ADHS auf der Intensivstation - eine Begegnung

Neulich hatte ich die unschöne Pflicht, meinem im Sterben liegenden Opa für immer "Lebe wohl" zu sagen. Neben der irgendwie surrealen Situation mit meinem Opa auf der Intensivstation wird mir aber ohne Zweifel eine andere Begegnung mit Sicherheit nachhaltig in Erinnerung bleiben:

Ich habe mich gerade für immer von meinem sehr warmherzigen 80-jährigen Opi verabschiedet, durch die durch die Lungenentzündung fast komplett zerstörten Lungenflügel konnte er seine letzten Worte an mich "Mach was Rechtes aus dir" nur schwach, leise und krächzend hervorbringen. Ich verlasse die Kabine mit der festen Absicht, nicht wieder zu kommen und gehe in den Schleusenbereich. Ich denke darüber nach, dass mein sehr charmanter, charismatischer, warmherziger und humorvoller Opi, der natürlich auch ADHS hatte, innerhalb von ein paar Tagen die komplette Pflege- und Ärzteschaft der Intensivstation mit seiner Art für sich vereinnahmt hat. Ich denke darüber nach, dass mein Opi vor 3 Monaten vor seiner Diagnose Lymphdrüsenkrebs noch vollständig vital war und sich insgesamt freute, zu leben und wie schnell es nach dem 1. Chemotherapiezyklus bergab ging. Ich unterdrücke die Tränen und starre dazu auf einen Monet-Druck an der Wand. Ich tue das, worauf ich in meiner Mediziner-Ausbildung immer wieder trainiert wurde: ich bewahre die Contenance und unterdrücke die Gefühle bzw. lasse sie nicht zu. Ich drehe mich um und schaue auf die Eingangstür/tor der Schleuse zum Außerintensiv-Bereich.

Nach ca. 5 Sekunden geht diese Eingangstür der Schleuse auf und eine Ärztin läuft mir von draußen direkt in mein Blickfeld. Ich erkenne sofort ein mir vertrautes Gesicht. Ich kenne diese Person. Es ist Manuela. Das letzte Mal sah ich Manuela im September 2012 und ich habe seither nichts von ihr gehört. In den seither mehr als 5 vergangene Jahren habe ich ein paar Mal an Manuela gedacht, jedoch war der Kontakt vollständig abgerissen. Eher außergewöhnlich ist hierbei, dass ich Zweifel hatte, ob Manuela noch lebt. Weshalb?: Nun, Manuela ist seit ihrem 18. Lebensjahr schwergradig magersüchtig. Sie ist nun 38 und ich weiß von ihr, dass sie in den 6 Jahren zwischen Abschluss ihres Medizinstudiums und bis man ihr 2012 im Alter von 33 Jahren schließlich doch die Ärztliche Approbation gegeben hat, mehrfach knapp dem Tod von der Schippe gesprungen ist. Ihr Erscheinungsbild ist ein Gerippe oder Gespenst. Dasselbe Gerippe, dass ich von 2012 in Erinnerung habe, läuft mit professioneller Gangart nun Richtung Türöffner zur Intensivstation und erkennt auch mich. Überraschung in den Augen: "Was machst denn du hier?" Antwort: "Hey, Hi, Hi, der Herr M...., das ist mein Opa". Darauf sie voller Mitleid (aber mit offensichtlicher Sympathie für Opi): "Oh jeh". Ich hatte Manuaela als Famulant 2012 an einem Feld-Wald-und-Wiesen-Krankenhaus, das vor 2 Jahren aus Rationalisierungsgründen geschlossen wurde, kennen und schätzen gelernt. Manuela war damals 2 Wochen schon Ärztin und blutige Anfängerin. Schon damals hatte ich am ersten Tag bzw. eigentlich der allerersten Begegnung intuitiv eine Sympathie und später Wesensverwandschaft gespürt. Dass Manuela magersüchtig und schwer chronisch krank ist, hatte ich wegen dem das Gerippe verdeckenden Arztkittel erst an Tag 2 bemerkt. Manuela hat natürlich ADHS... so wie ich auch. Im Unterschied zu mir wurde Manuela nie mit ADHS diagnostiziert (mit verhängnisvollen Folgen). Genau wie ich auch ist Manuela hochintelligent. In den 2 Monaten der Famulatur 2012 hatte ich mich ständig an Manuela dran gehängt und da viel gelernt in der Famulatur. Im Verlauf dieser 2 Monate sprach in Manuela auf das an, was ich als Pflicht ansah, anzusprechen: ADHS! Die Reaktion von Manuela: wütend, nur abblockend und nach dem Motto, der Typ da, der weiß doch nichts über mich und will mir trotzdem sagen, dass ich ADHS habe und dass das bei meiner Magersucht eine Rolle spielt und ansonsten spielt er sich auf, als ob er alles über mich weiß. Das Konfrontieren mit ADHS hat dieses zuvor sehr harmonische zwischenmenschliche Verhältnis damals irgendwie beschädigt. Im Verlauf habe ich das Thema ADHS bei Manuela dann zwecks Aussichtslosigkeit aufgegeben. Nach Ende der Famulatur trennten sich unsere Wege. Schon während dieser 2 Monate Famulatur 2012 hatte ich bei Manuela eine Berufung und einen unbändigen Wille für den Arztberuf erkannt. Manuela ist körperlich extrem schwach und man könnte meinen, die dünnen Beine brechen beim Gehen in sich zusammen, aber schon damals war bei Manuela ein bemerkenswerter Antrieb beim Dienst auf Station erkennbar, ein Verve und eine schier unglaubliche von irgendwo herkommende Energie, mit der sie sich um die Patienten kümmerte. Kurzum: Ich habe quasi keinen anderen Arzt erlebt, der von der Persönlichkeit so berufen für den Arztberuf ist wie Manuela. Trotzdem rechnete ich mit Schwierigkeiten für Manuela im weiteren Weg im Arztberuf. Ich hielt eine Dekompensation für möglich und ich hatte, als ich mehrmals in den letzten 5 Jahren an Manuela dachte, jedes Mal Zweifel, ob sie noch lebt.

Nun, 5 Jahre später, in einem anderen Krankenhaus der Region, sehen wir uns wieder. Die Ärztin Manuela, die vom Außenbereich zum Tor in den Schleusenbereich herein kommt, bewegt sich im Gang souverän und selbstverständlich. Ich erkenne eine gestandene Ärztin und keine Anfängerin. Ich freue mich, dass Manuela im wörtlichen Sinne noch lebt und wir wechseln kurz ca. 2 Minuten ein paar Worte. Manuela muss auf die Intensivstation, sich um die Patienten kümmern und hat nicht viel Zeit, ich erkenne auch, dass sie die Konfrontation mit diesem ADHS-Typ scheut, der sie womöglich wieder mit ADHS vollquatschen will. Ich würde ihre Reaktion darauf, mich zu sehen, als ambivalent bezeichnen.

Ich gehe nochmals hinein in die Intensivstation und stehe ein paar Meter weg von der Kabine meines Opis. Aus einer anderen Kabine höre ich Manuela mit einem Patienten reden. Sie redet laut, schnell und in breitem Schwäbisch, aber mit einer Ausstrahlung von menschlicher Wärme - ein deutlicher Kontrast zu den Roboter-Ärzten, die ich allzu oft ertragen musste. Menschliche Wärme, Charme und schnelles, lautes Reden kenne ich natürlich auch von mir selber. ADHS rockt!

Ich stehe nun auf dem Gang der Intensivstation und lasse das hektische, aber konzentrierte Treiben dort auf mich wirken. Das hektische Intensivmedizin-Treiben stimuliert mich. Es macht mich wach. Ich spüre, wie der Instinkt des Jägers gereizt wird. Ich bin ein Jäger. Ich spüre einen Stich in der Seele. Ich weiß, dass ich Qualitäten habe, die man auf einer Intensivstation nutzen kann. Ich ziehe mir die unbestreitbaren Defizite meines schwergradigen ADHS heran, die meine ADHS-Ressourcen auf der Intensivstation negativ überlagern. Ich hadere wieder mit mir. War es richtig, den Arztberuf aufzugeben? Ich spiele wieder die schon ca. 1000 mal durchgespielten Gedankengänge durch - und komme wie zuvor zu dem Ergebnis, dass es richtig war und ist. Ich bin kein in dem Ausmaß berufener Vollblut-Arzt wie Manuela. Ich empfinde nicht in dem Ausmaß Leidenschaft für diesen Beruf wie Manuela. Ich diene nicht gerne. Während dem Innere Medizin-Tertial im PJ in 2014 interessierte mich der völkerverständigende Aspekt der Fußball-WM 2014 so sehr, dass ich mir sämtliche Spätnachts-Spiele anschaute und am nächsten Tag als Zombie über die Station wandelte. Ich war nicht dazu bereit, zu Gunsten des Dienstes an den Patienten auf die Fußball-WM-Spiele spätnachts zu verzichten. Ich bin geprägt von der Generation Y... ich bin ein Angehöriger der Generation Y ...ich schaue mir lieber Linkin Park und diverse Dokumentationen auf Youtube an, als mich um rein medizinische Themen generell zu kümmern. Kurzum: summa summarum war es richtig, den Arztberuf sein zu lassen.

Ich denke nochmals an Manuela. Manuela hat ca. 20 Jahre krankheitsbedingt extremen Raubbau an ihrem Körper betrieben. Das Erscheinungsbild von Manuela ist das einer vitalen, Freundlichkeit und Wärme ausstrahlenden zum Leben stehenden Person. Manuela sticht hervor - in positiver Hinsicht... wie so oft bei ADHS. Manuela ist in ihrer Magersucht stabil, eine Dekompensation halte ich für unwahrscheinlich. Manuela ist dennoch genau dasselbe Gerippe, das ich vor 5 Jahren das letzte Mal gesehen habe. Im Gegensatz zu vor 5 Jahren fiel mir bei dem eher kurzen Smalltalk in der Schleuse auf ein dezentes, aber klar erkennbares Kreuz, das Manuela um den Hals trägt. Ein Omen? Mein Opa ist genau 80 Jahre alt geworden, Manuela wird dieses Alter niemals erreichen. An dieser Stelle fällt mir eine Szene aus dem Film Gattaca ein, als der genetisch invalide von Ethan Hawke gespielte Protagonist seinen genetisch getuneten Bruder beim Wettschwimmen aufs offene Mehr hinaus schlägt und vor dem Ertrinken rettet. Der besiegte und gekränkte genetisch getunete Bruder fragt dann: "Wie schaffst du das nur?!" .... die Antwort des genetisch invaliden Protagonisten: "Weil ich mir niemals etwas für den Rückweg aufgehoben habe."

Vor so jemandem wie Manuela habe ich Respekt!

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