In tiefer Liebe und Verbundenheit - ich möchte euch erzählen, wie großartig meine Tante war.

in #deutsch7 years ago (edited)

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Gerade habe ich so einen Moment, den ich immer mal wieder habe. Nicht ständig, nicht belastend oft, etwa ein mal in zwei Monaten.

In solchen Momenten wird mein Herz von einer eisigen Faust umklammert, und der Schmerz ist genauso stark wie vor 15 Jahren.

Als ich geboren wurde, hatte meine Mutter eine jüngere Schwester.
Ich liebte meine Tante und besonders in meiner Pubertät wurde sie zum wichtigsten Menschen in meinem Leben.

Als ich 17 Jahre alt war, starb sie an Lungenkrebs.
Diese Zeit ist das einschneidendsten Erlebnis meines bisherige Lebens.

In meiner Familie ist ihr Tod bis heute ein Tabuthema. Wir reden nicht über sie, niemals. Meine Mutter und Großmutter hatten damals beide eine schwere Depression und sind beinahe daran zerbrochen. Ihr kleiner Sohn war zum Zeitpunkt ihres Todes 3 Jahre alt und er hat keinerlei Erinnerungen an sie. Wenn man schon nur ihren Namen sagt, blockt er bis heute ab und will nichts davon hören.

Ich kann mit den Menschen, die sie kannten und liebten, kaum über sie reden. Ich trage all diese Erinnerungen an sie in mir und kann sie mit niemandem teilen, was sehr schwer für mich ist, denn sie war so ein wundervoller Mensch.

Ich sollte vermutlich eine Therapie machen, denn während ich diesen Text hier schreibe, laufen mir die Tränen übers Gesicht, dabei ist sie schon so lange tot. Und von Angesicht zu Angesicht rede möchte ich nicht, weil ich sofort anfangen würde zu heulen und damit dann nicht umgehen könnte.

Ich möchte euch von ihr erzählen, was für eine großartige Frau sie war. Ich verspüre den Wunsch meine Erinnerungen mit anderen Menschen zu teilen um ihren Verlust zu verarbeiten.

Als ich etwa 12 Jahre alt war, verstärkte sich unser Kontakt zusehends.
Meine Tante hatte selber recht große psychische Probleme, so groß das sie mehrmals in einer psychiatrischen Klinik stationär behandelt wurde.

Für mich war das ein Geschenk. Ich fühlte mich bei ihr verstanden und bedingungslos akzeptiert. Sie erwartete nie etwas von mir, ich war einfach gut genug, wie ich war.

Kennt ihr das, wenn ihr einfach gesehen werdet von jemandem, mit eurem reinen wahren Ich, ohne jede Maske? So sah sie mich und liebte sie mich, nur um meiner Selbst willen.

Ich erinnere mich an stundenlange Gespräche, während wir durch den botanischen Garten oder am Zürichersee entlang spazierten.

Meine Tante war selber so herrlich unperfekt, dass ich mich neben ihr großartig fühlte. Sie verurteile sich selber nicht dafür, geschweige denn mich.

Als ich 14 Jahre alt war, schenkte sie mir einen kleinen Ableger ihres Papyrus.





Sie erklärte mir, wie man ihn hegt und pflegt und wie man neue Ableger zieht. Ich weiß es noch als wär`s gestern gewesen. Wie sie mich anlächelte, als sie mir das kleine Pflänzchen in dem weißen kleinen Topf in die Hand drückte und in etwa sagte:

weißt du, das tolle an einem Papyrus ist, er wächst immer wieder neu. Egal wie kaputt er ist, selbst wenn seine Wurzel faul oder verdörrt ist, solange er ein grünes Büschelchen hat, kannst du das abschneiden und neu einpflanzen. Daraus wächst eine neue, gesunde Pflanze als wär nie etwas gewesen. Ich schenke sie dir, damit du dich immer daran erinnerst Rachel. Egal wie schwierig gerade alles ist, du kannst dich jeden Tag neu erfinden und von vorne anfangen. Du darfst jeden Tag neu wachsen und dich Komplet verändern.

Ich hatte den Papyrus bis ich aus Deutschland weggezogen bin, immer wieder starb er ab, weil ich es nicht schaffte, ihn perfekt zu Pflegen aber er kam trotzdem immer wieder neu.

Ebenfalls in dem Alter wünschte ich mir von Herzen ein Mountainbike. Eins für Jungs, ein richtig cooles mit Schwarz und Blau und naja, ein cooles halt.

Meine Eltern waren so freundlich und schenkten mir zu Weihnachten ein rosarotes Citybike, eins mit tiefem Einstieg für Frauen, einem Rosa Körbchen vorne drauf und 3 Gängen. Ich war zu Tode betrübt und wurde angemotzt, dass ich nicht mal dankbar sei, wenn man mir etwas schenke.

Meine Tante schenkte mir, gegen den Willen meiner Eltern von ihrem letzten Geld ein Bike, eins wie ich es mir wünschte, und flüsterte mir ins Ohr: „richtige Jungs brauchen ein richtiges Bike, ich versteh das“. Mein Stiefvater war mächtig verärgert, aber das war ihr scheißegal, dafür habe ich sie sehr bewundert und dieses Fahrrad war mein Heiligtum. Es erinnerte mich immer daran, dass man sich gegen diesen Mann stellen darf, der unsere Familie dominierte, dass man gegen ihn auch gewinnen kann und er nicht allmächtig ist.

In der Pubertät nahm ich unglaublich schnell, unglaublich viel Gewicht zu, ich explodierte förmlich und merkte das selber nicht wirklich. Es war mir ehrlich gesagt scheiß egal.

Meine Eltern hat das kaum interessiert, mein Stiefvater hat lediglich hin und wieder Verletztende Sprüche fallen lassen.

Meine Tante hingegen hat hingesehen.
Sie hat mit mir über das Thema Ernährung gesprochen, hat versucht, mit mir eine Sportart zu finden, die mir gefällt. Obwohl sie kaum Geld hatte, ist sie mit mir alles Mögliche ausprobieren gegangen. Sie hat mir bewusst vorgelebt, dass tägliche Bewegung zum Leben gehört. Hat mich ins Einkaufen und Kochen einbezogen und mir versucht zu vermitteln, wie man sich gesund ernährt.

Ich konnte das damals zwar nicht umsetzen, aber ich fühlte, wie sehr sie mich liebt.

Oft redeten wir darüber, dass es keine Grenzen gibt, dass ich alles erreichen und alles werden kann, was ich will. Sie zeigte mir immer, wie sehr sie an mich glaubt, obwohl ich miserabel in der Schule war.

Ich könnte euch tausend kleine Momente mit ihr berichten, die ich bis heute wie kostbare Schätze in meiner Erinnerung bewahre. Aber ich glaube, ihr versteht langsam, was für ein Mensch sie war.

Als sie krank wurde, war das für mich nicht zu ertragen.
Genau an meinem Geburtstag (anfang November) sagte mir meine Mutter, das Nicole Lungenkrebs im Endstadium hätte und sterben würde, sehr bald.

Ich war wie betäubt, für mich war das zuviel. Ich wollte das nicht wahrhaben, sie nicht sehen ich konnte damit überhaupt nicht umgehen.

Ich habe mich total zurückgezogen und vor der Welt verschlossen. Ich hoffte, dass sie plötzlich wieder gesund ist, solange ich es nicht sah, war es nicht die Wahrheit, nicht endgültig.

Ungefähr 4 Wochen später sagte mir meine Mutter, ihr ginge es immer schlechter, ob ich sie nicht doch besuchen wolle, aber ich konnte nicht.




Eines Nachts nahm ich all meinen Mut zusammen und griff zum Telefon.
Ich rief sie an, für mehr fehlte mir die Kraft.
Ich weinte bitterlich und flehte sie an, nicht zu sterben ich könne ohne sie nicht leben. Und sie tröstete mich, machte mir mut und gab mir kraft. Sie, die tot krank am Morphium hing und kaum richtig atmen konnte, machte mir mut.

Sie versicherte mir, dass ich es schaffen würde und das ich wieder glücklich werden würde. Das ich ohne sie zurechtkäme, und mich an all unsere Träume erinnern müsse, wenn sie weg sei.

In diesen letzten Wochen suchte sie gemeinsam mit ihrem kleinen Sohn eine Pflegefamilie aus, zu der er nach ihrem Tod ziehen konnte. Obwohl sie wusste, wie wenig Zeit ihr noch mit ihm blieb, ließ sie ihn immer wieder halbe Tage, später ganze Tage und sogar über Nacht bei der Pflegefamilie bleiben, damit er sich einleben konnte, noch bevor sie starb.

Sie war so unglaublich stark und es gibt niemanden, den ich so sehr bewundere wie sie.

Inzwischen war Weihnachten und ich konnte sie immer noch nicht besuchen.

Wir telefonierten und sie versicherte mir immer wieder und wieder, es sei ok. Sie verstehe das und wenn anrufen der einzige Weg sei wie ich damit umgehen könne, sei das mehr als gut genug. Sie wisse wie sehr ich sie liebe, dass reiche aus.

Irgendwann nach Weihnachten kam der Tag, an dem sie nicht mehr sprechen konnte.
Und zwei Wochen später sagte mir meine Mutter: „ wenn du jetzt nicht mitkommst Rachel, siehst du sie nicht mehr lebend wieder, es ist sogut wie vorbei.“

Also fuhr ich mit zum Sterbehospiz, in dem sie lag.
Ich möcht euch nicht beschreiben, in welchem Zustand sie war, es brach mir das Herz.

Ihr kleiner Sohn war bei seinen Pflegeeltern und meine Mutter und Großmutter standen weinend und wie versteinert neben dem Bett.

Und dann gab es diesen einen Augenblick, sie schenkte mir noch ein letztes Mal etwas unbezahlbares. Es ist nicht mit Vernunft zu begreifen aber für einen Moment, war irgendwie ihre Seele in Verbindung mir meiner. Sie war schon lange nicht mehr wirklich zu Bewusstsein gekommen, nicht mehr ansprechbar und voll unter Drogen aber ich spürte sie, ganz klar.

Dieser Augenblick voller Liebe dehnte sich aus in die Ewigkeit und ich sah sie ein letztes mal, spürte ihre Nähe und ihre Größe. Für einen Moment empfand ich maßlose Dankbarkeit und einen inneren Frieden. Ich konnte mich verabschieden.

10 Stunden später war sie von uns gegangen und hinterließ eine Familie in Trümmern.

Sie hat nicht die Welt verändert.
Sie hat nur wenig Menschen gekannt und lebte eher zurückgezogen. Sie brauchte oft Hilfe vom Staat um ihr Leben zu finanzieren und konnte meistens nicht arbeiten.

Für mich hat sie die Welt bedeutet. Ich habe sie so sehr geliebt und ich weiss bis heute nicht, wie ich sie los lassen soll, sie soll man jemanden gehen lassen den man so sehr gebraucht und geliebt hat???

Aber ich werde es schaffen, für die Kinder die ich eines Tages haben werde, muss ich diesen Verlust loslassen.
Ich bin voller Dankbarkeit für jede Erinnerung die sie mir geschenkt hat und für die vielen Dinge die sie mich über das Leben gelehrt hat.

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Erinnerst du dich an die letzten Worte im Film Ghost? "Es ist wunderbar und weisst du, die Liebe nimmt man mit"

Ich habe den Film nie gesehn, daher nein.
Aber ich glaube auch, das sie irgendwo noch ist und spürt, wie sehr sie geliebt wurde und ich bin dankbar für ihre Liebe.

Immer wenn so etwas geschieht versuche ich doch immer nach kurzer Zeit dankbar zu sein. Trotz all der Trauer war es mir geschenkt gewesen einen Menschen zu kennen der einfach für mich eine unfassbare Größe hatte. Ich Stelle mir dann oft vor dass diese woanders gebraucht wurden und daher gehen mussten. traurige Geschichte liebe Rachel..

Ja das bin ich auch, sehr sehr dankbar das sie da war. Jemanden geliebt zu haben ist immer ein Geschenk. Dennoch ist der Schmerz sehr gross, sie fehlt mir einfach. Auf diesem weg versuche ich, daran zu arbeiten, besser damit klar zu kommen. Ich kann nicht ewig davor wegrennen, sonst rächt sich das irgendwann und es kostet ja auch permanent Energie.

Der Lockenkopf war damals voll in. Meine Mutter hatte die gleiche Frisur. Gehört zwar nicht zum Thema aber erinnert mich an meine Zeit

Liebe Rachel,
ich bin normalerweise viel zu faul um lange Texte zu lesen, aber Du fesselst mich jedesmal.
Diese, die Geschichte von Dir und Deiner lieben Tante, hat mich so in ihren Bann gezogen. Diese wunderbare Frau muss eine Heilige gewesen sein, wenn es so etwas denn gibt.
Ich stand eben mit Dir an ihrem Sterbebett und musste dort kurz mit Lesen aufhören um den Tränen freien Lauf zu lassen.
Ich bin mir sicher, dass sie Dich in diesem Moment genauso intensiv gespürt hat, wie Du sie.
Ich bin so froh, dass Du es geschafft hast, zu ihr zu gehen. Ich bin sicher, dass Du ihr damit geholfen hast, in Frieden zu gehen und ihr all die Liebe, die sie Dir gegeben hat, erwiedert hast.
Ich wünsche Dir eine wunderbare Zeit, ein langes und erfülltes Leben und dass Du und Deine Tante Euch anschließend einmal wieder seht.
Danke für diesen schönen, von Liebe erfüllten Post, Rachel!

Vielen herzlichen Dank für deine berührende Worte und das du sie mit mir gemeinsam ehrst und wertschätzt, das bedeutet mir viel <3

Es war für uns beide mega wichtig, das ich es geschafft habe. Ich hätte es sonst mein Leben lang bereut. Lange Zeit war ich sehr böse mit mir selber, das ich diese letzten Monate nicht intensiv genutzt habe. Aber ich habe mir verziehn das ich es nicht konnte und verstehe den Schmerz der 17 jährigen Rachel.

Ich hoffe auch, das man im Jenseits irgendwann seine Liebsten alle wieder sehen darf.
Ich wünsche dir auch das Allerbeste für dein Leben.

Und vielen Dank nochmal.

wow. Danke das du so so offen über das Thema hier schreibst. Ich kenne das Gefühl da es in meiner Familie vor noch nich so langer Zeit auch so war.
Danke für den Text!

Tut mit leid, dass du es auch kennst.
Wobei es vermutlich keinen Menschen gibt, der das nie kennen lernt.
Ich helfe mit damit vor allem auch selber und wer weiss, vielleicht hilft es noch jemand anderem seinen Schmerz zu verarbeiten.

Rachel, großen Respekt an dich, das du das geschafft hast! Das Schreiben muss dir sehr schwer gefallen sein.
Ich bin die nächsten Tage um Urlaub und werde daher nicht sehr aktiv sein. Nur so als Ankündigung, damit du dich nicht wunderst :*

Oh wie schön, ich wünsch dir einen schönen Urlaub Liebes.
Mir hilft es beim verarbeiten, darüber zu Schreiben und es in die Welt zu entlassen hilft beim loslassen.

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