, dass der Mensch, wenn er nach der Lehre Christi lebt, Hungers sterben würde, antwortete Christus durch einen kurzen Spruch, denselben, der so ausgelegt wird, dass er den Müssiggang der Geistlichkeit rechtfertigt: Matth. 10, 10; Luk. 10, 7.

  1. Er sprach: »Ihr sollt nicht nehmen: keine Tasche zur Wallfahrt, auch nicht zwei Röcke, keine Schuhe, auch keinen Stecken. Denn ein Arbeiter ist seiner Speise wert.« 7: »In dem selbigen Hause aber bleibet, esset und trinket, was sie haben. Denn ein Arbeiter ist seines Lohnes wert.«

Der Arbeiter ist ἄξιος τῆς τροφῆς (τοῦ μισϑοῦ) αὑτοῦ, d. h.: er kann und soll Nahrung haben. Dies ist ein sehr kurzer Spruch; für den aber, der ihn so versteht wie Christus ihn verstanden hat, kann nicht mehr die Auffassung bestehen, dass ein Mensch, der kein Eigentum hat, Hungers sterben muss. Um dieses Wort in seiner wahren Bedeutung zu begreifen, muss man vor allem sich ganz von jener, in Folge des Dogmas der Erlösung entstandenen, uns so überaus gewohnten Vorstellung, dass die Glückseligkeit des Menschen im Müßiggang bestehe, lossagen. Man muss jene, allen unverdorbenen Menschen eigene Vorstellung wiederherstellen, dass die unumgängliche Bedingung zum Glücke des Menschen nicht der Müßiggang, sondern die Arbeit ist; dass der Mensch nicht umhin kann zu arbeiten, dass es ihm langweilig ist und schwer fällt nicht zu arbeiten, gleichwie der Ameise, dem Pferde im Stalle und jedem Tiere das Nichtstun langweilig ist und schwer fällt. Wir müssen uns des seltsamen Aberglaubens entsagen, dass der Zustand eines Menschen, der wie im Märchen einen unwechselbaren Thaler d. i. eine Kronsstelle oder das Anrecht an ein Land oder Papiere mit Coupons hat, die ihm das Nichtstun ermöglichen, ein natürlicher und glücklicher Zustand ist. Man muss in seiner Vorstellung jene Ansicht über die Arbeit wiederherstellen, wie sie allen vernünftigen unverdorbenen Menschen eigen ist und wie Christus sie hatte, als er sagte, der Arbeiter sei seines Lohnes wert. Christus konnte sich keine Menschen vorstellen, denen die Arbeit als ein Fluch erschienen wäre, und konnte sich deshalb keinen nicht arbeitenden oder nicht arbeiten wollenden Menschen vorstellen. Er setzt immer voraus, dass sein Jünger arbeitet und arbeiten will. Und deshalb sagt er: wenn der Mensch arbeitet, so nährt ihn die Arbeit. Und wenn ein anderer die Arbeit dieses Menschen für sich benutzt, so wird dieser andere auch den ernähren, der für ihn arbeitet, eben weil er seine Arbeit benutzt. Und deshalb wird der Arbeitende immer seine Nahrung haben. Eigentum wird er nicht besitzen; die Nahrung hingegen kann ihm nie fehlen.

Der Unterschied zwischen der Lehre Christi und der Lehre unserer Welt über die Arbeit besteht darin, dass nach der Lehre der Welt die Arbeit ein besonderes Verdienst des Menschen ist, worüber er mit andern rechnet und voraussetzt ein Anrecht auf umso größeren Unterhalt zu besitzen, je größer oder vorteilhafter seine Arbeit ist; nach der Lehre Christi hingegen ist die Arbeit eine notwendige Bedingung des Lebens des Menschen und die Nahrung ist deren notwendige Folge. Arbeit erzeugt Nahrung und Nahrung erzeugt Arbeit – das ist ein ewiger Kreislauf; das eine ist Ursache und Folge des andern. Wie böse auch der Hausherr sein mag, er wird dennoch den Arbeiter ernähren, gleichwie er das Pferd ernähren wird, welches für ihn arbeitet, und wird ihn so ernähren, dass der Arbeiter möglichst viel zu leisten im Stande sein wird, d. h. er wird eben zu dem beitragen, was für das Leben des Menschen notwendig ist.

»Des Menschen Sohn ist nicht gekommen, dass man ihm diene, sondern dass er diene und sein Leben hingebe zur Errettung für viele.« Nach der Lehre Christi wird jeder einzelne Mensch, unabhängig davon wie die Welt ist, das beste Leben haben, wenn er seine Bestimmung begreift: keine Arbeit von andern zu verlangen, sondern selbst sein ganzes Leben der Arbeit für andre zu weihen, sein Leben hinzugeben zur Errettung für viele. Der Mensch, der so tut, sagt Christus, ist der Nahrung wert, d. h. er wird gewiss Nahrung erhalten. Mit den Worten: »der Mensch lebt nicht, damit man ihn bediene, sondern damit er diene den andern« – stellt Christus den Grundsatz auf, der unzweifelhaft die materielle Existenz des Menschen sichert, und mit den Worten: »der Arbeiter ist seines Lohnes wert« beseitigt Christus jene so allgemeine Einwendung gegen die Möglichkeit der Erfüllung seiner Lehre, nämlich: dass der Mensch, der Christi Lehre befolgt inmitten derer, die sie nicht befolgen, vor Hunger und Kälte umkommen müsse. Christus zeigt, dass der Mensch nicht dadurch seinen Unterhalt sichert, dass er ihn den andern fortnimmt, sondern dadurch, dass er sich andern nützlich und notwendig macht. Je notwendiger er andern ist, um so gesicherter wird seine Existenz sein.

Bei der jetzigen Einrichtung der Welt sterben nicht Menschen, die kein Eigentum haben, vor Hunger und Kälte, wenn sie Christi Lehre nicht erfüllen, aber für andere arbeiten. Wie ist also der Einwand gegen Christi Lehre möglich, dass Menschen, die seine Lehre erfüllen, d. i. für den Nächsten arbeiten, verhungern müssen? Ein Mensch kann nicht verhungern, wenn der Reiche Brot hat. In allen Ländern der Welt, in jedem gegebenen Momente gibt es stets Millionen Menschen, die ohne jegliches Eigentum, nur von ihrer Arbeit leben. Unter Heiden wird der Christ ebenso gesichert sein wie unter Christen. Er arbeitet für andere; folglich ist er ihnen notwendig und deshalb wird man ihn ernähren. Selbst einen Hund, den man nötig hat, ernährt und pflegt man; wie sollte man nicht einen Menschen ernähren und pflegen, der andern notwendig ist?

Aber ein kranker Mensch, ein Mensch mit Familie, mit Kindern, ist nicht notwendig; er kann nicht arbeiten und man hört auf ihn zu ernähren – werden diejenigen sagen, die durchaus die Gerechtigkeit des tierischen Lebens beweisen wollen. Sie sagen das und sehen nicht, dass sie selbst, obgleich sie auch so handeln möchten, es doch nicht können und ganz anders handeln. Diese selben Menschen, welche die Anwendung der Lehre Christi auf das Leben ableugnen, erfüllen diese Lehre: sie hören nicht auf das erkrankte Vieh zu ernähren, sie töten nicht einmal einen alten Gaul, sondern geben ihm eine seinen Kräften angemessene Arbeit; sie ernähren ganze Familien junger Lämmer, Ferkel und Hunde, weil sie von ihnen Nutzen erwarten; wie sollten sie also nicht den erkrankten Menschen ernähren, der ihnen notwendig ist? wie sollten sie nicht für alt und jung angemessene Arbeit finden und Menschen großziehen, die doch wiederum für sie arbeiten werden?

Das tun sie auch. Neun Zehntel Menschen gehören zum »Volk«, und dieses wird gleich dem Arbeitsvieh von einem Zehntel reicher und gewaltgebrauchender Leute gefüttert. Und wie finster auch die Verirrung sein mag, in welcher dieses eine Zehntel lebt, wie sehr sie auch jene übrigen neun Zehntel verachten mögen, dieses eine Zehntel entzieht den neun Zehnteln dennoch nie die nötige Nahrung, obgleich es so tun könnte. Diese Menschen entziehen dem gemeinen Volke nicht die Nahrung, weil sie dies Volk brauchen, damit es sich fortpflanze und für sie arbeite. In der letzten Zeit müht sich dies eine Zehntel mit Bewusstsein darum, dass die neun Zehntel richtig ernährt werden, d. i. dass also möglichst viel Arbeit hervorgebracht werde, auf dass neue Arbeiter erzeugt und aufgefüttert werden. Selbst die Ameisen sorgen für die Fortpflanzung und das Aufziehen ihrer Milchkühe; wie sollten die Menschen nicht dasselbe tun: Menschen fortpflanzen, die für sie arbeiten? Arbeiter sind notwendig; und die, denen die Arbeit zu nutze kommt, werden stets darum besorgt sein, dass diese Arbeiter nicht aussterben.

Der Einwand gegen die Erfüllung der Lehre Christi, dass, wenn ich nicht für mich erwerben und das Erworbene festhalten werde, niemand meine Familie ernähren wird – ist ein gerechter, jedoch nur in Beziehung auf müßige, unnütze und darum schädliche Menschen, wie die Mehrzahl der Leute des reichen Standes. Müßige Menschen wird, außer unvernünftigen Eltern, niemand aufziehen, denn müßige Menschen sind für niemand notwendig, nicht einmal für sich selbst; Arbeiter hingegen werden selbst von den schlechtesten Menschen ernährt und aufgezogen werden. – Werden doch Kälber aufgezogen; der Mensch ist aber ein viel nützlicheres Arbeitsvieh als der Ochs, wie er auch stets auf allen Sklavenmärkten höher geschätzt wurde. Darum können also auch Kinder nie ohne Fürsorge bleiben.

Der Mensch lebt nicht darum, dass man für ihn arbeite, sondern dass er arbeite für andere. Wer arbeiten wird, den wird man ernähren.

Dies sind durch das Leben der ganzen Welt bestätigte Wahrheiten.

Bis jetzt hat der Mensch immer und überall wo er arbeitete, Nahrung erhalten, wie jedes Pferd Futter bekommt. Und diese Nahrung empfing der Mensch wider Willen, mit Unlust, weil der Arbeitende nur den einen Wunsch hatte, sich von der Arbeit zu befreien, möglichst viel zu erwerben und sich dem auf den Hals zu setzen, der ihm auf dem Halse saß. Auch solch' ein widerwillig und mit Unlust sich mühender, neidischer und böser Arbeiter blieb nicht ohne Nahrung und erwies sich sogar glücklicher als der andere, der nicht arbeitete und von fremder Mühe lebte. Um wie viel glücklicher aber wird der sein, der nach der Lehre Christi sich mühen und dessen Zweck es sein wird möglichst viel zu schaffen und möglichst wenig zu bekommen? Und um wie viel glücklicher noch wird seine Lage sein, wenn um ihn herum wenigstens noch einige, vielleicht auch viele seinesgleichen sein werden, die ihm dienen werden?

Die Lehre Christi über die Arbeit und ihre Früchte ist in der Erzählung über die Speisung der Fünf- und der Siebentausend mit zwei Fischen und fünf Broten ausgedrückt. Die Menschen werden das höchste ihnen zugängliche Glück auf Erden besitzen, wenn sie nicht danach streben werden, jeder für sich alles zu verschlingen und zu verbrauchen, sondern wenn sie so tun werden, wie Christus am Ufer des galiläischen Sees sie gelehrt (Matth. 14, 15–21; Mark. 6, 35–44; Luk. 9, 12–17).

Es sollten tausende von Menschen gespeist werden, die um der Predigt Christi willen herbeigeströmt waren, während die Jünger erklärten, es seien nur ein paar Fische und etliche Brote da. Christus setzte voraus, dass von den Leuten, die weither kamen, manche Nahrungsmittel bei sich hatten, manche nicht. Dass viele mit Vorräten versehen waren, erweist sich daraus, dass, wie es in allen Evangelien heißt, nach Beendigung des Mahles die Reste desselben in zwölf Körbe gesammelt wurden. Wenn niemand außer dem Knaben (Joh. 6, 9) etwas bei sich gehabt hätte, so hätten sich auch keine zwölf Körbe auf dem Felde befinden können. Wenn Christus nicht getan hätte, was er tat, d. i. das Wunder der Sättigung Tausender mit fünf Broten, so wäre das geschehen was heutzutage in der Welt vor sich geht. Die mit Vorräten versehenen hätten alles, selbst über ihre Kräfte, aufgegessen, damit nur nichts verbliebe; die Geizigen hätten vielleicht die Überreste nach Hause mitgenommen. Die, welche nichts hatten, wären hungrig geblieben und hätten mit erbittertem Neide auf die Essenden geblickt; vielleicht auch hätten manche den andern von ihren Vorräten genommen und es wären Streitigkeiten und Schlägereien entstanden; die einen wären übersättigt, die andern hungrig und ärgerlich heimgegangen: es wäre dasselbe gewesen, was wir täglich erleben.
Christus wusste jedoch was er tun wollte (wie es auch Joh. 6, 6 heißt): er hieß alle sich im Kreise setzen und wies die Jünger an, was sie hatten, den andern anzubieten und den andern zu sagen, sie sollten desgleichen tun. Und da taten alle, die Vorräte hatten, dasselbe wie Christi Jünger, d. h. sie boten das ihrige den andern an, so dass alle mäßig aßen; und als man den Kreis herumgegangen war, bekamen auch diejenigen, welche vorher nicht gegessen hatten. Und alle wurden satt und es blieb noch Brot übrig, so viel, dass man es in zwölf Körbe sammeln konnte. Christus lehrt die Menschen, dass sie mit Bewusstsein ebenso im Leben handeln sollen, weil dies das Gesetz des Menschen und der ganzen Menschheit ist Arbeit ist die notwendige Bedingung des menschlichen Lebens. Und Arbeit verleiht dem Menschen Glückseligkeit. Und deshalb ist das Vorenthalten der Früchte der Arbeit ein Hindernis für die Glückseligkeit des Menschen. Seine Arbeit jedoch den andern hinzugeben trägt zur Glückseligkeit des Menschen bei.

Wenn die Menschen aufhören werden einer dem andern das seine zu nehmen, so werden sie Hungers sterben, sagen wir. Es scheint jedoch, als müsste man das Gegenteil sagen: wenn die Menschen einer dem andern mit Gewalt das seine entreißen, dann wird es Menschen geben, die Hungers sterben müssen, – wie es sich auch wirklich verhält.

Jeder Mensch, wie er auch leben möge – ob nach der Lehre Christi oder nach der Lehre der Welt –, lebt ja nur von der Arbeit anderer Menschen. Andere Leute haben ihn gepflegt, getränkt und aufgefüttert und pflegen, tränken und nähren ihn immerfort. Nach der Lehre der Welt aber zwingt der Mensch mit Gewalt die andern, dass sie fortfahren ihn und seine Familie zu ernähren. Nach der Lehre Christi wird der Mensch gleichfalls von andern gepflegt, getränkt und ernährt; er zwingt aber die andern nicht, dass sie fortfahren ihn zu pflegen, zu tränken und zu ernähren, sondern bemüht sich selbst andern zu dienen, allen so nützlich wie möglich zu sein, und wird dadurch notwendig für alle. Die Menschen der Welt werden immer wünschen den ihnen unnützen Menschen, der sie mit Gewalt zwingt für seinen Unterhalt zu sorgen, nicht mehr zu ernähren, und bei der ersten Möglichkeit hören sie nicht nur auf ihn zu erhalten, sondern töten ihn als vollkommen nutzlos. Immer aber, so schlecht die Menschen auch sein mögen, werden sie den für sie arbeitenden Menschen sorgfältig ernähren und pflegen.
Wie also lebt man sicherer, vernünftiger und freudiger? Nach der Lehre der Welt oder nach der Lehre Christi?


ENDE Teil IX.


Teil I.: https://steemit.com/deutsch/@joe-c-whisper/aufklaerung-durch-weltliteratur-leo-lew-tolstoi-worin-besteht-mein-glaube-teil-i

Teil II.: https://steemit.com/deutsch/@joe-c-whisper/aufklaerung-durch-weltliteratur-leo-lew-tolstoi-worin-besteht-mein-glaube-teil-ii

Teil III.: https://steemit.com/deutsch/@joe-c-whisper/aufklaerung-durch-weltliteratur-leo-lew-tolstoi-worin-besteht-mein-glaube-teil-iii

Teil IV.: https://steemit.com/deutsch/@joe-c-whisper/aufklaerung-durch-weltliteratur-leo-lew-tolstoi-worin-besteht-mein-glaube-teil-iv

Teil V.: https://steemit.com/deutsch/@joe-c-whisper/aufklaerung-durch-weltliteratur-leo-lew-tolstoi-worin-besteht-mein-glaube-teil-v

Teil VI.: https://steemit.com/deutsch/@joe-c-whisper/aufklaerung-durch-weltliteratur-leo-lew-tolstoi-worin-besteht-mein-glaube-teil-vi

Teil VII.: https://steemit.com/deutsch/@joe-c-whisper/aufklaerung-durch-weltliteratur-leo-lew-tolstoi-worin-besteht-mein-glaube-teil-vii

Teil VIII.: https://steemit.com/deutsch/@joe-c-whisper/aufklaerung-durch-weltliteratur-leo-lew-tolstoi-worin-besteht-mein-glaube-teil-viii

Teil X.: https://steemit.com/deutsch/@joe-c-whisper/aufklaerung-durch-weltliteratur-leo-lew-tolstoi-worin-besteht-mein-glaube-teil-x

Teil XI.: https://steemit.com/deutsch/@joe-c-whisper/aufklaerung-durch-weltliteratur-leo-lew-tolstoi-worin-besteht-mein-glaube-teil-xi


Quelle: http://gutenberg.spiegel.de/buch/worin-besteht-mein-glaube-9472/1


Joe C. Whisper

Coin Marketplace

STEEM 0.23
TRX 0.12
JST 0.029
BTC 66505.48
ETH 3595.60
USDT 1.00
SBD 2.90