Auf Lev Tolstojs Landgut

in Deutsch Unplugged3 years ago (edited)

Auch wer sich nicht für Literatur interessiert, noch nix von Graf Tolstoj gelesen hat oder nada von seinen beiden Klassikern, den mörderdicken Schinken "Anna Karenina" und "Krieg und Frieden" gehört hat: der Mann hat einiges zu bieten, nicht nur im strengen und engen Sinne literarisch.

Was mich von Anfang an gefesselt hatte, war ein Kunstgriff des sowjetischen Literaturprofs vom alten Schlag. Damals durfte man noch Frauenwitze machen. Gut, in Russland darf man das immer noch. Die Chicks sind ja immer die Streberinnen, während die Herren der Schöpfung sich in Lesefaulheit ergehen. Um die männlichen Studenten zu motivieren, sich wirklich komplett in ihn reinzuwerfen und alles zu lesen, wurde uns gleich zu Beginn im Detail erklärt, wie sehr Tolstoj unter seiner herrischen Frau zu leiden hatte, wie sie ihn überwachte, kontrollierte und kritisierte von morgens bis abends.

Unsere Aufmerksamkeit und Begeisterung war ihm bis zum Ende der Vorlesungsreihe sicher.

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Tolstojs Wohnhaus in Jasnaja Poljana

Ihre weibliche Zuneigung nahm zum Ende seines Lebens auf seinem Landgut "Jasnaja Poljana" solche Ausmaße an, dass er sich im hohen Alter, meiner Erinnerung nach bereits über 80, schließlich entschloss, zu fliehen und seiner Frau davonzulaufen. Dazu musste er frühmorgens heimlich zum einige Kilometer entfernten Bahnhof gelangen, den es heute noch gibt. Begleitet wurde er lediglich von seinem Leibarzt.

Wie es das Schicksal so wollte: Er kam nicht weit. Er holte sich eine Erkältung und musste nach einigen Tagen auf einem kleinen Provinzbahnhof seine Reise abbrechen. Dort starb er an einer Lungenentzündung. Heute wäre er vermutlich als Covid-Toter in die Annalen eingegangen.

Das hat man also davon, wenn man sich nach 50 Jahren Ehe ermannt, sein Glück allein zu suchen.

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Der Bach hinter dem Herrenhaus - hier spielte der Graf als Kind und saß als alter Mann

Bekannt wurde der Graf nicht nur wegen seiner literarischen Werke, sondern vor allem durch seine ketzerische Gottessuche, die dazu führte, dass er unter Polizeiaufsicht stand, fast für geistesgestört erklärt und schließlich aus der Kirche exkommuniziert wurde. Was ihm herzlich egal war, da er die Amtskirchen für Gotteslästerung hielt.

Selbst als begeisterter Reformpädagoge machte er sich einen Namen: Für seine leibeigenen und später befreiten Bauern baute er Schulen und unterrichtete ihre Kinder teilweise selbst. Bis zum Beginn der Sowjetzeit wurden Generationen von russischen Kindern übrigens mit dem von ihm verfassten Schulbuch "Alphabet" unterrichtet.

Tolstoj ließ keine Selbstkasteiung auf der Suche nach sich selbst und der Wahrheit aus. Er hörte auf zu rauchen und zu saufen - in Russland eine unerhörte Tat. Sogar die Jagd verbot er sich, ja er ernährte sich vegetarisch. Er setzte sich für politisch Verfolgte ein und erklärte sich solidarisch mit Kriegsdienstverweigerern.

Sein moralischer Rigorismus steigerte sich mit zunehmendem Alter, ja war in seiner Konsequenz und Friedfertigkeit beängstigend für seine Mitmenschen. Zum Ende seines Lebens predigte er kompromisslose Nächstenliebe und absolute Gewaltlosigkeit. Er stand mit Gandhi im Austausch, ermutigte ihn zu gewaltlosem Widerstand gegen das Kolonialregime und galt schließlich als Vertreter eines ganz eigenen, radikalen, russisch-religiösen Anarchismus.

Kein Wunder, dass seine Frau hin und wieder genervt war.

Die Sowjetunion tat sich, anders als bei Dostojevskij, leicht, den Grafen in ihren Heldenkanon aufzunehmen, auch wenn Tolstoj zu seinen Lebzeiten wenig Sympathie für den Sozialismus zeigte und den ihm immanenten Terror erkannte und vorhersah.

Beerdigt wurde er auf eigenen Wunsch auf seinem Landgut Jasnaja Poljana ohne jeden Pomp.

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Tolstojs Grab, "dort, wo sie als Kinder Stöcke suchten", ebenfalls auf dem Landgut

Diesen Sommer haben sich Leroy und seine Frau die Freude gegönnt, das ca. 250 km von Moskau entfernte Anwesen zu besuchen, sein Wohnhaus zu besichtigen, durch seine Felder zu wandern, im Dorf seiner Leibeigenen ein Bier zu trinken und sein Grab zu besuchen.

Eine wunderbare Zeitreise in die russische Provinz.

Sort:  

Ja, er hat´s schon voll drauf gehabt, Analysen von zeitloser Schönheit:
“Man könnte die Unterordnung eines ganzen Volkes unter wenige Leute noch rechtfertigen, wenn die Regierenden die besten Menschen wären; aber das ist nicht der Fall, war niemals der Fall und kann es nie sein. Es herrschen häufig die schlechtesten, unbedeutendsten, grausamsten, sittenlosesten und besonders die verlogensten Menschen. Und dass dem so ist, ist kein Zufall.”

  • Tolstoi

Kein Wunder, dass seine Frau hin und wieder genervt war.

Bestimmt nicht hin und wieder, sondern dauerhaft....

Möcht nicht wissen was die Hexe ihm jedesmal vorgehalten hat, wenn er seine Ansichten verbaliserte.

 3 years ago 

Ich habe mir ihre Tagebücher im Antiquariat besorgt und werde berichten.

Na denne, da bin ich mal gespannt.

Weiterhin viel Spaß im Osten... :o)

 3 years ago 

Wieso hatte Tolstoj denn auf der Flucht seinen Arzt dabei? Hatte er Angst, doch von seiner Frau erwischt zu werden und den Plan, nach möglichen Gewaltausschreitungen sogleich durch seinen Begleiter eine Not-OP durchführen zu lassen?!

Super gelungene Zusammenfassung der interessanten Tolstoj-Biographie, danke! Das Lesen hat Spaß gemacht, besonders schön auch die Erkenntnis, dass ihr mit dem Ausflug zum Landgut einen super gelungenen Urlaubstag verbracht habt... :-)

LG Chriddi

 3 years ago (edited)

Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, warum er ausgerechnet seinen Arzt dabei hatte. Hier wird das ganze Drama recht pittoresk beschrieben übrigens.

Er muß ja in der russischen Gesellschaft als echter Freak gegolten haben. Jeden anderen hätte man wahrscheinlich sang- und klanglos nach Sibirien verfrachtet, aber als Künstler hat man gewisse Freiheiten...

 3 years ago 

So schnell ist man im zaristischen Russland nicht nach Sibirien gekommen. Die Leute zu Millionen und für nichts in die Lager zu schicken war die Spezialität der Erbauer des Paradieses auf Erden. Der Mann galt als Heiliger, an den traute sich niemand ran.

Wenn man der herrschen Klasse (oder sogar dem Zarenhaus) auf den Wecker ging, konnte das schon passieren. Wobei es da Unterschiede gab - die kleinen Leute landeten im Arbeitslager, während die Großbürger (und ggf. auch Adel) nur "verbannt" wurden. Das heißt sie mußten irgendwo am Arsch der Welt in einem normalen Haus wohnen und durften da auch nicht weg, zurück nach Moskau oder so.
Mit dem "Sibirien" der Stalin Ära hatte das nichts zu tun. Da waren ja die, die es lebendig ins Arbeitslager geschaft hatten schon die Glücklichen.
Tolstoj mag ja auch ein Sonderfall sein. Künstler dürfen oft ein bischen mehr als andere Leute. Obwohl das nicht bei allen geholfen hat.

Und auch nicht überall sind solche Allüren akzeptiert. Zu dem Ausschnit mit Kinski: Regisseur Herzog hat später mal gesagt, das die Indianer, die dort als Statisten zu sehen sind, ihm ernsthaft angeboten haben Kinski kalt zu machen. Das wäre ein böser Mann, den sollte man nicht rumlaufen lassen, das bringt Unheil. Das meinten die völlig ernst.

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Nicht wundern wegen der schlechten Reputation von dem Account - dort bekriegen sich leider mal wieder welche in einer Flag Schlacht.

Ich vergebe auch ab und zu einmal ein Motivationsvote, das dir Zeigen soll, das ich mich freue, dass Du hier auf Steem aktiv bist. Und das unabhängig von Zugehörigkeiten oder dem was Du veröffentlichst. Gruß Holger

 3 years ago 

Danke Dir. Mach weiter das, was Dir guttut und Du für richtig hältst!

Der Herr Tolstoi hat es sogar ins neueste Buch von Michael Malice geschafft:

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Und der Herr Malice war mit diesem Buch etwa 2 Wochen unter den Top 5 der meistverkauften Büchern in allen Kategorien.
Nicht schlecht, wenn man bedenkt, dass er nur die Texte anderer zusammenkopiert und jeweils mit einem Vorwort versehen hat.

 3 years ago 

Die meisten kennen ihn nur als Autor zweier Klassiker und verorten ihn (nicht ganz zu Unrecht) im konservativen Milieu. Tatsächlich war er ein an sich selbst verzweifelnder unbändiger und furchtloser Wüstling, Rebell und Wahrheitssucher.

Aus nachvollziehbaren Gründen ist diese Seite im Literaturkanon kaum existent.

Er wußte mit Worten phantastische Bilder der russischen Gesellschaft seiner Zeit zu zeichnen.
Wäre gerne bei der Reise dabeigewesen.

 3 years ago 

Vielen Dank für die aufschlußreiche Biografie von Lev Tolstoi, kurz und knackig, wie alles von dir, geschrieben. Die Hollywood Verfilmung von Anna Karenina hab ich gesehen, aber gelesen, vielleicht Krieg und Frieden.
Sein Wohnhaus und die Umgebung sieht ja einladend aus. Klar, daß ihr dort einen schönen Tag hattet.

Steem on und weiter viel Erfolg...

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