Modelle können keine Emergenzen vorhersagen

in #de-stem6 years ago

Der Kommentar von @lauch3d zu meinem Beitrag Wie kann man aus Wirkungsnetzwerken simulationsfähige Stock-Flow-Modelle Modelle bauen? veranlasst mich, etwas Allgemeines über Modelle und Emergenzen zu schreiben.

Emergenzen


Ein System erfüllt einen bestimmten Zweck. Dazu benötigt es z.B. Energie (und Stoffe und Informationen), die es von irgend woher aufnimmt. Einen Teil der Energie investiert das System in die Aufrecherhaltung seiner eigenen Strukturen. Bei reichhaltigem Energieangebot, d.h. wenn das System sehr weit weg von seinem Gleichgewicht ist, kann es zufälligerweise zu einer spontanen Umstrukturierung kommen, die das System z.B. in die Lage versetzt, neue Funktionen zu entwickeln. Das spontane Auftreten neuer Strukturen und Funktionen nennt man Emergenz. Weil Emergenzen spontan auftreten, sind sie nicht vorhersehbar und zufällig.


Emergent auftretende Struktur in einer erwärmten Flüssigkeitsschicht. Dieses System ist so einfach, dass es näherungsweise mathematisch noch gerade erfasst werden kann.

Kein Modell kann Emergenzen in erstmaligen Systemen vorhersagen oder gar berechnen. Da Wahrnehmung auch immer modellhaft ist, verbleibt jedes Sein in ungewisser Umgebung. Für mich bedeutet das, dass ich mit keinem Verfahren Emergenzen vorhersehen, ja nicht einmal erahnen kann. In letzter Zeit ist Intuition ein beliebtes Thema, vor allem in modernen Unternehmens- und Managementkonzepten. Weder durch Intuition noch durch intuitive Heuristiken lässt sich das Unvorhersehbare einfangen. Unvorhersehbarkeiten bleiben definitiv unvorhersehbar. Zum Glück, finde ich. Nur so kann Neues entstehen.

Modelle


Modelle sind Systembeschreibungen. Es gibt die mentalen Modelle in meinem Kopf. Sie sind anschaulich und oft etwas wirr, denn sie basieren weitgehend auf Glaubenssätzen. Dann gibt es verbale Modelle, die den Zweck des Konsens erfüllen. Schliesslich gibt es formale Modelle, deren Implementation heute meistens softwarebasiert ist. Wirkungsnetzwerke oder Causal Loops Diagrams (CLD) sind irgendwo zwischen den verbalen und den formalen Modellen anzusiedeln.

Formale Modelle können zeitdiskret oder zeitstetig sein. Zeitstetige Modelle basieren meist auf Differentialgleichungen und finden ihre Anwendung vor allem bei grossen Populationen. Zu den zeitdiskreten Modellen würde ich auch Multiagentenmodelle zählen, bei denen einzelne Softwaremodule miteinander wechselwirken.
In beiden Fällen stehen determinierte Berechnungen dahinter. Auch wenn mit Wahrscheinlichkeiten gerechnet wird, kann dabei natürlich nie etwas Neues entstehen. Dennoch haben Modelle ihre Berechtigung, nicht nur in logistischen Simulationen, wo es darum geht, gewisse Skalierungen zu studieren.

System Dynamics Modelle werden immer häufiger bei ökologischen Fragestellungen eingesetzt. Immerhin war es der Erfinder der System Dynamics selbst - Jay W. Forrester - der das Weltmodell entwickelte, das die Basis der Studie Grenzen des Wachstums des Clubs of Rome bildete. Das Modell geht gerade davon aus, dass keine Emergenzen auftauchen, sondern dass sich die ökologische Entwicklung stabil, d.h. ohne Sprünge, entwickelt. Unter diesen Voraussetzungen kam das Modell zu gewissen Voraussagen über die Verknappung von Ressourcen und pro Kopf Verfügbarkeit von Nahrung. Dabei liegt die Aussage m.E. überhaupt nicht in den zeitlichen und quantitativen Prognosen, sondern darin, dass sich die Auftraggeber der Studie der Grundproblematik bewusst werden.

Nutzen von System Dynamics Modellen

Das ist der Hauptnutzen, den ich in solchen (determinierten - andere gibt's gar nicht) Modellen sehe: ist das Modell hinreichend umfangreich, können Fern- und Nebenwirkungen von Entscheidungen sichtbar gemacht werden, an die sonst nicht bewusst gedacht worden wäre. Es ist klar, dass der Horizont, den das Modell eröffnet, von der Art und Weise der Modellierung abhängt und dass sich daher in einem Modell andere Fern- und Nebenwirkungen manifestieren können, als in einem anderen Modell, das denselben Gegenstand beschreibt. Insofern spielt die Person des Modellierers eine wesentliche Rolle.

System Dynamics Modelle dienen grundsätzlich dem "policy design", also dem Entscheid, welche Richtlinien im System gelten sollen. Die System Dynamics Society definiert:

System Dynamics is a computer-aided approach to policy analysis and design. It applies to dynamic problems arising in complex social, managerial, economic, or ecological systems–literally any dynamic systems characterized by interdependence, mutual interaction, information feedback, and circular causality

Dabei geht man stets davon aus, dass das System, das man modelliert, keine Emergenzen durchläuft. Ein System ist nicht einfach chaotisch und erfährt eine Emergenz nach der anderen. Zwischen zwei Emergenzen ist das System (hoffentlich) stabil, denn sonst könnte es seine Funktionen gar nie erfüllen. Inspiriert durch eine Grafik von Fredmund Malik habe ich nebenstehende Darstellung gezeichnet. Man beachte, dass die unabhängige Variable nicht die Zeit ist, sondern so etwas wie die Distanz zum Gleichgewicht. Ein Kapitel in Hermann Hakens Synergy war betitelt mit Zwischen Zufall und Notwendigkeit. Genau in diesen notwendig stabilen Phasen können System Dynamics Modelle sinnvoll sein.

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Aber ist der Sinn einer Heuristik nicht die Notwendigkeit der Vorhersage zu umgehen (weil zu riskant)? Z.B. geht CLD von normal Bedingungen aus (Hühner gesund), die Welt wenn sie z.B. durch eine Pareto-Verteilung beschrieben werden könnte (z.B. bei Preisschwankungen oder Wirtschafts Ereignissen) wartet jedoch mit hoher Volatilität auf, bzw. hohen x-Sigma Ereignissen, welche kaum, bzw. praktisch nicht vorhersagbar sind (Vogel-Grippe). Oder der Klassiker: ein Börsencrash. Dieser kann durch ein Bifurkationsdiagram modelliert werden (wie in diesem Artikel) und in der "relativ stabilen Phase" haben wir ein Fenster der hypothetischen Vorhersagbarkeit (berühmtester Vertreter Sornette et. al mit ihrer Dragon-King Theorie) .

Ein Unternehmen in seinen Entscheidungen, würde sich aber nie auf eine hypothetische Vorhersagbarkeit verlassen können, wenn die Exposition gegen über einem Risiko oder der Unsicherheit hoch ist (was aber oft leider der Fall ist). Da die Entscheidungen als Spiel betrachtet und bezogen auf die hohen x-Sigma Ereignisse, nicht-ergodisch sind (z.B. nach Murray Gellman) und die Wahrscheinlichkeit des Ruin des Systems, bei einem solch waghalsigen Unterfangen (weil starke Abweichung durch Approximations-Fehler möglich) 100% beträgt. Das Ausscheiden wäre also bei ausreichender Zeit gewiss (auch wenn man nicht sagen kann wann).

Das CLD preist also alles was außerhalb des engen Bandes ist, das wir Alltag nennen, nicht mit ein. Weder die Vogel-Grippe, noch die "Schummelsoftware", noch das Liebesleben des CEO. Ein CLD (oder auch lineare Modelle) ist somit, wenn ich das richtig verstehe, nur ruhigen Gewissens zu nutzen, wenn die Infrastruktur in die es eingebettet ist, gegen ALLES geschützt ist, was das CLD nicht abdeckt (und auch nicht abdecken muss) und da man ALLES nicht kennen kann. Hilft nur ein heuristischer Rahmen.

wenn ich ganz am Thema vorbei bin, einfach sagen :D

Zunächst bin ich in meinem Artikel von CLD zu Stock-Flow-Modellen gegangen. Du sprichst aber hier immer wieder von CLD und stellst sie sogar in dieselbe Ecke, wie lineare Modelle. CLD und Stock-Flow-Modelle können hochgradig nicht-linear sein und auch nicht-ergodische Ereignisse betrachten.

Und selbstverständlich werden in einem Stock-Flow-Diagramm, das etwas taugt, Vogelgrippen und andere Risiken naturgetreu abgebildet, denn gerade dafür sind solche Modelle ja gemacht! Die Frage ist ja stets: Was ist, wenn....?

Und ob sich Unternehmen auf Prognosen verlassen! Sämtliche ERP und BI Systeme geben Prognosen heraus, auf die sich Unternehmen abstützen. Was glaubst Du, was z.B. mit einem Finanzer oder Unternehmensentwickler passiert, der nach einem Crash sagt, er habe so nach seiner gefühlsmässigen Heuristik oder nach seiner Intuition gehandelt? Wenn er jedoch SAP-Analysen referenzieren kann, wird der Crash als "technisches" und nicht "menschliches Versagen" gewertet und er ist fein raus.

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