Wie sehr sehen wir eigentlich mit dem Herzen? - Autismus im Alltag

in #autismus7 years ago

Als ich im letzten Jahr in eine Firma kam, die Menschen mit Autismus-Diagnose einstellt und als externe Berater oder Mitarbeiter an ihre Kunden vermittelt, ahnte ich nicht, wie schwierig das werden könnte. Ich hatte ein paar Jahre zuvor bereits einen Stammtisch für erwachsene Autisten mitgestaltet; von einzelnen Mißstimmungen, die im Austritt einer Person aus der Gruppe resultierten, abgesehen, war das eine recht angenehme Gruppe gewesen, in der die sozialen Ängste der meisten von uns in den Hintergrund traten. Hätte ich dieses positive Erlebnis nicht gehabt, hätte ich die Stelle in der Firma wohl gar nicht angetreten, denn mir war bekannt, daß ich dort mit anderen Autisten zusammenarbeiten würde müssen.

Nun gestaltete sich das Zusammenspiel mit den meisten anderen Autisten in der Firma aber von Anfang an auf der Gefühlsebene sehr unangenehm. Das ist insofern bemerkenswert, als daß wir zueinander eigentlich recht offen waren, es gab viele eigentlich angenehme Gespräche. Wir sind teilweise zusammen essen oder Essen holen gegangen. Niemand drängte sich in den Vordergrund, alle waren bestrebt, einander zu unterstützen.

Und doch waren die Tage dort im Büro, die ich in der ersten Zeit viel mit Lernen verbrachte, doch anstrengend, und das nicht nur für mich. Ich habe mich sehr oft unsicher gefühlt. Als jemand, der mir offenbar Halt gegeben hatte, im Urlaub war, fand ich nicht in die von ihm gestellten Aufgaben hinein. Es ist jetzt im Rückblick nicht ganz einfach, zu beurteilen, was das Problem für meine herabgesetzte Leistungsfähigkeit war.
Einige Monate später stellte sich heraus, daß ich offenbar für genau diese Person ein Störfaktor bei der Arbeit war (einfach durch meine Anwesenheit), denn mehr als einmal ist er einige Zeit, nachdem ich mich am jeweiligen Tag im Büro seßhaft gemacht hatte, vorzeitig gegangen ("ich mach HomeOffice, es ist mir hier zu voll"). Niemand von uns hat im Büro ohne Kopfhörer Musik gehört, wenn überhaupt. Ein anderer Kollege schlief untertags mit großer Regelmäßigkeit ein und schnarchte dann. Ich saß eine Weile an einem Tisch zwischen den beiden und damit vielleicht einfach zu nah an jenem Kollegen, der sich durch mich gestört fühlte. Das ist jedoch alles Spekulation.

Jedenfalls bin ich in diesem Büro auch eingenickt tagsüber, aber auf meine Art. Also unkontrolliert, mit der Tendenz, auf ein Geräusch hin auch wieder schnell aufzuwachen, und leider mehrmals täglich. Dann kam die Zeit des ersten Außeneinsatzes, mit zwei Kolleginnen. Sie hatten ihre Arbeitsweise und irgendwie wohl auch ihre psychologische Sicherheit. Ich nicht. Ich nickte wieder mehrmals täglich ohne einen aus dem Tagesgeschehen erkennbar resultierenden Grund ein. Eigentlich sollte ich die Zeiträume, in denen keine Projektarbeit beim Kunden anstand, nutzen, um genau deshalb Ärzte aufzusuchen. Aber ich hatte dafür einfach keine Kraft! Und dann kam der nächste Projektzeitraum und es ging kaum besser ...

Da die Problematik sich nicht änderte, bin ich seit fast einem Jahr nicht mehr bei dieser Firma beschäftigt. Aus Gründen, die ich hier nicht nennen möchte, bin ich froh darüber. Als meine Zeit dort sich dem Ende zuneigte, fand ich dann doch die Kraft, mich um Arzttermine zu bemühen. Die richtigen Untersuchungen begannen dann erst 2017.

Ich komme nicht darum herum, zu erwähnen, daß mich der Versuch, abklären zu lassen, warum ich denn an manchen Tagen tagsüber einschlafe und an anderen nicht, auch zu der Tagesklinik geführt hat, in der ich nun die 10. Woche bin. Normalerweise dauert ein Therapiezyklus 6 Wochen. Weil begonnen wurde, mit Medikamenten zu arbeiten, die ich vorher nicht nahm, habe ich um eine Verlängerung gebeten. Einfach, weil die Tage von ihrer Struktur einem Arbeitstag ähnlicher sind als es ein Tag daheim für mich je sein wird.
Und dann kam im ersten Block die Tagesmüdigkeit quasi mit Pauken und Trompeten wieder, in einer Stärke, in der ich sie lange, vielleicht noch nie erlebt habe. (An das Auftreten während meines Studiums erinnere ich mich nicht genau genug.) Wie sich aus Gesprächen mit den anderen Patienten, speziell auch den nach meinem ersten Block neu hinzugekommenen, herauskristallisierte, sind die Tage für uns alle anstrengend und die Nachtruhe für einige nicht als Erholung ausreichend.

Aus dem Tagesablauf in der Klinik, der leider von vielen spontanen Änderungen geprägt ist und auch Leerlaufzeiten enthält, läßt sich der Umfang der Erschöpfung meines Erachtens nicht erklären. Ich bin daher geneigt, der Aussage eines Mitpatienten zu folgen, der einmal äußerte: offenbar beeinflußt uns nicht nur die Anwesenheit der anderen Personen, sondern auch die Wahrnehmung ihrer spezifischen Empfindungen. Als seien diese greifbar im Raum, eine Art (negative) Energie sozusagen.

Wenn ich genauer nachdenke, ist diese Wahrnehmung nicht einmal auf Autisten beschränkt. Ich habe seit zwei, drei Jahren das Gefühl, manche Menschen über das, was sie sagen, und über ihr Verhalten hinaus lesen zu können. (Da ich über diese Empfindungen mit den Menschen, bei denen ich eine Mißstimmung wahrnehme, nicht gesprochen habe, ist mir allerdings überhaupt nicht geholfen. Die entsprechenden Personen und ich leben einfach mit der Situation, ohne daß sie sich klärt, und meine Paranoia nimmt einfach weiter zu ...)

Kann es sein, daß wir Autisten eine viel feinere Antenne für die Stimmungen anderer Menschen haben? Daß vielleicht das der Schlüssel ist, der uns hilft, überhaupt sozial zu interagieren, weil wir im Voraus wissen, wie ein anderer Mensch denkt, was er erwartet, wie er uns einschätzt usw.?
Vielleicht brauchen wir diese "Krücke", um uns in den Emotionen der anderen Menschen zurecht zu finden?

Ich weiß gar nicht, ob "mit dem Herzen sehen" eine passende Metapher ist, aber mir fiel keine andere, bessere, Überschrift für diesen Artikel ein.

Ich hatte Rachel letztens (gestern? ich weiß es nicht mehr :/ ) dieses Video verlinkt:


Bei Minute 1:10 wird Dr. Edward Hall vorgestellt, ein Schamane der Mohawks, dessen Zitat "Autistisch sein heißt, daß jemand ein Schamane werden kann. Dein Autismus ist die Lizenz zum Trainieren, wenn Du Dich entscheidest, einem Roten Pfad zu folgen." sehr große Bekanntheit erlangt hat, über den aber weiterhin kaum etwas im Internet herauszufinden ist.

Insofern komme ich mit der Frage, ob sich aus dieser offenbar gesteigerten Empfindlichkeit für die Gefühle der Umgebung ein spiritueller Wert ergibt, seit Jahren nicht weiter, und wären die aktuellen Ereignisse nicht gewesen, hätte ich daran gar nicht mehr gedacht.

Sort:  

Ganz ehrlich, ich bewundere dich für deinen Mut bei der Firma anzufangen.

Ich würde das niemals tun, never. Ich finde Menschen ansich im direkten alltäglichen Kontakt oft sehr anstrengend und Autisten sind für mihc noch viel anstrengender.

Jeder muss seinen eigenen Weg finden und ich finds gut, das du bei dir bleibst und schaust, wie du mit dem Leben zurecht kommst.
Geh deinen Weg und tue die Dinge auf deine Art.

Danke das du diese Geschichte mit uns teilst.

Und Dir danke für Deinen Zuspruch. Ich bin froh, daß das Wochenende vor mir liegt, diese Woche war wirklich anstrengend.

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