Anläßlich 80 Jahre Anschluss: Das Wiener Chemische Institut während der Nazizeit

in #steemit-austria6 years ago (edited)

Wie ihr vielleicht wisst, begeht die Republik Österreich dieser Tage das Gedenken an den März 1938, als das Land kampflos und unter dem Jubel eines beachtlichen Teils der Bevölkerung von Hitlerdeutschland annektiert („ans Reich angeschlossen“) wurde.


Die Fakultät für Chemie der Universität Wien (Ecke Währinger Straße/Boltzmanngasse) heute. Foto: Wikipedia

Unter vielen Veranstaltungen erinnerte auch eine bei uns auf der Fakultät für Chemie der Universität Wien daran. Dabei wurden zwei damals vertriebene Chemiker mit dem Ehrendoktorat gewürdigt, und eine neue Gedenktafel wurde enthüllt. Diese erinnert uns im Wesentlichen an zwei Vorfälle:

  • die Amtsenthebung, Deportation und den anschließenden Mord an Prof. Jacques Pollak im KZ Theresienstadt
  • den Doppelmord an zwei Universitätsassistenten in den letzten Wochen des Krieges

Ich will euch hier die zweite Geschichte erzählen, weil sie, wie ich finde, ein sehr interessantes Bild von der Zwiespältigkeit der damaligen Zeit, insbesondere an den Universitäten, zeichnet.
Ich erzähle sie in eigenen Worten auf Grundlage der Recherchearbeiten von Stephanie Carla de la Barra, die diese im Rahmen ihrer Masterarbeit im Auftrag der Uni Wien durchgeführt hat.

Die Situation am chemischen Institut in den frühen 1940ern

Gegen Kriegsende formierte sich in Wien immer stärkerer Widerstand gegen das NS-Regime. Eine dieser meist kleinen Widerstandgruppierungen operierte von der Fakultät für Chemie aus. Das Fakultätsgebäude an der Ecke Boltzmanngasse/Währinger Straße war damals noch recht neu, aber auf den Überresten eines alten Gebäudes gebaut, das vermutlich in der Kaiserzeit zu einem militärischen Komplex gehörte.

Das bedingt eine architektonische Eigenheit, die bis heute gegeben ist: Wir haben einen doppelten Keller. Der höher gelegene neue Keller wurde mit der neuen Chemie gebaut, und wird v.a. als Chemikalien- und Gerätelager verwendet. Der tiefer gelegene alte Keller ist ein vermodertes, leerstehendes, leicht gruseliges Labyrinth. Und war damit schon damals – neben seiner Nutzung als Bombenschutzkeller - ein perfekter Unterschlupf für den Widerstand.

Der Direktor des damals so genannten „chemischen Instituts“ war Professor Ludwig Ebert, der laut Zeitzeugen zwar „ein Deutscher, aber kein Nazi“ war. Schon in den Jahren 1942-43 fing dieser an, junge Chemiker (z.B. den späteren Professor für Biochemie, Otto Hoffman-Ostenhof), die wegen „Wehrmachtzersetzung“ und ähnlichem in politischer Haft saßen, für angeblich „kriegsrelevante Forschung“ (die de facto aber nicht stattfand) aus dem Gefängnis zurück ins Institut zu holen. Diese gründeten mit anderen Assistenten im Jahr 1944 die Widerstandsgruppe „Tomsk“ und beteiligten sich am Verstecken von Juden und Regimegegnern in den Kellergewölben.
Zum stellvertretenden Direktor des chemischen Instituts wurde 1942 Dr. Jörg Lange bestellt, der laut Prof. Hoffman-Ostenhof „zwar persönlich ein netter Kerl, aber ein überzeugter Nazi“ war.

Die Vorkommnisse im April 1945

Als Ende 1944 die rote Armee immer näher an Wien heran rückte, erhielt Prof. Ebert die Erlaubnis, mit wichtigen Geräten und einigen Mitarbeitern nach Hohenems in Vorarlberg zu übersiedeln, um seine Forschung dort fortzusetzen. In Wien blieben diejenigen, die Probleme mit der Gestapo hatten und dementsprechend nicht reisen wollten, also im Wesentlichen die Widerständler. Und Dr. Lange, der zum neuen Direktor bestellt wurde.

Im April 1945 war die deutsche Niederlage absehbar, und die Nazis erteilten den Befehl, alle an dne Universitäten verbliebenen wertvollen Forschungsgeräte zu zerstören, um sie den Alliierten nicht in die Hände fallen zu lassen. So kam es, dass Dr. Lange vom damaligen Rektor der Universität Wien, Prof. Viktor Christian, am 4. April 1945 den Befehl erhielt, ein sich im Keller des chemischen Instituts befindendes Elektronenmikroskop zu zerstören.

Als er am darauf folgenden Tag seinen Auftrag in die Tat umsetzen wollte, hatte der Widerstand allerdings bereits Wind von der Angelegenheit bekommen. Mehrere Universitätsassistenten, manche davon Mitglieder der „Tomsk“-Gruppe, stellten sich ihm in den Weg – sie wollten nach dem Krieg ihre Forschung mit dem Gerät fortführen. Daraufhin zog Dr. Lange eine Waffe und erschoss zwei seiner Kollegen, Dr. Kurt Horeischy und Dr. Hans Vollmar. Ein dritter Assistent wurde schwer verwundet, überlebte aber. Das Elektronenmikroskop wurde zerstört.

Nach dem Krieg wurde Jörg Lange von einem der Volksgerichtshöfe wegen doppeltem Mord zum Tode verurteilt, entzog sich dem Urteil allerdings vor der Vollstreckung durch Suizid.

Interpretation

Natürlich ist diese Episode im Vergleich zu den globalen historischen Ereignissen und Verbrechen mit Millionen Toten eine fast schon banale Nebensächlichkeit. Ich finde aber, sie zeigt uns, wie diffizil die Situation der Wissenschaft während des dritten Reichs war. Aktionisten des Widerstands forschten zusammen mit überzeugten Nazis, und empfanden durchaus auch persönliche Sympathie – zwar nicht für die Ansichten des anderen, aber zumindest für die Person dahinter. Es fällt mir auch schwer, zu glauben, dass Dr. Lange nichts von den Aktivitäten der Gruppe „Tomsk“ – insbesondere dem Verstecken von Flüchtlingen - gewusst haben soll, fanden diese doch im gleichen Gebäude statt wie die tagtägliche Forschungsarbeit.
Vielleicht fühlten sich die späteren Tatopfer auch deshalb sicher genug, um sich Jörg Lange in den Weg zu stellen, und unterschätzten dadurch, dass ihm die Durchführung eines Befehls wichtiger war als das Leben seiner Assistenten.

Dieser Befehl zerstörte letzten Endes 3 Menschenleben, das der beiden Opfer sowie das des Täters. Der Befehlsgeber kam glimpflich davon. Prorektor Christian wurde nach dem Krieg in den vorzeitigen Ruhestand geschickt, sein Doktorat wurde in den 1960ern von der Universität Wien erneuert.

Für mich persönlich zeigen diese Ereignisse auch deutlich, mit welch perverser Art totalitäre Systeme bzw. Ideologien in der Lage sind, Andersdenkende zu „entmenschlichen“, bis ihr Tod nicht nur in Kauf genommen, sondern sogar notwendig wird, wenn es gilt, die übergeordneten Ziele – und sei es nur die völlig sinnbefreite Zerstörung eines Forschungsgeräts – zu erreichen. Die sich daraus ableitende Warnung, es nie wieder so weit kommen zu lassen, ist über die Zeit leider nicht weniger wichtig geworden.

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Die neue Gedenktafel an die Opfer des Nationalsozialismus am chemischen Institut hängt im Eingangsbereich der Fakultät für Chemie der Uni Wien (Währinger Straße 42), und ist aus Glas, so dass die beiden älteren Gedenktafeln aus Marmor noch lesbar sind.


Quellen:
S. de la Barra: Das Verbrechen ohne Rechtfertigung
eine als Blog veröffentlichte Arbeit von Fruzsina Jelen und Eleonore Witoszynskyj
Interview mit Prof. Hoffman-Ostenhof (ungeschnittenes ORF-Material, Österreichische Nationalbibliothek)
Festredner bei der Veranstaltung, u.a. Rektor H. Engl und Dekan B. Keppler.

Sort:  

Ein sehr interessanter Einblick in die Geschehnisse die Abseits der Front in den Forschungslaboren abliefen. Mich hat dies schon immer interessiert, denn oftmals sind Forschungsstand und Entwicklungen zu solchen Zeiten oftmals sehr kritisch und werden zum Vorteil des eigenen Kreigstreiben pervertiert. Andererseits würde mich persönlich als Wissenschaftler genau dieser Teil des Lebens während einer Krieges betreffen, was diese Seite der Medaille für mich besonders emotional auflädt und interessant macht.

Vielen Dank für die Arbeit und den Post. :)

Ja, ich find das auch extrem interessant.
Auch die Zwiespältigkeit, für so ein Regime einerseits zu forschen, andererseits die Tatsache, dass sich erst durch diese Forschung die Möglichkeit bietet, aktiv Widerstand zu leisten.

Danke fürs Kommentar.

Stimmt. Echt eine diffizile Lage für den Forscher.

Immer gerne. :)

kein Volk hat es geschafft Europa so von Eliten zu befreien wie das Deutsche sozialistische Volk und dabei der USA soviel Macht zu verleihen. Kriegsentscheidende Wissenschaftler und vor allem Genies wie Abraham Wald (Survivorship Bias), Einstein, Mandelbrot aber auch Individuen wie Soros welche heute die Welt beeinflussen wurden nach Britanien, Frankreich und in die USA getrieben.
Am Ende wurden sie alle dankend von der USA aufgenommen.
Lilly Hornig, Bethe, John von Neumann, Franck, Fuchs, Frisch, Teller, Peierls, Szilers, Wigner (alle im Manhattan Projekt). Aber auch Größen wie Enrico Fermi mit jüdischer Frau.

Mathematik Genies und Kollegen von Hilbert und das ganze Institut in Göttingen wurden entkernt: Edmund Landau, Felix Bernstein, Max Born, Richard Courant, Emmy Noether, Otto Blumenthal.

Das sind fast ALLES Nobelpreisträger. Das ist wahnwitzig was die minderwertigen Nazis Europa, dem einstigen Zentrum der Welt beschert haben. Das andere Sozialisten Pack bereinigte Ostdeutschland dann komplett von jeder Elite und isolierte das ganze auch noch in genetischer Hinsicht (diesen nachteiligen Aspekt des Rassismus, wollen Rassisten dann aber überspringen)

Die Liste läßt sich leider fast beliebig verlängern. Zitat eines Redners von vorgestern:
"Die Wissenschaft zu vertreiben, ist nicht nur unmenschlich, es ist dazu noch unglaublich dumm."

Bis zu einem gewissen Grad setzt sich das ganze immer noch fort. Heute ist das Problem die mangelnde Finanzierung der Grundlagenforschung. Wirkliche Spitzenleute schauen nach wie vor, dass sie möglichst in den ango-amerikanischen Raum kommen.

A vote on behalf of my father, a chemist, too. I'm just an alchemist.

Aktionisten des Widerstands forschten zusammen mit überzeugten Nazis, und empfanden durchaus auch persönliche Sympathie – zwar nicht für die Ansichten des anderen, aber zumindest für die Person dahinter.

Dieser Satz ist mir nicht ganz schlüssig, könntest du das detaillierter ausführen, vllt auch in Bezugnahme von Zitaten der verwendeten Forschungsarbeit. DANKE! Grüße @sciencevienna

zusammen geforscht haben sie an der selben Einrichtung, da hab ich keine Zitate dafür. Muss nicht unbedingt das selbe Projekt gewesen sein.

Das mit der persönlichen Sympathie hab ich aus dem Interview mit Prof. Hoffman-Ostenhof heraus gelesen, der über den späteren Mörder Jörg Lange im Nachhinein wie oben eh schon beschrieben sagte, dass dieser persönlich eigentlich ein netter Kerl gewesen sei, "nur halt leider ein Nazi".

herauslesen ist eine Sache, die Art zu formulieren und beschreiben die andere

Da habe ich glücklicherweise DiplomandInnen, DoktorandInnen und ProfessorInnen an Uni Wien kennengelernt, die eine weit umsichtigere Wortwahl, angemessenere Stilistik und glücklicherweise nicht derart simplifizierte Beschreibungen in ihren Professionen an den Tag legten. Ich finde die Formulierung

persönlich eigentlich ein netter Kerl gewesen sei, "nur halt leider ein Nazi".

zum Schreien.

Heavy quote indeed!

Wie gesagt nicht von mir, sondern von Prof. Hofmann-Ostenhoff, der zuerst im spanischen Bürgerkrieg (auf der richtigen Seite) und später in der Widerstandsgruppe Tomsk aktiv war, und mit den beiden Mordopfern befreundet war.
Ich finde, mit so einer Vita kann man auch was sagen, was aus dem Mund anderer verharmlosend klingen würde.

Das habe ich auch nicht angenommen 😉

Das mag sein, ist aber tatsächlich ein wörtliches Zitat eines Zeitzeugen, der zuerst im spanischen Bürgerkrieg gegen die Faschisten gekämpft hat und dann unter den Nazis mehr als ein Jahr in Haft war. Ich würde mir selbst nicht anmaßen, das so zu formulieren.

Edit: Ich kenne den Reflex, aus jedem einzelnen Nazi ein persönliches Monster zu machen, von mir selbst. Viele waren es sicher auch. Ich denke aber, dass viele auch komplett verblendete, radikalisierte, gehirngewaschene, aber eben doch Menschen waren. Ich finde weiters, dass die Mahnung an uns, den Anfängen zu wehren, dadurch eben umso dringlicher wird, wenn man sich bewusst macht, dass diese Ideologie auch in der Lage ist, ansonsten vielleicht sogar recht umgängliche Menschen zu Mördern zu machen. Daher finde ich persönlich diese Formulierung (die wie erwähnt nicht von mir stammt) eigentlich sehr stark - natürlich im Kontext dieses Verbrechens, und auch in Betrachtung, von wem die Aussage kam.

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