Dreizehn Jahre
Dreizehn Jahre
Dreizehn Jahre bin ich inzwischen schon tot. Denn so lange sitze ich nun als verurteilter Mörder im Gefängnis, und wäre die Todesstrafe hierzulande in Gebrauch, wäre ich seitdem richtig tot. Am totesten, könnte man sagen. So aber bin ich auf eine andere Weise tot, etwas weniger, nicht ganz so so tot, nämlich nur dem Leben entzogen, oder genauer: meines Lebens beraubt. Weil ich einen Mord begangen habe, angeblich. So der Staatsanwalt, so die Richter. Sie waren nicht dabei, und sie irren. Ich war es nämlich nicht. Wenn es tatsächlich ein Mord gewesen wäre, liefe der Täter noch frei herum. Das glaube ich aber nicht. Ich glaube, es war ein Unfall. Und ich war einfach bloß eine Viertelstunde zu spät dort. Und nicht einmal das war meine Schuld.
Es war nämlich so: Damals arbeitete ich für einen häuslichen Pflegedienst. Die Ausbildung dazu habe ich, Berufserfahrung hatte ich auch schon, nämlich aus dem Seniorenheim, in dem ich zuvor tätig war. Von 7 Uhr morgens bis 4 Uhr nachmittags reiste ich herum, mein Zeitplan war ziemlich streng, damit ich alle Klientinnen und Klienten von meiner Liste auch wirklich mit ein wenig Zuwendung und mit der allernötigsten Pflege versorgen konnte. Die stets fröhliche Frau S. war eine davon.
Als es passierte, kannte ich sie fast genau dreizehn Monate. Normalerweise besuchte ich sie montags, mittwochs und freitags, und zwar immer früh, als Zweite auf meiner Liste. Montags und mittwochs half ich ihr beim Waschen und beim Ankleiden, freitags hatte ich etwas mehr Zeit und konnte sie richtig in ihrer Wanne baden. Sie trug dann in unserer Fantasie einen Bikini, damit sie sich ihrer Nacktheit weniger schämen musste, und wir scherzten über die Farben oder über die Muster auf dem nicht vorhandenen Textil und lachten über das berühmte Märchen von des Kaisers neuen Kleidern.
Wie lange sie aus medizinischer Sicht in etwa noch zu leben hätte, hat Frau S. mir nie verraten. Sie hatte mir auch nicht verraten, dass sie mich in ihr Testament mit aufgenommen und mit einem Erbteil bedacht hatte. Und sie konnte nicht ahnen, dass genau dies mir vor Gericht zum Nachteil gereichen, mir als Mordmotiv unterstellt werden würde.
Ob der Freitag, an dem es passierte, auch ein dreizehnter seines Monats war, spielt wohl keine Rolle. Mein erster Besuch an diesem Tag, wie immer um Punkt 7 Uhr bei Herrn K., verlief noch ganz nach Terminplan, und ich verließ ohne besondere Gedanken oder Gefühle dessen Haus. Auf dem Weg zu Frau S. war ich dann zugegebenermaßen etwas ins Grübeln geraten. Meine finanzielle Situation hatte sich verschlechtert, mein Lohn als Altenpfleger war ziemlich miserabel, und die Miete meiner kleinen Wohnung sollte zum folgenden Monat erhöht werden.
Auf diese Weise etwas abwesend übersah ich um ein Haar eine rote Baustellen-Ampel, die zwei Tage zuvor dort noch nicht gestanden hatte. Ich bremste abrupt, mein Hintermann touchierte meine Stoßstange. Wir stiegen aus, diskutierten. Hatte er etwa erwartet, dass ich bei Rot noch drüber fahre? Wir beruhigten uns wieder, es war ja nicht wirklich etwas passiert, nur sein Nummernschild war von meiner Anhängerkupplung etwas eingedellt. Aber natürlich dauerte das alles ein paar Minuten, vielleicht zehn oder zwölf. Er fuhr dann weiter, ich atmete noch einmal durch und setzte meinen Weg fort zu Frau S.
Nichts ahnend, aber eine Viertelstunde zu spät gegenüber meinem Terminplan, betrat ich ihre Wohnung. Sie antwortete nicht auf meinen Gruß. Sie war nicht im Schlafzimmer. Ich fand sie im Bad. Sie lag bewegungslos in der Wanne, die sie schon eingelassen hatte, den Kopf größtenteils unter Wasser. Ich hob sie an, fühlte Puls und Herzschlag, nichts. Ich rief Notarzt und Polizei.
Dann wurde ich angeklagt wegen Mordes. Ich konnte es nicht fassen!
Meine Verteidigerin schien mir zu glauben, dass ich völlig unschuldig bin. Sie legte sich mächtig ins Zeug und erreichte nach der ersten Instanz nochmal eine Verhandlung in zweiter Instanz. Aber auch dieser zweite Richter folgte den Darlegungen des Staatsanwaltes und verurteilte mich wegen Mordes zu fünfzehn Jahren Haft. Natürlich wurde ich auch für erb-unwürdig erklärt, weil mir ja unterstellt wurde, ich hätte Frau S. aus Habgier getötet wegen meiner finanziell angespannten Lage und der Aussicht auf das Erbteil von ihr. Und weil ich ehrlicherweise eingeräumt hatte, dass selbst ich nicht wisse, wie Frau S. es geschafft haben könnte, allein und ohne mich das Bad vorzubereiten und in die Wanne zu gelangen. Das Kennzeichen des Unfallgegners wusste ich natürlich auch nicht mehr, so dass mir die Sache mit der Bauampel und die daraus entstandene Viertelstunde Verspätung nicht geglaubt wurde vor Gericht. Es ist übrigens interessant, wie wenig du beweisen kannst, wenn dir jemand nicht glaubt.
Dreizehn Jahre war ich fast wie tot. Heute komme ich frei. Kann ich mich noch bewegen wie ein normaler Mensch? Meine Anwältin hat tatsächlich nicht aufgegeben, hat infolge neu von ihr angestrengter Untersuchungen der Umstände des Todes von Frau S. erreicht, dass zumindest aus medizinischer Sicht starke Zweifel aufkamen an der Vermutung, ich könne meine fröhliche Klientin durch Untertauchen ertränkt haben. Somit wurde ich in einem neu aufgerollten Verfahren frei gesprochen – wegen Mangels an eindeutigen Beweisen. Meine großartige Anwältin ist damit allerdings noch längst nicht zufrieden und will für mich einen so genannten qualifizierten Freispruch erwirken: wegen erwiesener Unschuld.
So vieler Jahre meines Lebens beraubt – wäre ich nicht lieber wirklich tot? Wäre eine Todesstrafe nicht milder gewesen für mich als das lange, lange Einsitzen in der Gewissheit meiner Unschuld? Meine Mithäftlinge waren keine guten Adressaten für Gespräche über Gerechtigkeit, offensichtliche Ermittlungsfehler, scheinbar voreingenommene Richter. Meine Freunde „draußen“ habe ich nach und nach verloren, auch sie konnten es länger als drei oder vier Jahre nicht hören bei ihren Besuchen oder lesen in meinen Briefen.
Also sagen wir, zehn Jahre tot, nicht dreizehn. Zehn Jahre tot, und jetzt soll ich wieder lebendig werden? Wer will mich noch kennen, wer hat sich nicht schon lange den Zweifeln an meiner Unschuld überlassen? Meine Anwältin, die ja auch mit Freunden gesprochen hat, um meine Reputation kennen zu lernen, erzählte mir, dass sie mehr als ein Mal zu hören bekommen habe: „Ja-ja, ich fand ihn immer freundlich und umgänglich und hätte ihm keinen Mord zugetraut – aber wer weiß?“ Und dann der Spruch: „Wem kann man denn schon hinter die Stirn schauen?“
Ehrlich gesagt, tun sie mir leid. Sie sind offensichtlich so ungefestigt in sich selbst, dass sie sich nicht wagen, jemand anders zu vertrauen. Meine Anwältin kannte mich viel weniger, sollte man meinen, aber sie hatte den Charakter, sich auf meine Schilderung einzulassen und mir zu glauben, mir ihr Vertrauen zu schenken. Darum war ich nie so ganz tot. Und vielleicht kann ich ab jetzt und „draußen“ nach und nach wieder mehr leben. Meine Freunde werde ich mir in diesem zweiten Leben auf jeden Fall besser aussuchen. Und statt wieder in der Pflege zu arbeiten, was ich mir im Moment noch überhaupt nicht vorstellen kann, werde ich mich vielleicht einer Organisation anschließen, die Häftlinge zu betreuen versucht. Von einem Ex-Knasti lassen sich so manche Inhaftierte eher ansprechen, glaube ich, und werden sich eher verstanden fühlen. Ob ich das wirklich kann, weiß ich natürlich noch nicht.
Zehn Jahre tot und wieder lebendig. Eine bewusste Geburt, sozusagen. Kein religiöses Erweckungserlebnis vom Typ „Wiedergeburt“, sondern eine zweite Geburt. Mir ist kalt und auch ein bisschen bange. Angeblich laufen jetzt überall Rechte herum, Querdenker, Rassisten. Das Klima droht zusammen zu brechen, oder so ähnlich. Krieg und Seuchen und all so was. Die Informationen „drinnen“ waren nicht besonders, was diese Themen angeht. Auszuwandern scheint jedenfalls keine Option mehr zu sein. Sogar der Aufenthalt im Wald scheint neuerdings verdächtig…
Dreizehn Jahre im Koma wären vielleicht – so schlimm sie auch sein mögen – weniger verwirrend als das alles, was mir „drinnen“ durch den Kopf gegangen war und jetzt durch den Kopf geht. Fake News und Faktenchecker – wo bleibt die Kommunikation? Wohin versickert uns die Wahrheit?
...wie wenig du doch beweisen kannst, wenn man dir nicht glaubt…
Foto: ty-ty (Rosige Zeiten - la Moselle en rose)
Wohin das führt, wenn man Dich mit Zeitungsartikeln füttert... ;-))
Und ja: auch wenn der Blickwinkel hier nur angenommen ist - ich glaube, er kommt der Realität ziemlich nahe.
Du scheinst über ausgezeichnetes Futter zu verfügen. Respekt, was daraus gewachsen ist.
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nun, so etwas durchmachen zu müssen gehört sicherlich zu den übelsten Erlebnissen die man sich je einfangen kann, insbesondere wenn man wirklich nichts damit zu tun hatte, da nutzt es auch nichts wenn das Problem mit dem Mietvertrag gelöst war -man hatte schließlich ein Dach über dem Kopf und hungern musste man auch nicht-, ob man allerdings als "geläuterter Mensch" dort wieder heraus kommen kann bei all dem wirklichen Übel was einen dort umgibt wage ich zu bezweifeln.
Und in Fällen wie diesem ist dies ja im Grunde genommen gar nicht möglich weil es war ja nichts was man verkehrt gemacht hatte außer das man an dem Morgen wie gewöhnlich aufgestanden ist, es wäre wohl einer dieser Tage gewesen wo man besser im Bett geblieben wäre -die Welt wird schon nicht untergehen, oder !?
Ein großes Lob an die Anwältin die scheinbar viel von einem Pitbull hat, und wohl jeden Cent wert ist den man ihr bezahlen darf, oder war es gar eine Pflichtverteidigerin dann würde das noch viel höher bewertet werden müssen denn denen sagt man im allgemeinen keine große Lust zur wirklichen Überzeugungsarbeit nach.
Hier draußen sind Informationen auch nicht besonders. Zu oft transportieren sie Botschaften, die von übergeordneten Interessen geleitet sind.
Deine Story ist erste Sahne.
Eine wahre Geschichte?
Was sagte die Rechtsmedizin?
Die Obduktion hätte eigentlich die Unschuld beweisen müssen.
Die Geschichte ist wahr, aber nicht meine eigene.
Die Rechtsmedizin hat damals offenbar versagt und kam erst duch neue Anstrengungen seitens der Anwältin auf Kurs.
Der qualifizierte Freispruch "wegen erwiesener Unschuld" ist jetzt offenbar auch erfolgt.
https://www.br.de/nachrichten/bayern/urteil-im-badewannen-prozess-angeklagter-freigesprochen,TjIrr6L
Das sollte man am besten verfilmen.
Was für eine Geschichte, die mal wieder zeigt, dass im Zweifelsfall für den Angeklagten entschieden werden sollte.
✨🦋🙏
...und wie überheblich das Beibehalten und Vollstrecken einer Todesstrafe ist...
Leider eine sehr unrühmliche Story... also die ursprüngliche. Da der Mann aus der hiesigen Region kam, war das Thema schon sehr präsent in den letzten Tagen.
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