Vergebung - gelebte AufarbeitungsteemCreated with Sketch.

in #deutsch6 years ago (edited)

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Ich möchte euch wieder an einem weiteren Schritt der Aufarbeitung teilhaben lassen.

Gestern habe ich zwei Menschen getroffen, die in meiner Kindheit eine Rolle spielten, im Zusammenhang mit meinem leiblichen Vater.

Bis vor Kurzem waren mein Herz noch voller Härte und mein Körper voller Zorn, wenn ich an ihn dachte.

Tausende Male in den letzten 10 Jahren malte ich mir aus, wie ich ihm all meinen Schmerz entgegenschmettern würde, wenn ich ihn wieder sehe. Wie ich ihm all die wüsten Sachen sagen würde, die ich als Kind und Jugendlicher fühlte, aber nie aussprechen konnte, weil er gar nicht da war. Tausende Male stellte ich mir vor, wie ich ihn so verletzen würde, wie er mir immer wieder und wieder das Herz gebrochen hat.

Mit dem momentanen Prozess und der Selbsterkenntnis, wurde mir nach und nach bewusster, wie sehr er als Vater mein männliches Selbstbild geprägt hat und wie weh mir das bis heute tut. Wie sehr ich einen Vater gebraucht hätte der meiner zerstörerischen Energie Einhalt geboten hätte... hätte... hätte...

Vor ein paar Monaten sagte ein lieber Freund zu mir in etwa, dass die Wut die ich gegen meinen Vater spüre, sich einzig und alleine gegen mich wendet. Dass ich nur in die volle Größe kommen kann, wenn ich ihm vergebe und ich spürte einen massiven Widerstand in mir. Niemals, auf gar keinen Fall, könnte ich diesem Menschen vergeben was er getan und noch mehr, was er nicht getan hat, nie.

Doch nie, ist eine verdammt lange Zeit.


Natürlich weiß ich, dass dieser Zorn nur mir selber schadet. Was sagt es über mich, wenn ich meine eigenen Wurzeln so sehr ablehne und verachte?

Als ich 2.5 Jahre alt war, bedrohte mein Vater meine Mama und mich.

Die Polizei kam mit Waffen, in voller Montur und führte ihn ab. Danach sind wir postwendend in eine andere Stadt in ein Frauenhaus gezogen. Ich erinnere mich an diesen Tag.

Ich fühlte mich schuldig, dass die Männer meinem Papi weh tun, während er mir zeitgleich solch eine Angst einjagte. Ich fragte meine Mutter, wie ich reagiert hätte die Tage danach, immerhin war mein Vater von heute auf morgen weg und die Polizisten, die ihn abführen, mein letztes Bild von ihm.

Sie sagte, ich hätte tagelang geschrien, ich wolle zu meinem Papi, die ganze Autofahrt über hätte ich geweint und nichts hätte mich beruhigen können.

Ich sass da und fühlte diesen Schmerz und die Traurigkeit in meinem Innern und war voller Mitgefühl für diesen kleinen Menschen, der damals seinen Papi verlor.

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Ich begann, mich Stück für Stück mit meinen Gefühlen auseinander zu setzen, und gestern ging ich einen sehr großen Schritt weiter.

Ich traf diese beiden Menschen, die meinem Vater besser kennen als ich. Sie lebten in ihrer Kindheit 10 Jahre mit ihm zusammen.

Nun, ich will ehrlich mit euch sein.

Ein Teil von mir, wollte gar nicht zu dem Treffen, wollte es absagen. Irgendwie fühlte ich mich gar nicht wohl bei dem Gedanken, zum ersten Mal seit sehr, sehr langer Zeit, so intensiv damit konfrontiert zu werden. Mit all der Unzulänglichkeit des Lebens, all der Schwäche, dem Schmerz und meinen schlimmsten Momenten.

Doch ich ging hin, Gott sei dank!

Wir hatten einen wundervollen und unglaublich heilsamen Abend. Zum ersten Mal fühlte es sich an, wie Familie. Die beiden Mädels und ich. Es gibt ein Band zwischen uns, für den Rest unseres Lebens. Weil wir denselben Menschen als Vater haben. Sie nicht biologisch und ich nicht erlebt und doch, verbindet dieser Mann uns drei.

Wir erzählten uns so vieles, schlossen Wissenslücken und waren voller Güte und Liebe füreinander. Wir alle teilen irgendwo denselben Schmerz und wissen doch, dass der Mensch der ihn verursacht hat, einfach nicht anders konnte und kann.

Dieses Treffen war so unglaublich wichtig für meinen Heilungsprozess, ich kann das gar nicht in Worte fassen. Ich habe einen Teil meiner Familie wiedergefunden und die Mädels sind total glücklich, ihren Halbbruder wieder zu haben. So ihre Worte. Wir möchten dieses Geschenk alle drei nie wieder verlieren.

Heute hat sich etwas grundlegendes zu gestern verändert.

Die Wut ist weg

Natürlich ist alles noch genauso real doch ich fühle ganz tief in mir, einen Frieden damit. Zum ersten Mal in meinem Leben empfinde ich Dankbarkeit, ich weiß nicht genau, wie ich das ausdrücken soll.

Ich kann euch jetzt gerade, mit aller Aufrichtigkeit sagen, ich empfinde eine gewisse Liebe für diesen Menschen, denn er hat mir das Leben geschenkt. Ich vergebe ihm, dass er nicht perfekt ist, ich vergebe ihm, dass er nicht der Mann sein kann, der er selber gerne wäre und ich vergebe ihm, dass er mich nicht geschützt hat.

Ich weiß nicht genau, was dass für die Zukunft bedeutet, aber meine Schultern fühlen sich leichter an und mein Herz ist wieder ein wenig freier. Der Schatten über meiner Seele hat sich wieder ein grosses Stück weiter zurückgezogen.

Ich bin gespannt, ob unsere Wege jemals wieder zusammen führen und ob ich jemals die Gelegenheit habe, ihm zu begegnen, von Angesicht zu Angesicht, von Mann zu Mann und ihm Danke zu sagen .

Danke für dieses Geschenk, dass ich Leben nennt.

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Schön geschrieben.
Du bist auf deinem Weg.
Freut mich zuhören bzw lesen das es dir besser und besser geht.

Fühl dich umarmt
🌸🙏🏼🦋

Oh danke Liebes, wir sollten mal wieder Schnacken was bei dir so los ist <3

Hey sweety, immer gern. Mit dir über Gott und die Welt schnacken macht immer Freude 💜🦋🌸

Riesen Kompliment für diesen Schritt. Du bist über einen riesigen Schatten gesprungen. Und das erfordert Mut, Kraft und brutale Ehrlichkeit zu sich selbst.

Ich kann Dir nur sagen, dass das komplett richtig ist, was Du machst.
Ich habe in der Vergangenheit auch mit zwei Menschen die ich sehr geliebt habe einen schlimmen Streit gehabt. Meine Gefühle waren voller Hass und voller Abneigung und Verachtung.
Aber irgendwann hat sich das gelegt...

Zu einer Person habe ich damals den Kontakt wieder hergestellt und diese Grube in meinem Herzen zugeschaufelt. War sehr gut für mein eigenes Seelenheil.

Die andere Person treffe ich in unregelmäßigen Abständen zufällig (gleicher Sport) und wir reden normal miteinander. Und beahndeln uns wie Menschen.
Und auch dieser Schritt hat mich Kraft gekostet. Und jetzt fühle ich mich stärker als zuvor.

Alles Gute weiterhin für Dich!
Und Danke fürs Teilen!

Danke mein Lieber.
Hier gehts nicht mal um Streit sondern um wirklich schlimme Dinge die gar nicht gehen. Sie gehen für mich auch heute noch nicht und solange er sich nicht grundlegend ändern kann/will, wird er nicht Teil meines Lebens sein können, aber vergeben kann ich trotzdem.

Ich denke, mit jemandem gut befreundet sein und zu verzeihen, sind 2 Paar Schuhe :)

Schön das du den Weg für dich auch gehen konntest, freut mich sehr.

Ich habe Dir schon mal mitgeteilt:

alles zu verstehen, heisst alles zu vergeben

Und genau so sehe ich deinenm diesen Schritt mit diesen zwei Mädels, die dir soviel zu verstehen geben.
Den Scmerz den man mit sich trägt ist enorm wichtig, aber irgendwann ist es an der Zeit, diesen Schmerz in Freude zu wandeln. Nicht Du bist schuld, lass hier ruhig noch mehr los und es wird noch viel mehr grossartiges passieren.

Liebe Grüsse aus der Sonne

Ja genau :)
Es geht dabei ja nur um uns. Wir Kinder (mit ü30...is klar) haben es verdient, ein glückliches Leben zu leben und dürfen da die Macht der Eltern herausnehmen. Und dass geht nur, indem man loslässt.

Vieles wusste ich schon und einiges ahnte ich.
Für mich ist es vor allem ein Geschenk, dass aus all diesem Schmerz doch etwas so wunderbares entstehen konnte wie diese Bindung zwischen uns. So kann ich darin etwas Neues schönes finden für mich und dass ist sehr kostbar.

Hallo Raffael,
genau dieses Thema war in den letzten Tagen Grundlage für einen kleinen Meinungsaustausch zwischen @parzifal1 und mir.
Während Reinhard voll und ganz auf dem Weg liegt, den du mit diesem ersten Treffen eingeschlagen hast, tue ich mir schwer damit. Jeder muss ganz alleine für sich selbst entscheiden, da niemand (außer dir selbst) nachvollziehen kann, warum es überhaupt zu dieser Konstellation gekommen ist.
Wenn dieser Weg dir hilft, dann hast du alles richtig gemacht.

Gruß
Wolfram

Ich hätte dir vor 3 Wochen noch gesagt, dem Arschloch vergeb ich niemals. Dieser Mann hat Dinge getan die unverzeihlich sind, egal wer sie tut, dass kann ich nicht vergeben, geht nicht.

Und jeder der weiss, was er alles getan hat, versteht diese Härte.

Und doch spür ich jetzt, ich muss diese Härte nicht mehr fahren, um mich zu schützen.

Ich glaube, es gibt da ganz viele Facetten und auch das ist nicht gradlinig.
Z.B möchte ich trotzdem nicht, dass er Teil meines Lebens ist.
Nur weil ich ihm vergebe, halte ich nicht die andere Wange hin ;)

... klar, du musst dich dabei nur wohl fühlen. Meine persönliche Einstellung ist mir ja auch nicht am Kiosk zugesteckt worden. Auf Gewalt und egoistische Manipulation der eigenen Kinder folgt von mit die Rote Karte.

Ja mein Vater hat auch eine rote Karte und gefühlt tausend Gelbe :D
Es geht auch nicht um eine Absolution oder ein Freundschaftsangebot an ihn, dass gibts beides nicht. Aber es geht um Frieden und Ruhe mit dem Thema in mir :)

Respekt, ich weiß nicht ob ich es geschafft hätte so über meinen Schatten zu springen.
Vielen Dank für diesen Beitrag, das hilft in Situationen wo ich selber mal den Mut verliere ;)

Oh danke für die lieben Worte.
Genau deswegen teile ich solche intimen Momente meines Lebens.
Mir hilft es sehr, wenn andere diese Anteile für mich öffnen, mir gibt es Mut auf meinem Weg und so hoffe ich, damit anderen Mut und Kraft zu geben, für sich mehr Freiheit und Frieden zu finden.

Wir alle haben nur dieses eine Leben.

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