Kleine philosophische Grübelei zum Wochenausklang
Philosophie der Satzzeichen
"Position Renans: das Fragezeichen - wichtigstes aller Satzzeichen. Position des äußersten Gegensatzes zur nazistischen Sturheit und Selbstgewißheit. Zwischen beiden Extremen schwingt die Menschheit und sucht die Mittellage." (Victor Klemperer, LTI: Notizbuch eines Philologen, 1947)
- Ernest Renan ( 1823 - 1892) spielt hier nur eine untergeordnete Rolle, auch wenn er der eigentliche Verfasser dieser Hypothese war.
Victor Klemperers Werk "LTI: Notizbuch eines Philologen" ist eine Schatztruhe voll von allerlei Vokabeln, die ich noch nie zuvor gehört habe, reich an geschichtlichen Fakten, welche in der Schulzeit nie zur Sprache kamen und noch reicher an Aussagen, die wenigstens einer Diskussion und des mehrfachen Übergrübelns wert sind.
Das oben genannte Zitat ist in unserer heutigen zerstrittenen Gesellschaft wohl aktueller denn je. Das Wort "nazistisch" bleibt hierbei ausgeklammert, ist es doch nicht mehr wirklich aktuell. Man könnte es durch die in den Medien erwähnte "Aluhutsturheit" auf der einen Seite oder "Lifestylelinke Systemlingssturheit" auf der anderen ersetzen. Es gibt dahingehend momentan so viel Auswahl an groben Begrifflichkeiten, dass sich jeder seine eigene Sturheit maßschneidern kann.
Aber zum eigentlich Interessantem - den Satzzeichen. (Ich bin, wie ihr sicherlich schon bemerken konntet, kein begabter Punktierer.) :)
Das Ausrufezeichen wird hier als Synonym für stur, arrogant und wenn man das nazistische doch einbezieht, unterwerfend dargestellt.
Das Fragezeichen, als sein Kontrapart, verkörpert somit Was?
Die Akzeptanz? Die Offenheit gegenüber dem Gesagten - so wie es die Sturheit nicht kann?
Die Bescheidenheit - als Gegenstück der Süffisanz?
Die Submission, die Selbstknechtung - da das mandierende Ausrufezeichen die Macht hat, andere zu unterwerfen - oder ist es eher die Erhebung des Besprochenen auf ein neues Level der Anerkennung? Oder geschieht dies gar durch die eigene Submission?
Ich glaube, es ist von allem ein bisschen.
Besonders, wenn ich an unsere Medienlandschaft denke, kannte ich bis vor wenigen Jahren ausschließlich das Fragezeichen. Abhängig vom Verfasser schwankte es allerdings genauso zwischen respektvoller Bescheidenheit und Anerkennung der nächsten Person und ihrem Gegenstück: der Arroganz, wie es die gesammte Menschheit tut. Wobei sich zur Arroganz nicht selten - und mit der Zeit immer häufiger - die Unverschämtheit gesellte.
Das Fragezeichen ist (für mich) der Inbegriff einer Demokratie - sind wir doch auf Dialog angewiesen.
Das Fragezeichen ist (für mich) der Inbegriff der Wissenschaft - ist doch nur das gültig, was noch nicht widerlegt wurde und sich momentan der meisten "Follower" weiß.
Das Fragezeichen ist somit labil, volatil, nicht von Dauer. Es hinterfragt Fakten. Respektiert keine Position. Schafft Unsicherheit. Kreiert Ängste.
Und jeder, der sich an Star Wars Episode I erinnert, weiß, dass Angst der Schlüssel zur dunklen Seite der Macht ist.
Das Fragezeichen gibt uns somit die Macht. Die Macht (Un-)Wahrheit von (Un-)Wahrheit zu trennen, jegliche Rede, Position oder gar ganze Systeme anzuzweifeln, ins Wanken zu bringen.
Das Ausrufezeichen hingegen, ja, das ist der wahre Inbegriff der Klarheit - das, wonach wir alle streben, nach was wir uns sehnen, die Stabilität, die Sichtbarkeit, die Sicherheit und das Abfallen der ewigen Last der Verantwortung auf unseren Schultern.
Was ist es also, das wichtigste Satzzeichen?
Ich finde das Thema sehr interessant und freue mich auf eure Gedankengänge dazu.
( Und was ist mit der dunklen Seite der Macht? :) )
Du hast vergessen den tag #steemexclusive zu setzen
Das kannst Du aber noch machen zwischen 2-5 Stelle
VgA
Danke dir! Das wusste ich nicht.
Sehr hübsche Idee!
(Ausrufezeichen ohne unterwerfenden, sondern mit Applaus-Charakter)
Ich wünsche mir aber bitte noch eine Würdigung des bescheidenen und doch so wichtigen Punktes.
Ferner wäre ich interessiert an dessen Gegenüberstellung zum Komma, weil ich das Gefühl habe, das Komma könnte sein Pendant sein, ohne welchen der Punkt nicht so Eindruck machen würde, und andererseits wäre das Satzgebaue nur mit Punkten ohne Komma auch etwas eingeschränkt.
Doppelpunkt und Semikolon als Teil 3? Ich will aber nicht unverschämt wirken: oder schon zu spät?
;-)
Guter Einwandt!!!👏
So wie es Befehle verstärkt, kann es auch Lob hervorheben. Diese Seite ist mir komplett entfallen.
:)
Nein, nicht unverschämt. Animierend.
Auch wenn es die eigentliche Idee des Beitrags war, über Klemperers Zitat zu diskutieren. :)
Das meint für mich dann wohl, hinsetzen und die Regeln der Punktsetzung auffrischen. :)
Victor Klemperer ist keine leichte Kost.
Vielleicht habe ich deshalb auch ein bisschen ... mehr auf den Titel deines Posts abgestellt?
;-))
Das ist wahr.
Es liest sich etwas schleppend, ist aber fesselnd und hat viele Stellen, wo man einfach innehalten muss, um die Aussagen oder die damalgien Geschehnisse, zu überdenken.
Ich finde seine Beschreibung der Satzzeichen als Gegenpole interessant und auch zutreffend, aber nicht mehr in der selben Art und Weise wie vor 100 Jahren.
Ist das Fragezeichen DAS Satzzeichen Sokratischer Mäeutik?
https://de.wikipedia.org/wiki/M%C3%A4eutik
Das Wort musste ich wiederum nachschlagen.
( Auf Spanisch ist es noch viel schlimmer: Mayéutica - zu viele Vokale)
Das Fragezeichen als Mittel zur Selbstreflexion des Gegenüber. Ist es das?
oder eher: "Warum glaubst du, dass es korrekt ist?"
Im vorliegenden Fall würde ich "ist es das?" als Rückfrage auffassen - zur Vergewisserung des kommunikativen Verständnisses.
Aber ich denke, "ist es das?" kann in anderen Kontexten auch mäeutische Funktion haben. Zum Beispiel im Sinne von "Ist es dir das wert?" oder "Meinst du wirklich? Willst du nicht nochmal drüber nachdenken?"
Hoppla! Auf den ersten Blick hätte ich glatt gesagt: "Was haben Satzzeichen denn mit Philosophie zu tun...?"
Beim Lesen Deines Beitrags ergeben sich aber schlüssige Bilder und ich ertappe mich öfter bei dem Gedanken: "Genau." Du hast da was angerührt... Schreibe bestimmt die Tage noch einmal was dazu - für den Moment habe ich zu meiner Verblüffung herausgefunden, daß Du gar nicht so alleine dastehst mit Deiner Philosophie der Satzzeichen:
https://www.transcript-verlag.de/978-3-89942-988-6/punkt-punkt-komma-strich/
Herzlichsten Dank für den Denkanstoß!
Vor gestern hätte ich mich damit auch nicht groß beschäftigen wollen, aber das Zitat im Buch fand ich doch ganz eindrucksvoll.
Vielen Dank für den Link! Noch ein Schinken mehr auf der ausstehenden Leseliste XD.
Die müsste dann ja ausschließlich Ausrufezeichen kennen! (Ups, jetzt habe ich auch eines gesetzt) ;-)
Damit ist dein erster Schritt zum roten Doppelsäbel getan. ;-)
Ich kann mich nicht an eine große Debattenkultur bei Darth Vader erinnern :-).
Das Fragezeichen nutzten die Sith doch eher, um Informationen einzuholen, nicht um anderer Meinungen zu erfragen. Dafür hatten sie ihre Überzeugungsmethoden.
...schwenkt ganz schön ins nerdige ab ><
Zu deinem sehr interessanten Beitrag möchte ich eine etwas verspätete 'Vermisstenanzeige' aufgeben: du hast das umgekehrte Fragezeichen nicht erwähnt, das im Spanischen die Frage eröffnet, die dann mit dem Fragezeichen in normaler Stellung abgeschlossen wird. Das ist weltweit einzigartig, informiert schon von Beginn des Satzes darüber, dass es sich um eine Frage handelt und so kann man die Satzmelodie darauf abstimmen, was das Verständnis erleichtert. Eingeführt wurde es 1754 und 1870 hat die Kgl. Akademie der Sprache auch festgelegt, dass die Länge des Satzes darauf keinen Einfluß hat. Also: ¿Qué? Das gilt übrigends auch für das Ausrufezeichen: ¡No!
Diese Zeichen können als Verstärkung bis zu dreimal erscheinen (immer die gleiche Anzahl am Anfang und am Ende) und auch als Kombination (¿¡)
Dir ist das natürlich bekannt, aber sicher haben sich schon so manche Besucher Spaniens, die das Castellano nicht beherrschen, darüber gewundert. In den anderen offiziellen Sprachen Spaniens (Catalán, Gallego...) gibt es das übrigends nicht und generell sind die zeichensparenden Generationen oft zu faul, um diese spanische Eigenart beizubehalten.
José Ortega y Gasset hingegend verteidigte es auf poetische Weise, als er 1914 in den 'Meditationen des Quijote' schrieb:
"De lejos, solo en la abierta llanada manchega, la larga figura de Don Quijote se encorva como un signo de interrogación: y es como un guardián del secreto español, del equívoco de la cultura española."
Diese Reflexion hat mir sehr gut gefallen. Ich mag das Fragezeichen auch sehr gerne. Für mich ist es ein Symbol für Offenheit und Kompromiss.
Danke!