Das Grundgesetz - Ein Provisorium, das nun schon 70 Jahre gilt

in #politik6 years ago (edited)

Von Peter Kurz


Am 1. September 1948 trat der Parlamentarische Rat zum ersten Mal zusammen. Im Bonner Museum Koenig konstruierten 61 Grundgesetzväter und vier Grundgesetzmütter das Grundgesetz.

Unter schwarz-rot-goldener Standarte liegt am 23. Mai 1949 das Grundgesetz auf einem Tisch im Sitzungssaal des Parlamentarischen Rates in Bonn. Der hatte seit 1. September 1948 getagt.

Bonn. Es kommt schon mal vor, dass das schwarz-gelbe NRW-Kabinett nicht in Düsseldorf zusammenkommt, sondern sich anderswo trifft. Im Historischen Rathaus von Münster etwa. Oder am gestrigen Freitag aus Anlass des NRW-Festes in Essen. Am kommenden Dienstag aber wird der Tagungsort ein ganz besonderer sein: das Zoologische Museum Alexander Koenig in Bonn. An der Stelle also, wo vor 70 Jahren, am 1. September 1948, der Parlamentarische Rat erstmals zusammenkam. Um dann knapp neun Monate später das Grundgesetz zu verabschieden.

Warum Grundgesetz, warum nicht Verfassung ?

Das Gremium, das da vor 70 Jahren seine Beratungen aufnahm, war ausdrücklich keine Verfassunggebende Versammlung. Und man wollte auch gar keine Verfassung schaffen. Es sollte „nur“ ein Grundgesetz sein. Diese Scheu der Politiker im Nachkriegsdeutschland vor dem ganz großen Wurf, jedenfalls davor, das Ergebnis ihrer Arbeit als echte Verfassung zu bezeichnen, erklärt sich so : Sie wollten die nationale Spaltung nicht durch eine für den westlichen Teil Deutschlands geltende Verfassung zementieren.

Unter schwarz-rot-goldener Standarte liegt am 23. Mai 1949 das Grundgesetz auf einem Tisch im Sitzungssaal des Parlamentarischen Rates in Bonn. Der hatte seit 1. September 1948 getagt.

Die USA, Großbritannien, Frankreich und die Benelux-Länder hatten 1948 den westlichen Militärgouverneuren in Deutschland den Auftrag erteilt, die Ministerpräsidenten der elf westdeutschen Länder zu ermächtigen, eine „Verfassunggebende Versammlung“ einzuberufen, um die Gründung eines westdeutschen Staates vorzubereiten. Doch die Ministerpräsidenten wollten den Begriff Verfassunggebende Versammlung und Verfassung vermeiden. Das Gremium, das sie da beauftragten, nannten sie Parlamentarischen Rat. Und am Anfang des Textes, den sie einfach nur Grundgesetz nannten, stand ein Vorbehalt, der das Regelwerk ausdrücklich zum Provisorium erklärte. In der Präambel des Grundgesetzes versprach man, „dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung“ zu geben. Und dass „das gesamte Deutsche Volk aufgefordert bleibe, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.“

Nach Überwindung der deutschen Teilung hätte zwar 1990 die Möglichkeit bestanden, eine gesamtdeutsche neue Verfassung zu schmieden. Bekanntlich wurde aber der Weg der Beibehaltung des Grundgesetzes und dessen Ausdehnung auf die neuen Länder gewählt. Und auch dann blieb man für die deutsche Verfassung bei dem bewährten Titel Grundgesetz.

Der zweistufige Weg zum Grundgesetz

Der Parlamentarische Rat hatte Vorarbeiter. Die Regierungen der elf westdeutschen Länder riefen nämlich zunächst einen vorbereitenden Verfassungskonvent ein. Der zog sich 13 Tage lang auf die Herreninsel im Chiemsee zurück. In der Zeit vom 10. bis 23. August 1948 begab sich eine nicht nach politischer Richtung, sondern nach Sachverstand ausgesuchte Expertenrunde auf Schloss Herrenchiemsee in Klausur. Die elf Delegierten und ihre Mitarbeiter zeichneten dabei schon in wesentlichen Linien vor, was der Parlamentarische Rat dann ab dem 1. September in Bonn mehr als acht Monate lang beraten sollte : den neuen Staat auf föderalistischer Grundlage.

Der Parlamentarische Rat selbst bestand dann aus 65 stimmberechtigten Abgeordneten, die von den elf westdeutschen Landtagen gewählt worden waren. Präsident wurde der spätere Bundeskanzler Konrad Adenauer. Am 8. Mai 1949 war das Grundgesetz fertig, wurde von den Militärgouverneuren der drei Westmächte genehmigt und von zehn der elf Landtage (außer Bayern, das gern eine stärkere Betonung des Föderalismus gehabt hätte) gebilligt. Am 23. Mai 1949 trat es in Kraft.

Den großartigsten Satz schrieben die 61 Grundgesetzväter und lediglich vier Grundgesetzmütter gleich in den ersten Artikel – um sicherzustellen, dass das, was unter der Nazidiktatur passiert war, so niemals wieder passieren soll: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Dieses „Niemals wieder“ wurde dann auch noch durch die sogenannte Ewigkeitsgarantie des Artikels 79 Absatz 3 abgesichert, wo es heißt: „Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig.“ Menschenwürde, demokratischer Rechtsstaat, Föderalismus – diese Werte gelten „ewig“. Jedenfalls, so lange das Grundgesetz gilt.

Grundrechte, Rechtsstaat und eine ausgefeilte Machtbalance

Doch andere Vorschriften der bundesrepublikanischen Hausordnung tastete der Gesetzgeber sehr wohl in den folgenden Jahrzehnten an. Man denke an den Asylartikel, der in seinem ersten Satz zwar auch heute noch wie damals lautet: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“. Doch dann folgen lange Absätze dazu, in welchen Fällen das Recht doch nicht gilt. Oder der Artikel 13: Da heißt es zwar nach wie vor, dass „die Wohnung unverletzlich ist“. Außer wenn der Staat sie überwacht, wie es in den später hinzugekommenen Absätzen geregelt ist.

Trotz allem sind die Grundrechte ein Segen, den die Grundgesetzväter und -mütter (die die Gleichberechtigung der Frauen durchsetzten) festschrieben. Viele Male wurde der Gesetzgeber mit Vorhaben, mit denen er gar zu weit in die Freiheit seiner Bürger eingriff, gestoppt. Das Bundesverfassungsgericht hat sich nicht nur als Erfinder eines neuen Grundrechts profiliert, als es in seinem Volkszählungsurteil 1983 das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und damit ein Datenschutzrecht schuf. Das höchste Gericht fällt dem Gesetzgeber auch immer wieder in den Arm. Das Gericht, über dessen Macht ausgerechnet der Präsident des Parlamentarischen Rates und erste Bundeskanzler Konrad Adenauer denn auch einmal genervt gesagt hat: „Dat ham wir uns so nich’ vorjestellt.“

Die Verbindlichkeit von Richtersprüchen für die Exekutive spielt auch dieser Tage an diversen Stellen eine Rolle. Wie ernst nimmt die Exekutive ein Urteil in Sachen Abschiebung oder in Sachen Luftreinhaltung? Und wie kann es sein, dass ein Bundesgesundheitsminister durch Anweisung an eine ihm untergeordnete Behörde ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts in Sachen Sterbehilfe unterläuft?

Die Machtbalance zwischen Legislative und Exekutive ist das eine. Auch auf politischer Ebene ist die Machtbalance elementar. Und hier zeigt sich seit Jahrzehnten die Weitsichtigkeit des Parlamentarischen Rates, der aus den Schwächen der Weimarer Verfassung die Lehren zog und ein stabiles Staatswesen vorsah – gestützt auf eine arbeitsfähige Mehrheit im Parlament und eine starke Rolle der Parteien. Eine Zersplitterung der Machtverhältnisse wurde durch die Fünf-Prozent-Hürde verhindert, was jedenfalls in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik zu stabilen Verhältnissen führte. Regeln wie die des konstruktiven Misstrauensvotums oder der Vertrauensfrage verhindern, dass der Bundestag und die Regierenden nicht einfach hinschmeißen und sich aus der Verantwortung stehlen können.

So wie sich auch die Gesellschaft ändert, so ist auch das Grundgesetz als ihr rechtliches Fundament nicht in Stein gemeißelt.

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