Europa, du wunderschönes Biest!

in #deutsch7 years ago (edited)

Die Europäische Idee ist eine Idee. Ein gedankliches Konstrukt innerhalb dessen unzählige Interessen und Unterschiede Platz finden.

Wer glaubt, zu wissen, was Europa ist, hat sich schon gleich selbst als Konstrukteur seiner eigenen Geschichte offenbart.

Niemand kann sagen, was Europa eigentlich ist.

Ist es das, was man von oben auf der Landkarte sehen kann, wenn man mit dem Finger drüber fährt? Ist es eine Ansammlung vieler Staaten, die versuchen, eine Einheit zu bilden? Ja, das könnte man so leichtfertig sagen, wenn klar wäre, worüber sich Europäer denn einig sein sollen.

Was die Regisseure sagen

Die Ökonomen in ihren Klappstühlen schütteln die Köpfe und sagen: ist doch klar, was Europa ist. Eine Handelsmacht, die den Wettbewerb mit den Chinesen bestehen soll. Wir wollen die richtig gute Show. Das Gewerkschaftsmitlied am Bühnenrand korrigiert das und meint, dass Europa seine Mitmenschen schützend beherbergen und solidarisch behandeln soll. Die Statisten meinen, dass Europa als Ganzes ein mächtiges Bollwerk darstelle, um sich mit den Großen dieser Welt messen zu können und „Stärke“ zu demonstrieren oder aber sich vor „zu vielen Flüchtlingen“ zu schützen; womit sie dem Klappstuhl gefallen, der sie aber gar nicht gefragt hat. Die Aktriste wiederum sagen, Europa sei ein freier Kontinent, auf dem man ungehindert reisen und arbeiten und sich sesshaft machen oder verwirklichen könne. Nun ja, bis zur Grenze eben.

Die einen sehen die Beschränkungen, die anderen die unbegrenzten Möglichkeiten; alle fühlen sich als Regisseure, je nachdem gut oder schlecht, was man anschaut, wenn das Stück fertig ist.

Welche die wichtigsten „Akteure“ sind, davon kündet der Sprech der Wirtschaftsformate und der entsprechenden Feuilletons und Kritiken in den Zeitungen. In den anderen Formaten kündet dann der Sozialsprech und der Toleranz-Kodex von der europäischen Idee.

Was ist eigentlich ein Spanier?

Ein Spanier versteht unter „Europa“ etwas anderes als ein Deutscher und dabei könnte man gleich die Frage stellen, was denn nun überhaupt ein Spanier oder Deutscher ist. Jemand, der eine eigene Landessprache spricht? Sicher. Ein Mensch, der sich gemäß seiner Stärken und Chancen in ein Gefüge einsortieren und Teil haben möchte? Natürlich. Fragt sich: Welches Gefüge? Und woran teilhaben?

Worin existiert so ein Spanier? Er existiert zunächst mal über seinen eigenen Körper und hat eine spanische Sozialisation erhalten. Die größte Identität entwickelt ein spanisches Kind über seine Eltern, deren eigene Biografie und soziale Identifikation diese wiederum über ihre Eltern erhalten haben und so weiter. Vielleicht waren die Vorfahren einmal sogar Marokkaner.

Mithin erhält das Kind seine Identität über den Besuch einer Schule und dem, was es von seinen Lehrern vermittelt bekommt, sicher auch noch über eine Freizeitbeschäftigung oder einen Sport, den es ausübt. Innerhalb eines örtlichen Vereines oder einer anderen Interessengruppe. Eingebettet in lokales Geschehen, da so ein Kind noch nicht sehr weit über die geografischen Grenzen hinaus aktiv ist. Sozialisation findet demnach lokal statt und mittels Entfernungen und Erfahrungen, die für ein Kind machbar sind. Da wären also andere Kinder aus dem Stadtteil oder angrenzenden Ortschaften auf dem Lande genau wie Nachbarn und Freunde der Eltern und des Kindes. Das Kind bekommt seine Wurzeln über die eng gefassten Grenzen seines Aktionsradius.

Die Kunst der Abstraktion

Die Wurzeln können insofern nicht „europäisch“ sein, auch, da das Kind zu Anfang noch keine andere Sprache als seine eigene lernt. Ausnahmen bestätigen die Regel. Sehr wohl lernt das spanische Kind die Abstraktion – sich nämlich als Europäer betrachten zu können – wenn man ihm beispielsweise sagen würde: „Spanien ist deine Heimat, sie liegt auf dem europäischen Kontinent und gehört zu einer Gemeinschaft anderer europäischer Staaten, wie etwa Frankreich oder Italien, die sich unter einem Dach versammelt haben. Das ganze heißt „Europäische Union“.
Das Kind wüsste also einen Namen.

Wenn das Kind nun fragen würde: „Wozu gibt es dieses Dach?“, wäre die Antwort auf diese Frage schon nicht mehr so leicht. Weil man damit einem Kind eine abstrakte Idee zu vermitteln versuchte. Der Gefragte antwortet: „Du weißt doch, was Handel bedeutet, nicht wahr? Das ist, wenn Menschen mit Sachen handeln, die sie sich gegenseitig verkaufen. Früher hatten wir in Europa zu jedem einzelnen Land eine Grenze und damit auch so genannte Handelszölle. Wenn also ein italienischer Holzhändler sein Holz in Spanien verkaufen wollte, so musste er einen Handelszoll, also Geld an Spanien bezahlen, um hier das Holz verkaufen zu können. Dieser Zoll ist weggefallen. Das Verkaufen innerhalb von Europa verlangt von keinem Verkäufer mehr, den Zoll zu bezahlen.“
Da würde das Kind vielleicht sagen: „Das ist ja toll, warum soll man das denn auch machen, so einen Zoll, ist ja doof, wenn Leute sich etwas verkaufen wollen und dann müssen die dafür extra Geld bezahlen. Dann bleibt denen ja nicht so viel übrig für das verkaufte Holz.“

„Früher“, sagt der Erwachsene, „gab es für jedes Land eigenes Geld mit einem eigenen Namen und einem eigenen Wert. Dieser Wert hing davon ab, wie gut oder wie schlecht ein Land mit seiner Wirtschaft umgegangen ist.“

Das Kind würde fragen: „Das versteh ich nicht, was ist denn diese Wirtschaft?“ Dann würde der Vater vielleicht sagen: „Also, die Wirtschaft von Spanien ist das, was die Menschen in diesem Land erarbeiten. Also wie viele Unternehmen es gibt, die den Leuten Arbeit geben und wie viel alle damit verdienen, also wie viele Produkte und Dienste es in Spanien gibt, die die Spanier im Land selbst untereinander kaufen und wie viele von den Produkten und Diensten es gibt, die andere Länder den Spaniern abkaufen.“

Das Kind fragt: „Ist denn nicht alles, was ich hier im Mercado kaufen kann von Spaniern für Spanier?“ Und der Vater würde lachend den Kopf schütteln und sagen: „Natürlich nicht! Du willst doch auch gerne die deutsche Wurst essen, die wir immer kaufen, nicht wahr? Oder den leckeren Käse aus Österreich. Den machen aber nicht wir Spanier, sondern eben die Deutschen und die Österreicher. Und du willst doch auch ein Smartphone benutzen, das machen die Spanier auch nicht selbst.“

„Stimmt“, sagt da das Kind, „die Telefone machen doch die Chinesen, das hat mir Mama erzählt. Haben die denn auch das Geld, das alle Europäer benutzen?“. „Äh,“ würde der Vater sagen, „ja, das ist richtig. Und nein, die Chinesen haben eigenes Geld.“ „Und wieso haben die noch ihr eigenes Geld, wenn die doch auch ihre Sachen hier verkaufen?“ Und so weiter.

Wahrscheinlich führen Sie als Eltern keine solche Unterhaltung, denn wie Sie wissen, wenn Sie Vater oder Mutter sind, schaltet ein Kind relativ schnell ab bei so etwas.

Außerdem hätten Sie so vieles weggelassen und nicht erklären können, was Ihnen schon noch wichtig wäre. Wie etwa die Tatsache, dass sich Griechenland und Spanien dann doch sehr voneinander unterscheiden. Und dass wenn man Sie im Ausland fragte, woher Sie stammen, Sie nicht einfach „Europa“ sagen könnten, ohne, dass irgendwer ins Detail gehen wollen würde und nach einer Unterscheidung suchte.

Von der Verschiedenartigkeit

Welche Unterschiede sind gemeint? Es sind Traditionen, Gebräuche und das sittliche Gefühl, genau wie die geografische Lage, die topografische Beschaffenheit der einzelnen Regionen, das ganze Gebiet in Quadratkilometern, das Klima, die Anzahl der Städte und Metropolen, in Teilen sogar die Religion und selbstverständlich auch die Mentalität.

Dass Familien sich Geschichten erzählen und dass ein griechisches Kind etwa lernt, dass Griechenland die Wiege der Demokratie sei und ein portugiesisches Kind, dass Columbus Amerika entdeckte. Sie kämen daraufhin auf die Idee zu sagen, dass Nordspanien sich vom Süden unterscheidet und man dort einen anderen Dialekt spricht und dass die Leute vom Dorf noch mal anders sind als die Leute aus der Stadt. Besagtes Kind würde denken: „Ja, kann ich mir vorstellen, der Opa von Antonio ist viel netter als der von Jose.“ Es hat Unterschiede schon kennen gelernt.

Dass die Idee einer Europäischen Union mit dem gemeinsamen Euro als Zahlungsmittel und Regulierungsinstrument schwierig ist, weil es in Deutschland so ganz anders als in Spanien und die dortige Wirtschaft sowohl anders gewachsen ist und auch anders funktioniert. Dass in Spanien der Tourismus seine glorreiche Geschichte hinter sich und die daraus resultierenden Sünden noch auszubügeln hat. Es eine längere Küste hat als Deutschland, die am Mittelmeer und nicht an Ost- oder Nordsee entlangläuft. Das Land insgesamt größer ist, es mehr Landwirtschaft hat, aber viel weniger Einwohner. Das große Land zu bewirtschaften aber nicht so leicht ist, weil es in Spanien weniger regnet als in Deutschland. Und darum und wegen vieler anderer hunderttausend Dinge das Mikro- und Makro-Klima betreffend, die ganz einfach ganz anders sind im Unterschied zu den anderen europäischen Ländern, darf man legitim fragen, ob „die Wirtschaft“ als gemeinsamer Messfaktor vielleicht doch keine so gute Idee ist.

Einfach besser machen! Klappe halten!

Das wäre in etwa so, als würde man in zwei verschiedene Wohnungen spazieren und behaupten, dass die eine die bessere sei, da dort auf dem Küchentisch hundert Euro mehr gelegen haben als bei der anderen. Ungeachtet der Bewohner und ihrer Mentalität, der Einrichtung, des Stils, der Ordnung, des Chaos, der Größe, der Bilder an den Wänden, dem Fußboden, der Anzahl der Zimmer, der Gemütlichkeit, der Wasserqualität, der Anzahl der Steckdosen, der Anbindung, der Umgebung, der Bettwanzen und Schimmelpilze und so weiter.
Dann würde die Hausverwaltung in völliger Ignoranz aller Merkmale sagen: Bewohner A, du legst bei der nächsten Kontrolle auch einen Hunderter oben drauf. Am besten mehr, weil ja dann schon nächstes Jahr ist. Außerdem wollen wir, dass du dich verbesserst. „Verbessern?“, würde A ängstlich fragen (an diesem Tag ist seine Wohnung etwas unaufgeräumt gewesen). „Vergrößern, mehr, wachsen eben!“ antwortet die Hausverwaltung streng. „Aber meine Wohnung kann ich doch nicht größer machen“, sagt A daraufhin. „Egal“, antwortet die Hausverwaltung, „geh einfach zur Bank und leih dir dort Geld“. „Aber“, sagt A, „davon wird doch meine Wohnung auch nicht größer...“ „Macht nix“, tönt die Hausverwaltung und klingelt beim Nachbarn.

Wenn es in Frankreich zum Beispiel neuntausend Fabriken gibt und in Griechenland nicht, weil es dort mehr Hotels gibt, dann kann man dies nicht miteinander vergleichen, weil man dann Äpfel mit Birnen vergliche und wie das ausgeht, wissen wir. Nämlich sich gegenseitig zu sagen, wie doof man sich findet.

Insgesamt habe ich - außer in den Geschichtsbüchern - noch nie so viele Menschen so viel über andere Menschen meckern gehört, wie dieser Tage. Seit „die Griechen“ es angeblich verbockt haben, sind nun auch alle anderen Nationen unter Generalverdacht geraten. Und oh weh, wie ich als Deutsche von meinen Mitmenschen in den verdächtigen Ländern gesehen werde, möchte ich gar nicht wissen, wenn es eine so schlechte und oberflächliche Meinung ist, wie ich sie aus dem Munde meiner Mithamburger zum Teil anhören muss.

Schon allein eine Großstadt mit einer Kleinstadt innerhalb von Spanien selbst zu vergleichen, ist unsinnig. Ein Bergdorf braucht eben nicht, was eine Metropole braucht. Eine Universitätsstadt braucht was anderes als eine Region, die viel Landwirtschaft betreibt. Darum haben doch auch die Kommunen eine Selbstverwaltung. Weil die Leute vor Ort am besten wissen, was für ihre Verwaltung nötig ist. Etwa bei der Wasserversorgung. Das, was eine Region Spaniens nicht abdeckt, bekommt eine andere Region wiederum gut hin und mit den höheren Einnahmen einer Stadt gleicht sich diejenige Misswirtschaft aus, die eine weniger reiche Stadt oder Region nicht zu leisten imstande ist. Innerhalb der eigenen Grenzen ist so ein Ausgleich ja auch viel leichter herzustellen, weil man es immer noch mit Spaniern zu tun hat. Und selbstverständlich sollten auch Spanier anderen Spaniern helfen, oder etwa nicht? Und Urlaub möchten doch auch die Spanier in einem Bergdorf machen, weil dort alles so idyllisch und überschaubar ist.

Der Kulturmensch genießt guten Wein und Wildbrät am Waldesrand in einer schönen Finca mit Natursteinpool. So würde er gern sein Leben verbringen. Leider muss er zurück an den Schreibtisch, weil er keine Ahnung von Landwirtschaft und Tierhaltung hat und sich auch ein bisschen ekelt vor so viel Natur. Dann lieber ein berühmter Schriftsteller werden, ein Traumhäuschen in der Toskana kaufen und sich von den örtlichen Bauern den besten Käse machen lassen. Mit Schlappen durch die Gegend schlappen und sich Ideen fürs nächste Buch holen. Einen Teil zum europäischen Bruttoninlandsprodukt beitragen, indem das Buch verfilmt wird.

Ist das Bruttoinlandsprodukt für Spanien in Ordnung, weil es eben am ehesten die Spanier interessiert, wie groß oder klein es ausfällt, so ist dieser Umstand mit der Einführung des Euro sehr viel wichtiger geworden – für die anderen europäischen Länder, also die Nichtspanier. Die ärgern sich nämlich viel schneller, da sie Spanien nur von außen angucken, aber nicht von innern her erleben.

Wer nun den Finger hebt und sagt: Moment mal, das mit dem innerspanischen Ausgleich hat doch auch nicht so besonders gut funktioniert, denn was Madrid erwirtschaftet hat, ist ja nicht unbedingt in Benidorm angekommen, der wird damit Recht haben, ohne das nun im Detail zu überprüfen. Wie wir alle eigentlich wissen sollten, funktionieren zentralisierte Systeme immer dann nicht mehr so gut, je weiter sie sich geografisch voneinander entfernt haben. Sprich: Je abstrakter man sie zu betrachten gezwungen ist. Zwischen Madrid und Benidorm liegen viele hundert Kilometer. Trotz derselben Landessprache und derselben Kultur gibt es doch signifikante Unterschiede. Allein, weil die beiden Orte weit auseinander liegen, sich geschichtlich anders entwickelt haben, näher zum einen oder zum anderen Grenznachbarn liegen und der einzelne Mensch es nun mal gern hat, sich mit dem Naheliegenden zu identifizieren. Auch wenn er das nicht so gern zugibt und sich wie ein Weltenbürger aufführt.

Am Ende ist es doch der eigene Fußballverein und sind es die eigenen Oliven, die man denen vorzieht, die es nicht in die Top Ten der Lokalhierarchie geschafft haben. Und auch wenn in die Top Ten eine ausländische Marke gewählt wurde, sind es immer noch die eigenen Top Ten und nicht die, die von den Bewohnern im Dachstuhl bestimmt werden wollen.


Oder wie steht es mit Ihnen als Hamburgern? Sind Sie nicht stolz auf Ihren Fußballclub? Würden Sie sich nicht eher als „Fischkopp“ denn als „Semmelsepp“ bezeichnen und loben Sie nicht etwa den Hamburger Hafen vor der Dresdner Semperoper?

Wenn ein spanischer Tourist Sie fragen würde, was er sich anschauen soll und Sie begegnen ihm auf Ihrem Kiez: Welche Empfehlung hätten Sie? Dass er am besten nach Berlin fahren soll, weil es da besser sei? Wohl kaum. Es kommt darauf an, welche Perspektive Sie einnehmen. Doch gerade die, innerhalb derer Sie ihren leiblichen Körper durch die Gegend tragen. Erst danach kommt Ihr Nationalstolz, dann, wenn Sie selbst im Ausland sind und dort nach den Schönheiten und Errungenschaften ihrer Nation gefragt werden.

Der Grieche an und für sich

In der Europa-Debatte wird sich weit entfernt von den Prägungen, Segnungen oder auch meinetwegen Schwierigkeiten jedes einzelnen Menschen.
Die europäische Debatte spielt sich – in den Medien - ab in der Form, dass man von „dem Griechen“ oder „dem Deutschen“ spricht, als habe das eine größere Bedeutung als es in Wirklichkeit hat. Denn Ihre persönliche Wirklichkeit hat auch mit „dem Deutschen“ absolut nichts zu tun. Sie hat mit Ihrem täglichen Weg zur Arbeit zu tun, wem Sie begegnen, mit wem Sie arbeiten, mit wem Sie Freundschaft oder Familie pflegen, welche Nachbarn Sie haben, welche Hobbys, Interessen und Möglichkeiten. Ihre Wirklichkeit ist nicht abstrakt, sondern sehr konkret. Sie leben schließlich in Hamburg und nicht in München oder Rom.

Vom Nahen und vom Fernen

Unser Wirklichkeitsbegriff hat sich jedoch verschoben. Nämlich hat das Abstrakte und Fernliegende an Bedeutung gewonnen, während das Naheliegende und Konkrete an Bedeutung verliert. Wir sind so gesehen blind für die eigene mit den Sinnen erfahrbare Umgebung. Hingegen sind wir offen wie Flughangar-Tore für die abstrakten medialen Botschaften aus der Welt, während wir im Bus, Zug oder Auto sitzen. Vielleicht wären U-Bahnen also nie erfunden worden, gäbe es nicht die Tageszeitung.

Sie glauben das nicht? Stellen Sie sich die Frage, wen Sie eigentlich mit Namen kennen. Aus Ihrer Nachbarschaft versteht sich. Wer wohnt fünf Häuser weiter? Wer im dritten Stock über Ihnen? Das müssen Sie nicht wissen? Weshalb nicht? Ist es wichtiger, den Namen eines berühmten Fußballers zu wissen, den des französischen Ministerpräsidenten? Wichtiger, den Namen des facebook-Gründers als den des örtlichen Handballvereins? Wenn es Sie nicht interessiert, wer Ihr Nachbar ist, warum soll sich umgekehrt dieser für Ihr Wohlergehen interessieren? Das möchten Sie doch, oder nicht? Wenn der Nachbar seine Musik aufdreht und bis in die Puppen der Bass wummert. Oder das Kind über ihnen Hoppe Reita spielt während Sie in Ruhe den Wirtschaftsteil der Frankfurter Zeitung lesen wollen. Oder wenn in Ihrer Straße ein Auto angezündet wird von den Trunkenen, die zum Kiez unterwegs sind.

Die sollen ihnen alle wohlgesonnen sein und ihr Fahrrad nicht klauen, nicht zu laut sein, die sollen freundlich zu Ihnen sein. Wenn Sie irgendwann arbeitslos oder deprimiert gewesen sind und das Gefühl hatten, dass sich wirklich kein Schwein für Ihr Wohlergehen interessiert, dann liegt das vermutlich unter anderem daran, dass Sie sich wenig für das interessierten, was sich unmittelbar um Sie herum an menschlichen Schicksalen ereignet. Gehen Sie persönlich kondolieren, wenn der Vater eines Kindes gestorben ist, das mit ihrem Kind in einer Schulklasse ist? Würde Ihnen das gut tun, wären Sie in derselben Situation?
Was liegt nahe? Wofür sind Sie blind?

Der Unterschied zwischen einem Konsumenten und einem Materialisten

Darum stimmt das mit dem Konkreten auch nicht mehr so ganz, wenngleich es natürlich trotzdem wahr bleibt.

Wenn Sie davon ausgingen, dass Sie sich mit einer Idee und nicht mit einer Seife waschen:

Welche Produkte müssten dann aus Ihrem Haushalt rausfliegen? Wenn Ihre Schuhe kein Label trügen: Stünden Sie dann noch in Ihrem Schrank? Wenn Sie den tatsächlichen und nicht den emotional aufgeladenen Wert Ihrer Wohnzimmerleuchte nähmen: Hätten Sie noch Licht? Eine Designerlampe, die in einer schäbigen Umgebung zu kaufen wäre: würden Sie die geschenkt haben wollen?

Sie kaufen keine Materie, sondern die Idee davon. Sie zahlen nicht, was der Stoff tatsächlich an Wertschöpfung hinter sich hat, sondern das, was er vorgibt, zu sein. Darum ist der Homo Ökonomikus auch kein wahrer Materialist, denn er schätzt nicht den eigentlichen Stoff und die Qualität einer Ware, sondern die größte Verbreitung einer Idee von Qualität.

Der Mythos eines kosmopolitischen Weltenbürgers hält so lange an, wie Sie Urlaub im Ausland machen und dort für drei Wochen zurande kommen. Bestünde Ihr Leben aber daraus, dauerhaft auf Reisen zu sein, an keinem Ort richtig sesshaft zu werden, keine Wurzeln bilden zu können, keinen oder zu wenig Kontakt zu Freunden und zur eigenen oder Herkunftsfamilie zu haben, dann wären Sie bald kreuzunglücklich über diese Art der „Flexibilität“. Zugehörig fühlt man sich dort, wo man diese Wurzeln überhaupt entwickeln konnte. Erst das Gefühl, zu einer Gruppe zu gehören, mit deren Mitgliedern Sie viele Gemeinsamkeiten haben – mehr als Unterschiede – macht Sie zu einem Weltenbürger. In der restlichen Welt – wo Sie ein Fremder sind – können Sie das Fremde und Andersartige erst in seiner ganzen Güte und Herrlichkeit akzeptieren, wenn Sie sicher sein können, dass die Fremden und Andersartigen auch Ihre Herkunft in ihrer ganzen Güte zu akzeptieren bereit sind. Aber sich fremd fühlen: Das kann man auch in einem Meeting unter gleichsprachigen Kollegen.

Sie sollten keinesfalls ein Land als „Tourist“ bereisen. Warum? Damit Sie nicht hinterher behaupten, den Amerikanern mangele es an Tiefgründigkeit und den Thailändern an Ehrlichkeit. Und dass der Service grauenhaft und das Wetter scheußlich war. Verreisen Sie lieber als Forscher und Entdecker.

Worauf es wirklich ankommt – also was wirklich wichtig ist

Eine Meinung – und ganz besonders eine schlechte – sollte nicht einen Einfluss auf Ihre Entscheidungen nehmen, wo es um die Wurst geht. Etwa bei politischen Wahlen oder aber, wenn Sie in der Position sind, Menschen einzustellen oder für sie verantwortlich zu sein. Meinung ist dann Nebensache und eher unter „Geschmack“ einzuordnen. Worauf es ankommt: Dass Sie sich ein sehr persönliches, informiertes und analytisches Bild von der Sache machen, bei der Sie eine Entscheidung zu treffen haben. Wenn Sie das nicht wollen oder können, bleiben Sie abhängig von der Expertise anderer – die man durchaus akzeptieren kann - oder aber: Den Meinungen anderer, die sich zwar schlagkräftig aber gern als oberflächlich erweisen.

Wenn Sie das Oberflächliche nicht wollen, schließt sich die Frage an: Wie können Sie sich ein sorgfältiges, informiertes und analytisches Bild machen? Meine Antwort: Ein sorgfältiges Bild kann ich mir nur dort machen, wo ich mittels viel Zeiteinsatz auf die sorgfältigen, informierten und analytischen Bilder anderer zurückgreifen und mir daraufhin ein eigenes rationales wie emotionales Urteil bilden kann.
Selbst dann ist es sehr schwierig, sich nicht bloß die mir angenehmen Stimmen und Ergebnisse aus der Echokammer anzuhören.
Das Ganze mit Qualität zu versehen, klappt am besten, wenn es oben drauf noch einen Schuss Irritation gibt. Irritation kommt immer dann, wenn ich eine mir ungewohnte Perspektive geboten bekomme.

Wie unschwer zu erkennen, habe ich das Rationale an das Emotionale gekoppelt oder gehören Sie etwa auch zu den Leuten, die behaupten, dass der Mensch in der Lage ist, rein rational zu entscheiden?

Ist er nicht. Nie gewesen.

Wie, er sollte aber? Versuchen Sie das bei sich selbst und Sie werden merken, wie unmöglich ein derartiges Ansinnen ist. Um zu einer rationalen Entscheidung vorzudringen, müssten Sie ALLE rationalen Aspekte einer Sache einbeziehen. Woher Sie wissen, wann Sie ALLE gefunden haben? Gar nicht. Das entscheiden Sie nämlich emotional. Sie werden immer zu den Argumenten tendieren, denen Sie entweder emotional zustimmen oder eben ablehnen; sie befürworten oder bekämpfen. Dumm ist nur, dass der Zugang zu diesem „Allen“ nicht total ist. Es wird immer etwas durchrutschen. Ihre Suche wird daher niemals ein „alles“ umfassen können. Menschen, die anderen gern vorwerfen, ein bisschen naiv zu sein, glauben von sich, die Ratio gepachtet zu haben und entlarven sich damit ihrerseits als beschränkt. Die Beschränkung ist immer ein Teil unseres Denkens und Fühlens.

Tatsächlich ziehen wir bei unseren Entscheidungen Unbewusstes mit ein und wie man da eigentlich ran kommen soll, wäre noch mal ein eigenes Kapitel wert.

Wenn Sie zu einem für sich befriedigenden Endpunkt gekommen sind sich ein nach dieser Prämisse sorgfältiges, informiertes und analytisches Bild gemacht haben. Wie sieht Ihre Schlussfolgerung aus?

Eben. Dass die anderen, die eine ähnlich qualitative Suche absolvierten, entweder mit Ihnen Ihr Spektrum teilen und andere, die dies nicht in der Güte taten, ein anderes Spektrum sehen, von dem sie glauben, es sei das ganze Bild, es nicht mit Ihnen teilen.

Woher wollen Sie wissen, dass Ihr Spektrum das Bessere ist? Sie wissen nun aber zumindest, dass Sie es nicht wissen.

Entscheiden wollen Sie sich aber trotzdem. Lassen Sie sich davon nicht verunsichern. Der Drang, mit etwas weiter machen zu wollen, wird Ihnen dabei helfen. Und man könnte zu dieser Methode immerhin sagen: Fair enough.
Unser Leben besteht aus Milliarden Einzelsituationen
Wenn ich herausfinden will, was Europa eigentlich ist, dann muss ich mir die Frage stellen, wie ich es wahr nehme und wie ich es gerne hätte.

Immer davon ausgehend, dass meine Wahrnehmung mich trügen könnte. Denn wie könnte ich denn je in der Lage sein, einen ganzen Kontinent in seiner Stofflichkeit und mit den darin lebenden Menschen und Lebewesen wahr zu nehmen (dafür müsste ich Gott sein) und ob diese Wahrnehmung mich nicht zu Wünschen verleiten könnte, die in Form von Handlungen anderen schaden könnte? Und die vielleicht an einer bestimmten Stelle innerhalb dieses mysteriösen Europa nicht bereits Wirklichkeit sind?

Gäbe ich der dunklen Seite in mir den Vorzug, so schlösse ich mich denjenigen an, die andere zu Stereotypen machen. Wäre es nicht besser, ich verzichtete auf das Gleichmachen und gestünde allen zu, was ich selbst erwarte: Dass man mich als einen Menschen mit sehr vielen Facetten und Eigenschaften, auch Widersprüchlichkeiten, betrachtet, die mich in der einen Situation so und in einer anderen anders agieren und reagieren lassen.

Nach obiger Prämisse ist schon die Frage falsch, welchen Beschränkungen ich „den anderen“ (Europäern, Nichteuropäern) auferlegen möchte oder welche Freiheit diese anderen genießen dürfen.

Die Frage müsste einen sehr viel tieferen persönlichen Bezug zu Ihnen herstellen, also lauten:

Wie wünschen Sie, zu leben?

Und nicht, wie Sie in Europa zu leben wünschen, sondern erstmal ganz klein angefangen bei Ihnen selbst. Beziehen Sie sich als eigene Körper-Geist-Existenz ein und gehen Sie dann vom Kleinen ins Große. Um ihren Körper herum ist Ihre Familie, drum herum die engen Freunde, dann Nachbarn, dann Kollegen, dann Ihre Straße, dann Ihr Wohnviertel, dann Ihre Stadt, dann Ihr Landkreis, dann Ihr Bundesland, dann Deutschland. Da legen Sie ganz schön Strecke zurück. Bis Europa werden Sie nach einer eingehenden Analyse Ihrer Wünsche und Bedürfnisse erstmal gar nicht kommen. Allein das Kapitel Ihres eigenen Körper-Geistes wird wahrscheinlich schon anstrengend und dann auch noch zu sagen, wie Ihre persönlichen Beziehungen sein sollen. Da müssen Sie sich ja zunächst auch mal fragen, was eine gute Beziehung überhaupt ist und welche Werte Sie als „gut“ erachten. Keimt der Gedanke, dass Sie, um ein guter Europäer zu sein, zunächst mal ein guter Mensch sein wollen?

Wenn Sie das Pferd von hinten aufzuzäumen versuchen, kriegen Sie einen Knoten im Kopf. Denn beim Großen anfangen, Entschuldigung, das machen nur Dummerchen, die finden, dass es sich toll anhört, die „wirklich großen Menschheitsfragen“ zu stellen. Groß ist daran nur die Menge der Fallen, in die man dabei tappt. Aber gut, versuchen Sie es doch mal. Am besten bei der „Welt“.

Wie sollte die Welt aussehen?

Jetzt aber Butter bei die Fische. Wo fangen Sie da am besten an?

Ich hab's probiert und echt, es ist eine so schwierige Angelegenheit, dass egal, wo ich beginne, irgendwie dauernd riesige Blöcke im Weg herumliegen, die ich einfach nicht geschoben kriege. Wer das besser kann, möge sich melden. Ich lass mich gern überraschen.

Ich habe eine vom Kleinen ins Große Analyse in meinem Leben immer wieder gemacht und werde sie auch künftig machen, da mein Leben nicht statisch ist und ich immer wieder neue Dinge über mich entdecke und dem Bild hinzufüge. Manchmal auch Dunkles. Jedenfalls wünsche ich mir weiterhin ein Europa, wo ich ohne Passkontrolle auskomme. Wobei ich Menschen treffen kann, die mich interessieren und deren Identitäten mit meiner insofern etwas zu tun haben als dass ich mich als Menschen begreife, der ganz höchst persönliche Vorlieben, Talente, Interessen und auch Schwächen hat, mit denen ich mich akzeptiert fühlen möchte. Womit man dann vielleicht doch irgendwann vor der eigenen Haustüre landet, wenn man dies nicht schon innerhalb dieser gedanklichen Reise verstanden hat und erst tatsächlich physische Grenzen überwinden musste, um solches zu erkennen. Dass es hier wie anderswo tolle Menschen gibt, die einem dieses gute Gefühl vermitteln, lässt sich nun wirklich nicht abstreiten. Man muss sie eben nur sehen wollen. Es ist eine Frage der Entscheidung, des Wollens.

Die Vereinfachung von komplexen Lebenswelten ist, was die Europäische Union und der Euro in meinen Augen vorgaukeln. Eine Vereinfachung, die auf das Große und Statische einzahlt, nicht aber auf das Kleine und Situationsbedingte. Man kann Europa auf keinen Fall mit den Vereinigten Staaten von Amerika vergleichen, da deren Geschichte um so viel jünger ist als die unsrige. Was hier gewachsen ist im Laufe vieler Jahrtausende besteht ja immer noch auf die ein oder andere Weise. Und wäre nicht die Bibliothek von Alexandria abgebrannt, wüsste man so viel mehr von der Vielfalt der Kulturen und Entdeckungen.

Mit einer Französin verheiratet, einem Kroaten befreundet und aus Skandinavien abstammend

Wenn zwei Deutsche darüber befragt werden, ob die Mischung verschiedener Kulturen etwas Gutes sei, kommen sie sehr wahrscheinlich zu unterschiedlichen Antworten an dem Tag, an dem sie dies gefragt werden, in der Stimmung, die sie genau dann haben. Der eine hat gerade eine erfolgreiche Zahnbehandlung bei einem syrischen Zahnarzt hinter sich, arbeitet mit Kollegen aus verschiedenen Ländern in einem Büro und ist mit einer französischen Frau verheiratet. Einer seiner Freunde ist ein arbeitsloser Türke. Der Befragte würde tendenziell antworten, dass es doch ganz normal sei, dass er als Deutscher sich auch gleichzeitig als Europäer fühle und die Mischung der Kulturen längst Realität sei.
Die andere Person, eine Frau, die als Sozialarbeiterin mit vielen Ausländern in prekären Situationen zu tun hat, mit einem Partner aus der Versicherungsbranche lebt, gerade die sehr schwierige Lebenslage einer kurdischen jungen Frau zu bewältigen hat, mit ihrem eigenen Gehalt und den vielen Problemen eher unzufrieden ist und einen echt bescheuerten Tag hinter sich hat, würde vielleicht sagen, das sei ja schön und gut sei, aber Kulturen zu mischen, gehe nur dann, wenn es eine Akzeptanz darüber gäbe, dass auch arme Menschen willkommen sind. Was sie wiederum nicht bemerken würde und es daher eher schwierig finde, die vielen Flüchtlinge bei uns herzlich aufzunehmen. Auch und gerade dann, wenn sie traumatisiert von Flucht und Krieg zu uns kämen.

Auf wessen Urteil soll man sich stützen? Welche Momentaufnahme ist die bessere? Natürlich kann es darüber kein abschließendes Urteil geben. Denn die einen Ausländer sind freiwillig bei uns durch Arbeit oder Heirat, die anderen unfreiwillig. Wer davon der bessere Ausländer ist, darf sich erst gar nicht als Frage stellen, denn damit würde man einfach nur ein Stück aus einem Puzzle herausnehmen und meinen, das ganze Bild zu sehen.

Nun hat das Wohlbefinden eines Menschen nicht viel mit all dem zu tun.

Wie zufrieden der Einzelne in seinem Leben ist, hat ausschließlich mit seiner persönlichen psychischen Stabilität zu tun. Dazu werden die Weichen bereits sehr früh gestellt. Wer unter unsicheren Umständen groß wurde, wird sich seiner selbst nicht sicher sein, seiner eigenen geistigen Führung nicht vertrauen können. Ein solches Kind wird die Bälle aufgreifen, die von den Tonangebenden um es herum ins Spiel gebracht werden. Ein solches Kind wird sich einer Peer-Group unterordnen, bei denen andere unsichere Kinder ihre Unsicherheit und Angst vor Ausgrenzung damit kaschieren, sich selbst groß und andere klein zu machen. Es wird sich beeindrucken lassen von dem „Haben“ der anderen und nicht von deren „Sein“. Da es in einer Welt groß wird, wo ebenfalls unsicher gebundene Erwachsene ihre Ängste übertragen, bleibt es, wenn es über wenig innere Stärke verfügt, den Themen verhaftet, die seine Umgebung ihm als bedeutsam antragen.
Wenn die Bälle auf dem Feld mit „Fremdenangst“, „Neid“ und „Egoismus“ beschriftet sind, wird es diese Beschriftungen als gültig akzeptieren und mit der Zeit davon durchdrungen sein, dass diese seiner menschlichen „Natur“ entsprechen.

Mein Grad an psychischer Stabilität macht mich Glauben, dass ich in Gefahr oder in Sicherheit bin. Mein Urteil, wie ich andere Menschen betrachte, welches Menschenbild ich aufgrund meiner frühkindlichen Erfahrungen gebildet habe, hat nicht wirklich etwas mit den anderen zu tun, sondern mit mir selbst. Tatsächlich wäre es besser, den Tönen der Tonangebenden den Rücken zu kehren und sich selbst richtig kennen zu lernen.

Der Selbst-Test

Wenn man Sie ganz höchst persönlich zu einem Vergleich zwischen sich selbst und einem Franzosen heranzöge. Welche Kriterien würden Sie dann angelegt sehen wollen? Ihr Bruttojahresgehalt? Wäre Ihnen auch noch wichtig, welche Aspekte Ihr Leben zu einem erfolgreichen Leben machen? Wie Sie sich mit Ihren Kindern oder Eltern verstehen, wer aus dem Familien- oder Freundeskreis Sie um Rat bittet. Wer von den Kollegen Ihnen bescheinigt, dass Sie großzügig Ihren beruflichen Erfolg teilen. Was man Gutes über Sie denkt und welche Fremdeinschätzungen Sie so im Laufe Ihres Lebens so zugetragen bekommen. Was Ihre Partnerin oder Ihr Ehemann über sie denkt und erzählt? Würden Sie es auch als Erfolg sehen, dass viele Menschen Ihnen in einer schon durchlittenen Lebenskrise oder aber schwierigen Phase beigestanden haben? Wo in Ihrer Brutto-Jahresabrechnung würden diese Aspekte zu finden sein?

Und wie würden Sie es finden, wenn der Franzose, der allein eine hundert Quadratmeterwohnung im feinsten Viertel von Paris bewohnt, die er nur zum Schlafen oder Angeben nutzt, sich über Ihr Leben ein negatives Urteil erlaubt, nur, weil er hunderttausend Euro mehr im Jahr verdient als Sie? Der seine Freunde niemals lang behält und wenn, dann nur zum eigenen Vorteil und obwohl er es sich leisten könnte, einen Unterhaltsstreit mit seiner Exfrau anstrengt. Wie würden Sie sich als Deutscher fühlen, den man reduziert auf sein Einkommen? Ich musste jetzt mal eine eindimensionale Szene kreieren, um dies deutlich zu machen und natürlich wird dieser von mir verunglimpfte Franzose liebevolle und schöne Seiten haben.

Reduktion auf eine monetäre Bilanz

Das ist es, was wir in der Europäischen Union aber tun. Wir reduzieren ganze Völker auf ihre Bilanzen. Der Rest rangiert unter „nachrangig“. Absurd, dass wir dennoch ideologisch argumentieren und entweder die Faulheit oder die Gier mit in diese unnütze Debatte hineintragen, die keine Debatte ist, sondern eine menschenunwürdige Lästerung. Fast muss man annehmen, dass ausgerechnet solche Menschen in Spitzen-Positionen drängen, die eine schlechte Kindheit hatten. Welcher geistig stabile Mensch tut sich das politische Parkett an? Mein Verdacht ist, dass sich dort die ehemaligen Peer-Grouplinge tummeln. In Gesellschaft ihrer Bürokratlinge, die sich den Alphatieren zwecks Sicherheitsdenken unterordnen. Mutig die, die sich auf dieses Glatteis wagen, weil sie finden, dass man die nicht alleine machen lassen soll.

Weshalb müssen Menschen aus ihrem Land fliehen? Und was würde sie zum Bleiben motivieren? Freiwillig würde ich zum Beispiel mein Land nur dann verlassen, wenn ich zuvor eine Entscheidung getroffen habe, die mit meinen Abwägungen zu tun hatte.

Was ist außerhalb von Europa los? In den so genannten „Entwicklungsländern“? Und warum scheuen wir uns, wenn wir so grünschnabelig davon reden, dass „unsere“ Wirtschaft wachsen müsse, dieses Wachstum in den Zusammenhang zu bringen mit der Ausbeute an Ressourcen anderer Kontinente und Staaten? Etwa, weil wir die Absicht haben, Unterschiede zu egalisieren? Weil ein Amazonas-Bewohner sich am besten entwickelt, wenn er einen europäischen Standard als Lebensmodell akzeptiert? Was ist ein europäischer Standard? Bildungsbürger und Wissensgesellschaften? Wovon leben diese Wissensbürger eigentlich?

Kinderkriegen ganz „privat“

Doch Unterschiede zu egalisieren, wie es passiert, ist unmenschlich und oft würdelos. Selbst da, wo man meint, egalitäre Gesellschaften bereits zu haben. Ein kleines Beispiel: In Holland entbinden dreizehn Prozent der werdenden Mütter zuhause oder in einem Geburtshaus. In Deutschland sind es knapp zwei Prozent. Das ist ein eklatanter Unterschied. Dabei ist Holland in Spuckweite.

Wenn nun Egalisierung passiert – über die Wirtschaft - Krankenhäuser privatisiert und in Kapitalgesellschaften umwandelt werden,folgt über kurz oder lang dasselbe in Deutschland und in Holland und anderswo. Die kleinen, wenig profitablen Nischen und Berufe weichen denen, die es nicht sind. Die größer werdenden Strukturen verdrängen in kurzer Zeit, was sich auf eine Kultur gegründet hat, oft über sehr lange Zeiträume. Man braucht nicht erst einen äthiopischen Kaffeebauern mit einem deutschen Milchwirt zu vergleichen. Oder einen griechischen Buchhalter mit einem deutschen Ingenieur. Wer ist „besser“ oder „wirtschaftlicher“? Basierend auf Zahlen?

Soll dies das einzige Messkriterium von Erfolg sein? Wessen Erfolg? Was gewinnt der Kaffeebauer dabei?

Dass im Nachbarland Holland die Hebammen nicht vor dem Aus stehen wie hierzulande, hat auch damit zu tun, dass die Allgemeinheit und das Gesundheitssystem die Versicherungen für Hebammen tragen; das Risiko auf viele verteilt ist. Und dass das Ansehen der Hebammen aus unerfindlichen Gründen höher ist als bei uns.

Dieses Beispiel ist nur eines unter vielen. Das Wachstum von großen Unternehmen hat durch die gemeinsame Währung noch einen Verstärker bekommen; die Entwicklung hat aber bereits vorher stattgefunden. Wann diese Entwicklung begann, ist schwer zu sagen, aber man kann schon auch den Zusammenhang erkennen, wenn man sich die Geschichte der Kolonialisierung betrachtet.

Dass Krankenhäuser der Gewinnmaximierung unterworfen wurden, hat nichts mit Kultur, gelebten Gewohnheiten und Werten zu tun, sondern mit „Effizienz“ und „Qualitätsmanagement“. Für Großinvestoren ist das praktisch - gekoppelt an Handelsabkommen wie TTIP noch sehr viel mehr, da die unterschiedlichen länderspezifischen Standards (die man auch schon blöd finden kann) damit umgangen werden könnten.

Der Weltenstandard mit Blick auf eine cosmic Economy

Den Standard diktierten dann nicht mehr die Länder, sondern die Unternehmen, denen es am liebsten egal wäre, welches Recht ein Land für sich in Gesetze gefasst hat.

Davon unabhängig sein, würde den lokalen Standort völlig unwichtig machen, wenn nicht Staatengesetze sondern Handelsverträge das oberste Recht eingeräumt bekämen. Ohne dabei überhaupt mit den richterlichen Instanzen eines Staates in Berührung kommen zu müssen. Aber mit den Mitteln eines Rechtsstaates, bei dem ein Unternehmen - eben wie sein eigener Staat - mit dessen Rechten, aber ohne seine Pflichten ausgestattet würde. Genauso recht ist es den Großunternehmen, dass man Bildungsstandards – die OECD lässt grüßen - einführt, damit auch die fertig ausgebildeten Absolventen von Göttingen bis Washington nach demselben Credit-System bewertet werden können.

Ich stelle mir eine Konzernzentrale im Orbit der Erde vor, von wo aus sie einen eigenen Staat bildet. Mit vielen hunderten von Mitarbeitern, die einen Angestellten-Vertrag haben. Dieser Vertrag ist seiner Natur nach an eine Weisungsbefugnis gebunden. Weil aber die Zentrale im All schwebt, sind Arbeitsrecht und Gesundheitsschutz – ganz zu schweigen vom Umweltschutz - davon ausgenommen, da der Weltraum ein rechtsfreier Raum ist. Die Zentrale hat ein großes Interesse, auch den Erdenraum mit Weisungen zu befugen und sich über die irdischen Rechte und ökologischen Folgen ihres Handelns hinweg zu setzen. Aus dem Grund, dass es wahnsinnig viel kostet, einen Staudamm zu bauen oder ein Atomkraftwerk. Einmal gebaut, muss es betrieben werden. Wie sonst soll man die Investition wieder reinholen, wenn die Regierung eines Landes etwa beschließen sollte, dass man keine Atomkraftwerke mehr brauche? Wer mit Fantastillionen hantiert, braucht ein paar Sicherheiten.

Scotty, beam me up!

Oben am Terminal würde man dann die Credit-Points aller Studenten aller Universitäten vergleichen und diejenigen hochbeamen, die den besten BWL-Score in der kürzesten Zeit erreichen. Es gäbe als Benefit sowas wie „Space-Cards“ zu gewinnen, nachdem man an einer Stipendium-Ausschreibung teilgenommen und ein Praktikum in der schwerelosen Abteilung der Weltraumzentrale absolviert hat.

Wie viel geistige Umsicht und Gedankenschmalz und Analyse wir für unser Europa eigentlich benötigen: das kann schon sehr abschrecken. Da die Ausschüttung von Gewinnen aber am Ende eines Jahres erfolgen und Legislaturperioden nur ein paar Jahre dauern – das alles nicht vierzig Jahre in der Zukunft liegt, wenn die Shareholder möglicherweise bereits das Zeitliche gesegnet haben, ist das zu kurz gedacht.

Sicher wissen Sie, dass auf der Welt die Menge an Kapital die Menge an Gütern übertroffen hat. Weil dem Kapital auf den Konten der Banken kein materieller Wert mehr gegenübersteht und Geld darum virtuell geworden ist; sich von seiner Stofflichkeit gelöst hat. Das haben Sie aber gelernt, dass dem Produkt ein Geldwert entgegensteht. Da nun aber das Geld mehr ist als es Produkte gibt, bleibt dem Kapital nichts anderes übrig, als die noch nicht in Produkte umgewandelte Materie umzuwandeln.

Das verstehe ich darunter, wenn man von „Märkte erschließen“ spricht. Alles, was sich im noch Unerschlossenen befindet, wird aufgrund dieser Logik vergütert werden müssen. Weil das nicht reicht, muss auch das Nichtstoffliche einbezogen werden, wobei man sich auch da fragen muss, was zum Teufel das eigentlich noch sein soll.

Alles, worin der eine Mensch einem anderen zu Diensten sein kann, hat heute ein Preisetikett. Rat kann man zwar auch umsonst geben, aber leider kann man dann seine Miete nicht mehr zahlen. Und so muss man seinen Rat und seinen Verstand verdinglichen und so tun, als sei er ein Produkt. Was sich nur noch sehr schlecht mit Großzügigkeit vereinbaren lässt.

Weil das immer noch nicht reicht, muss man ein und dieselbe Materie immer und immer wieder verkaufen und weil das nicht so gut geht, muss man sie dabei umwandeln und so tun, als sei dasselbe Produkt ein anderes. Besonders leicht geht dies bei immateriellen Produkten wie denen im Internet. Die lassen sich beliebig haltbar machen. Und obwohl man sie wahrscheinlich bis in alle Ewigkeit konservieren könnte, passt das natürlich nicht zur gemussten Menge. Darum hinkt die Hardware der Software dauernd hinterher.

Glauben Sie aber nicht, dass es nicht noch ausreichend begehrliches Unerschlossenes gibt.
Der Trick ist, ein Land in den Ruin zu treiben, damit es sich vom unerschöpflich vorhandenen Geld etwas leihen muss, dem es aber sehr wohl mit schöner Materie einen Gegenwert gibt. Weil das immer noch nicht reicht, kauft sich die Konzernzentrale die bisher in der Hand des Landes bzw. der Menschen des Landes befindlichen Strände und Küstengebiete, öffentliche Gebäude und andere nette Sachen. Die von nun an nicht mehr den Gemeinden und Städten gehören. Damit schnappt sie sich nicht nur die Rosinen sondern den ganzen Kuchen, denn auch der wird vergütert werden müssen.

Alle wollen Architekten sein

Könnte man ein Hotel bauen mit vierhunderttausend Betten: Es stünde bereits. So aber muss sich eine Hotelkette damit begnügen, ihre vierhunderttausend Betten auf mehrere Gebäude und Städte verteilt zu bauen und auch noch Rücksicht auf eventuelle lokale Gepflogenheiten zu nehmen.

Hier könnte nun eine sehr lange Liste mit sehr großen Konstruktionen folgen. Aber nun ist klar, wo die größte aller Konstruktionen gebaut wird: in unserem Kopf.

Ich denke nicht, dass Menschen sowas wirklich wollen. Nicht „in Echt“. Wir haben zuviel ferngesehen. Wir wollen den Schurken an die Wand nageln, das ist schon richtig ... schurkig geht es wahrlich zu.

Aber da besteht doch auch die Möglichkeit, selbst keiner zu sein.

Ich verweise wieder auf meine Prämisse. Schaden kann es jedenfalls nicht, das möchte ich doch behaupten.

Konstruiert sind natürlich auch die von mir genutzten Zuschreibungen, wie etwa „die Ökonomen“ oder die „Liberalen“. Es handelt sich um designte Begriffe, angeblich, um die Welt besser verstehen zu können.

Mal sehen, wo das hinführt:
Wer einen Liberalen beschreiben will, gerät in Erklärungsnot. Verwendet man dabei politische Termini, so müsste ein Liberaler hierzulande die FDP wählen. Da würde sich aber mancher lieber die Kugel geben. Oder zieht man doch lieber die historischen Figuren heran, um seine Freiheitsliebe zu artikulieren? Oder die auf Gesetzen ruhende Verfassung eines Landes?

Zwei Liberale auf facebook. Sagt der eine Liberale: Nieder mit dem Privateigentum! Sagt der andere Liberale: Du Kommunistenschwein!

Der eine will so frei sein, keine Beschränkungen der öffentlichen Hand zu dulden, während diese ihm gleichzeitig sein Unternehmen subventioniert, der andere beruft sich auf das Gemeinwohl, während er keinen einzigen Finger in seiner Gemeinde rührt. Da muss man doch zwangsläufig auf die Idee kommen, dass Privatisierung oder öffentliche Verwaltung immer nur so gut oder so schlecht funktionieren, wie die Einzelnen in den Unternehmen und Verwaltungen mental gestrickt sind. Pauschal zu hassen, hilft da wenig. Genauso wenig wie die entweder-oder Frage nach privatem oder öffentlichem Eigentum zu stellen. Ob das eine oder andere: Es sollte gefragt werden, welchen Sinn und Zweck die Unternehmung hat. Ist sie eine Dienerin aller?

Mancher, der sich als Vernunftsmensch begreift, weist auf die Best Practice Beispiele unternehmerischen oder öffentlichen Handelns hin. Andere Vernunftsmenschen fragen misstrauisch: „Best, für wen?“ Wenn „best“ allein den Profit eines Unternehmens meint, kommt auf der anderen Seite häufig ein „worst“ heraus. Der eine Vernunftsmensch versteht das dann falsch und ärgert sich darüber, dass der andere seiner Vernunft nicht folgen will und Wirtschaftswachstumsprozente nicht als segensreich empfindet.

Wirtschaftswachstumswunder sind unter einer Bedinung möglich:

Dort, wo es noch keine Wirtschaft gibt.

Ein Land ist durch Zerstörung – also Krieg – ruiniert worden. Auf diesem Ruin lässt sich dann ein Aufbau starten. Klar, dass man dann ein prozentual bedeutsames Wachstum verzeichnet. Oder: Ein Land ist marktmäßig noch unerschlossen.

Was ist ein gutes Leben? Wer weiß es?

Die Idee zu entwickeln, dass erst dann, wenn andere um uns herum ein gutes Leben führen, dies auch einem selbst zu einem guten Leben verhilft, wird von der Mentalität der „Realisten“ verunglimpft. Die zu wissen scheinen, dass solch eine Sicht auf den Menschen bloß dazu führt, gefressen zu werden. Um dieser Aussage die nötige Kraft zu geben, wird der Realist mal schnell zum Biologen und redet davon, dass dies „naturgemäß“ so und dass der Mensch an und für sich ein räuberisches und konkurrierendes Wesen im Darwinschen Sinne sei, nach der der fitteste überlebe.

Die wirklichen Biologen wissen es natürlich besser und raufen sich ob eines solchen Realismus die Haare. Von friedlichen Ko-Existenzen, komplementären und kooperativen Konzepten scheinen die Realisten noch nie etwas gehört zu haben und sehen sich bestätigt im Angesicht dessen, dass die ihnen Widersprechenden Widerstand leisten und damit eben nicht sehr kooperativ und friedlich auftreten. Die haben entweder in der Schule nicht abschreiben dürfen oder aber ehrgeizig ihre Klassenarbeit vor den anderen abgeschirmt.

Es ist auffällig, dass solche Diskussionen nicht in der „Ich“-Form geführt werden. Würde man jemanden, der sich auf eine solche „Natur“ beruft, auf sich selbst zurückverweisen und ihn fragen, ob er es richtig fände, beispielsweise mit der eigenen Ehefrau zu konkurrieren oder gar mit seinem Sohn und ob er fürchtet, von seinem Bruder oder seiner Schwester gefressen zu werden, da sein Menschenbild schließlich auch seine Anverwandten einschließen müsse... was wäre die Folge?

Ich habe es probiert, wenn im Gespräch von „anderen“ oder von „man“ die Rede war. Sobald ich vom Absrakten ins Konkrete zu kommen versuchte, wechselte mein Gesprächspartner entweder das Thema oder ging nicht auf meine Frage ein. Intervenierte ich weiter und versuchte, seine konkrete Lebenswelt in seine Betrachtung mit einzubeziehen, passierte es, dass mein Gegenüber aggressiv wurde. Immer war die Weigerung zu spüren, diese Distanz abzubauen und eben nicht den Menschen als Objekt – und damit auch sich selbst - zu betrachten.

Tatsächlich wäre es dann wohl besser, die Meinungen stecken zu lassen und seines Weges zu ziehen. Diejenigen, die daran interessiert sind, dass keine Säue durchs Dorf gejagt werden, machen am wenigsten auf sich aufmerksam machen fallen in ihrer friedlichen Ko-Existenz kaum auf.

Diese Tatsache ist viel bedeutsamer, als alle glauben!!

Den auf den Polen Verharrenden kann dies schon mal suspekt vorkommen und man schimpft den Unauffälligen gern einen Opportunisten. Das ist aber ein gemeiner Trick, um doch eine Gegenposition beziehen zu sollen, die dann der Realist mit allen Mitteln zu bekämpfen bereit steht. Das gibt seinem Leben einen Sinn. Am besten, einen „höheren“.

Wer darf in den Club?

Wer sich als würdig erweist, einer Gruppe anzugehören und wer nicht, entscheiden immer andere und zwar die, welche sich die Macht verleihen oder von denjenigen, die sich dort angesiedelt haben und dazu gehören wollen, in den Rang von Entscheidern gehoben werden. Womit ich wieder bei dem größeren Club angelangt wäre, der Europäischen Union.

Die Europäische Union ist eben nicht Europa. Europa ist was Gewachsenes, jedes Land für sich, das sieht man doch auch schön an der Sprachenvielfalt. Unabhängig davon, wie verkorkst die einzelnen Geschichten sind. Die europäische Union ist aber ein Zusammenschluss von Leuten, die die Bestimmer der Geschicke aller Europäer sein wollen.

Weshalb gibt es eigentlich eine eigene europäische Verfassung?

Und was besagt die? Und wie steht es dann um die nationalen Verfassungen unter einer europäischen?

Vor ein paar Tagen sprach ich mit jemandem über meine Gedanken zu diesem Thema. Bei ihm entstand zunächst der Eindruck, ich sei gegen ein Europa, dabei bin ich genau das nicht. Ich bin nur gegen einen weiteren Club.

Er sagte mir, wie beeindruckt er von der Charta der UNO gewesen sei und dass doch auch der europäische Raum eben von diesen Werten getragen sein sollte, die es bei der UNO auf einem großen Banner zu sehen gegeben hätte. Ich sagte, dass die UNO schon sehr viel länger bestünde als die EU stellte ihm daraufhin die Frage, ob er gedacht hat, dass die Werte der Ersteren auch die der Zweiteren spiegeln. Da ich sah, dass er dies nicht wusste sondern lediglich angenommen hatte, erzählte ich ihm, dass die EU aus der EWG heraus entstanden ist und dass die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft schon in ihrem Namen transparent machte, worauf es ihr bei dem Zusammenschluss ankam: Auf die wirtschaftlichen Aspekte zwischen den Gründer-Staaten.

Wir unterhielten uns eine Weile und er bemerkte, dass es doch gut sei, wenn sich Anlaufstellen bildeten, die nicht so weit weg wie New York seien, also eher in der Nähe. Woraufhin ich einwarf, dass ich die Nähe zur EU als nicht sehr viel näher empfinde, als zu der Einrichtung der UNO und dass wir keine weitere Zentralisierung brauchen, da die Strukturen bereits längst vorhanden sind, nämlich in den demokratischen Kommunen und Landesverwaltungen und Regierungen, in den Rathäusern und so weiter. Wenn wir dort die Bedeutung der Werte, die wichtig sind, an die oberste Stelle hängen, wäre eine EU genauso überflüssig wie diejenigen „Clubs“, die entgegen dieser Werte handeln. Womit wir beide wussten, was gemeint war, nämlich die Verletzung von menschlichen Rechten und ihrer Würde. Alles, was mit Hass, Krieg, Neid zu tun hat.

Was ich damit gemeint habe, war, dass wir uns nicht davon beeindrucken lassen sollten, dass sich eine Instanz über eine vorhandene Instanz, die über einer weiteren Instanz steht, erhebt.

Würde bereits die lokale Instanz im positiven Geist von Würde und der Beachtung des Wohles ihrer anvertrauten Menschen agieren, dann müssten die darüber befindlichen Instanzen nicht andauernd angerufen oder gar ins Leben gerufen werden. Was ich meine, ist dann gut zu erkennen, wenn man sich kleinere Gemeinden anschaut, die ihre Autonomie weitestgehend behalten haben und das Zusammenleben in ihrem Dunstkreis gemäß gewollter Teilhabe gestalten.

Ich nehme an, dass ich erst noch betroffen sein werde und die Welle bei mir noch gar nicht angekommen ist. Jedenfalls hab ich seit der Einführung des Euro und auch nach der Finanzkrise und den sonstigen Krisen nur eines richtig richtig doll gemerkt: Dass die Mieten in Hamburg unverschämt gestiegen sind und kein Ende in Sicht ist. Sehr wahrscheinlich, so mutmaße ich, dass das irgendwie mit allem zu tun hat. Jedenfalls ist ungewiss, ob ich mir in meinem Leben noch einmal einen Umzug in eine andere Wohnung leisten will, nachdem klar ist, dass alle Mieter, deren Verträge älter als zehn Jahre sind, sie mit ins Grab nehmen werden.

Was ich sonst noch merke oder nicht merke, mag am Bollwerk Europa liegen und daran, dass ich ansonsten merkbefreit bin, weil ich auf die Tagesschau verzichte. Unzufrieden bin ich ja nur dann, wenn ich einen Mangel erlebe. Ach so: ich bin ein ignoranter Profiteur der europäischen Bemühungen, sich global stark zu machen? Meine Antwort: Ich habe nicht um die Club-Mitgliedschaft gebeten. Ich möchte bezweifeln, dass mein Wohlstand etwas mit den jüngsten Bemühungen der Europäischen Union zu tun hat.

Dieser Wohlstand gründet sich auf dem, was andere vor mir aufgebaut haben – gewiss nicht immer mit den besten Mitteln. Meiner Wahrnehmung nach erfährt Europa eine Zeit der Trennung und Missgunst. Unter den einzelnen europäischen Ländern als auch mit dem Rest der Welt.

Unschuldiges jugendliches Reisen

Zu meiner Zeit war es ein besonderes Ereignis, in Italien oder Griechenland Urlaub zu machen und wir waren davon beeindruckt, wenn einer mit den übrig gebliebenen Peseten oder Lira zurück kam mit Geschichten an Bord – wir waren interessiert; auch am Wechselkurs und haben etwas über Devisen gelernt. Wir hatten nie das Gefühl, dass die Passkontrolle etwas Böses war, man fuhr dort als Deutscher ganz anders über die Grenze, als etwa bei einer Einreise in die DDR. Das, was mir als junger Deutscher als „gut“ über die gemeinsame Währung des Euro verkauft werden solle, das hatte ich bereits - trotz der Grenzkontrollen – schon als „gut“ erlebt. Ich denke, dass ein Gefühl von Freiheit innerhalb Europas auch schon damals eine gemeinsame Erfahrung gewesen ist, da wir den Vergleich hatten mit einer weitaus restriktiveren Einreise-Erfahrung, nämlich in den Osten.

Aber auch die Andersartigkeit der Italiener und das fremde Essen, die Landschaft und so weiter erfüllten uns mit Staunen. Darüber staunt heute irgendwie kaum einer, wo es doch so normal geworden ist, dass man europäisches Städte-Hopping macht. Echten Eindruck schindet man mittlerweile damit, dass es Fernziele sein müssen wie Thailand oder Japan. Zu denselben Konditionen versteht sich wie beim Ferienmachen im Italien der siebziger und achtziger Jahre. Man meckert ja schon darüber, dass Europareisen so teuer geworden sei. Aber natürlich, ein Bulgare oder Pole hatte es vielleicht an der italienischen Grenze nicht so leicht wie ein Deutscher. Darf man eben auch nicht vergessen.

Ich liebe Europa, diese Wunderbare!
Aber die Europäische Union scheint mir ein ganz schönes Biest zu sein.


Fotos:
Oben - Straße: Photo by freddie marriage on Unsplash
Stilleben: Photo by Jez Timms on Unsplash
Bruce Lee: Photo by Fervent Jan on Unsplash
Rose: Photo by Laura Ockel on Unsplash
Mega-City: Photo by NASA on Unsplash
Dubai Hotels: Photo by Daniel Zacatenco on Unsplash

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was für ein allesumfassendes Werk - mir raucht jetzt ein bisschen der Kopf, aber ich konnte nicht anders und habe es durchgelesen... und unterwegs und bis zum Schluss versucht die für mich wichtigste Essenz im Auge zu behalten :-) "Nämlich hat das Abstrakte und Fernliegende an Bedeutung gewonnen, während das Naheliegende und Konkrete an Bedeutung verliert." Das ist für mich der wichtigste Punkt im "Plan", falls es einen solchen gibt. Alles worüber du noch schreibst ist wichtig beobachtet, aber für mein Gefühl nur als "Beschäftigung und divide/concer" Projekt initiiert. Das Naheliegende und Konkrete wieder an die ihm angemessene Stelle zu rücken ist ein Hauptantrieb meines/unseres (Familie, Verein etc.) Tuns und Handelns - und ich sicher, es ist das einzig wirklich Wichtige. Alles im weiter Außen darf sein - und darf eben genauso sein, wie es ist (die Pfälzer haben den schönen Spruch "Anerschwo isch anersch")... Das "Weltenwetter" im Blick, gehe ich davon aus, dass sich die nahen, regionalen Struckturen am besten bewähren werden - und welch ein Glück für jeden, der mehr als die Namen seiner Nachbarn kennt, wenn der Regen beginnt :-) Viele liebe Grüße aus den Sieben Bergen an dich nach Hamburg

Herzlichen Dank für deine Antwort. Ich freue mich, dass du bis zum Schluss gelesen hast. Interessant, dass du die Essenz darin findest, dass das Abstrakte und Ferne mit dem Nahen und Konkreten konkurriert. Für mich ist das wie eine Art Zivilisationskrankheit. Hier schmerzt ein Nerv bei mir. Deine Arbeit ist sicher ein guter Ausgleich zum Steemen.

Schön gesagt: "Mehr als die Namen der Nachbarn zu kennen, wenn der Regen fällt." Gute Nacht ins Siebengebirge!

My religion teaches me that whenever there is distress which one cannot remove, one must fast and pray.

- Mahatma Gandhi

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