Dankbarkeit

in Deutsch Unpluggedlast year (edited)
2023-06-13


Heute vor genau einem Jahr ist meine Mutter verstorben.
Mit dem heutigen Tag ist also das sogenannte Trauerjahr beendet. Stammte ich aus einer anderen Generation, hätte ich ein Jahr lang schwarze Kleidung getragen und würde sie heute ablegen.
Mit dem Ende des Trauerjahres wird natürlich nicht jede immer wieder auftretende Traurigkeit sowie das Gedenken an die Mutter auf Knopfdruck abgestellt, aber es ist schon was dran: Die Liturgie eines Jahres ist durchlaufen. Sämtliche wichtigen Familienfeste, Geburtstage, Hochzeitstage, Gedenktage etc. haben jeweils einmal – und zwar stets zum ersten Mal – ohne die Mama stattgefunden. Und die Lebenden haben diese in mehr oder weniger tiefem Schmerz, bestückt mit vielen Erinnerungen auch ohne den so wichtigen, geliebten Menschen gemeistert, zum Teil fröhlich gefeiert.

Gerade in den letzten drei Wochen habe ich natürlich oft an meine Mutter und die Extremsituation Sterbebegleitung gedacht. Vor einem Jahr habe ich sie aus dem Krankenhaus abgeholt. Vor einem Jahr haben wir die Rollstuhlrampe gebaut. Vor einem Jahr hat Mama mit Genuss frische Erdbeeren gegessen. Vor einem Jahr war ich auch körperlich völlig entkräftet. Vor einem Jahr sagte Mama ganz bewusst ‚Tschüß‘. Vor einem Jahr nahm sie bereits stumm, doch lächelnd, wahr, dass meine Brüder ihr am Sterbebett ein Abschiedslied sangen. „Dat du min Leevsten büst“.

Gestern hatte ich ein sehr intensives Gespräch mit meiner Wegbegleiterin, Ärztin, vor allem aber guten Freundin, worin das Ende des Trauerjahres eine zum bevorstehenden Todestag meiner Mutter passende zentrale Rolle spielte. Wir haben reflektiert, was in diesem Jahr alles passiert ist, was sich alles entwickelt hat. Und das ist Wahnsinn! Am Ende liefen mir die Tränen über die Wangen. Das war aber keine Trauer, sondern Rührung.
Wenn du erkennst, dass selbst dem Tod der eigenen Mutter für die Gesamtentwicklung des Systems in einigen Bereichen etwas Positives abzugewinnen ist - weil er dich gestärkt hat, weil Beziehungsgefüge sich nach der Entnahme einer so bedeutenden Schraube im System anders zusammensetzen mussten, weil so viel mit Mamas wunderbarem Wirken auf Erden, ihrer eigenen Freude, ihrem eigenen Schmerz, ihren gesamten Erfahrungen, die sie weitergegeben hat, ihrer Liebe, ihrem tapferen Sterben und ihrer spirituellen Anwesenheit zusammenhängt – spürst du tiefe Demut. Und Dankbarkeit.

Obwohl ich wusste, dass ein winziger Teil der Familie sich heute dort treffen wird, zog es mich gestern zum Friedhof. Ich schaute hinauf in die sattgrüne Krone der Buche, an deren Stamm eine Urne mit der Asche des Körpers meiner Mutter bestattet worden ist, und strahlte wie die Sonne am wolkenlosen blauen Himmel, als ich sagte: „Danke, Mama!“

Nachher gehen wir schön Essen, werden vielleicht traurige Erinnerungen an die letzten Tage meiner Mutter austauschen, ganz bestimmt aber auch viele lustige Anekdoten ausgraben. Währenddessen werde ich immer wieder daran denken, welche Wege meine Mutter den lebenden Hinterbliebenen vorbereitet und geöffnet hat. Zeit für Demut und Dankbarkeit: „Danke, Mama!“


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spürst du tiefe Demut. Und Dankbarkeit.

Ich glaube man kann dieses Geschenk der Schöpfung - ein Leben in Liebe auch Gnade nennen...

✨🦋🙏

 last year 

Bestimmt. Alles sehr versöhnliche Wörter... :-))

 last year 

It's not always a good feeling when we lost a love one. We often miss the person and that brings emotion that we can't control.

On one of the publication I put up last week.., I mentioned one of my wish and that was to delete death, unfortunately I don't have such power, but I know and believe something like that will happen in the future but that won't be done by me.

You had a good relationship with your mom, I cannot explain, I can only imagine, but I believe you.

Good memories and good deeds of your mom will still pass a positive message and that's a fine name...worth gratitude.

 last year 

delete death

Is that really desirable? Isn't it the finiteness that makes life worth living and valuable?
I know, we can discuss this very comprehensively. In addition, religious views also play a role here.
But I think it such wishes are sometimes easy said...

 last year 

True, it is very, very sad and an emotional feat to lose a loved one. Nevertheless, death is inevitable and part of life.
For that reason, I would certainly not want to abolish it. The living can (and should, at least I'm sure God planned it that way...) learn from it. We must not demonise it (the irreversible), but learn to deal with it on earth. Respect and accept death as part of it, at best even recognise what can be taken from such a dramatic event for life and the development of those who live on (for one it is irreversibly ended...).
Every soul that comes to earth in whatever form has a certain task that it has to fulfil in order to advance the development of other souls. That is my belief, I am convinced of it. My mother has fulfilled her task. This "knowledge" conveys a good, warm emotion, surrounded by love and gratitude.

 last year 

Da öffne ich nichtsahnend diesen Post, denke er wird vielleicht ein bisschen philosophisches Zeug zu Dankbarkeit enthalten, und dann das. Das traf mich jetzt doch unvermittelt.
Ich bewundere dich, liebe Chriddi, einmal mehr. Und hoffe für mich selbst, dass ich eines Tages auch so empfinden werde.
Ganz viel Liebe für dich ❤️

 last year 

Oh, ich wollte niemanden erschrecken...
Ich hatte dir damals, glaube ich, erzählt, dass meine Mutter eine Krebsdiagnose hatte. Verlief eigentlich alles ganz gut, die Chemo hat sie super vertragen und alle Zeichen standen auf Genesung. Ostern war sie mit ihrem Mann noch im Urlaub, sie haben Radtouren unternommen. Zwei Monate später... Naja. War schon schlimm... :-(

Danke für deine lieben Worte. Ich habe wirklich ganz genauso gefühlt, wie geschrieben und das musste einfach raus (wenn ich mein "Chriary" sonst schon so vernachlässige...). Bewundernswert? Weiß nicht recht. Auf alle Fälle angenehme Gedanken, die beweisen, dass wir zum einen im Reinen auseinandergegangen sind und ich zum anderen - und das ist sehr wichtig, denn ich lebe ja noch - auch mit der wahrlich heftigen Herausforderung, die Pflege und Sterbebegleitung an mich stellten, ins Reine kommen werde.

 last year 

Ich hatte dir damals, glaube ich, erzählt, dass meine Mutter eine Krebsdiagnose hatte.

Das ist total gut möglich, aber ich hoffe, du nimmst mir nicht übel, dass mein Hirn zwischenzeitlich von anderen Informationen beansprucht wurde.
Wenn man denkt, jetzt geht's wieder bergauf und dann ist es doch plötzlich vorbei.. uff, ich kann mir ansatzweise vorstellen, wie das ist und vor allem, dass es so viel niederschmetternder ist, als wenn jemand kontinuierlich abbaut.

und ich zum anderen [...] ins Reine kommen werde.

Eine wahrlich schöne Vorstellung!

 last year (edited)

Man liest Eure wunderbare Beziehung aus jeder Zeile. Wie Du sagst: Trauer vergeht, aber nicht die Erinnerung und das warme Gefühl.

 last year 

Schön, dass du das so lesen kannst. Es ist ja nicht so, dass es in unserer Beziehung stets "heile Welt" gab. Wir konnten uns auch ziemlich gut anzicken und da war - von beiden Seiten - bestimmt auch "Unverzeihliches" dabei. Aber wir konnten für unsere Entwicklungen (wichtig jetzt natürlich meine, denn nur die geht noch weiter) etwas daraus ziehen. Und wir sind definitiv mit viel Liebe und im Reinen miteinander auseinandergegangen. Das vermittelt dann tatsächlich das bleibende warme Gefühl... :-)

schöner einfühlsamer post
musste sofort an meine schwester denken
beste grüße sende ich mal rüber

 last year 

Vielen Dank... :-))

Liebe Christiane,

Jede einzelne Strophe hat so viel in sich, ich war zu Tränen berührt. Das erste Jahr nach dem Verlust eines geliebten Menschen ist immer das schwierigste, daher es ist wichtig die Familie um sich zu haben. Ich hoffe die Zeit die ihr zusammen verbracht habt hat euch gut getan. Ich wünsche dir für dieses Jahr viele neue schone Ereignisse.

LG, Karly

 last year 

Vielen Dank für deine schönen Worte, liebe Karly.
Wenn die Zeilen so ergreifend sind, obwohl sie eine sehr positive Entwicklung darstellen, habe ich alles richtig gemacht und genauso geschrieben, wie ich fühlte.
Du warst eine der ersten Steemians, die von der schrecklichen Diagnose meiner Mama und deren Auswirkung auf mein Befinden erfahren hat. Für deine Unterstützung und Anteilnahme in dieser Zeit möchte ich dir gerne auch hier nochmal danken. Und nun ist doch (meistens) wieder alles gut.
Vielen Dank für deine Wünsche, auch dir alles Liebe!
LG Christiane

Ich kann mich sehr gut an die Zeit erinnern, und an deinen seelischen Zustand. Obwohl die Kommunikation nur über discord ging, hatte ich das Gefühl direkt mit dir geredet zu haben.
Es freut mich auch das du hier auf Steemit deine Gefühle verarbeiten konntest, und dich so viele Menschen in deiner Situation unterstützt haben.
Es ist doch wie eine kleine Gemeinschaft hier, die vieles miteinander teilt. Nun, wünsche ich dir auch eine schöne Woche.

 last year 

 last year 

You went through a difficult period as a strong person. And if you feel grateful for everything that mom did for you, then she did everything right. It is very sad that all this is mandatory and irreversible.

 last year 

Yes, I can be grateful for everything. Even if my mother did something "wrong", she definitely did it the way she thought was "right". And even negative experiences are experiences that teach for life - so all is well... :-))

Death cannot be reversed, that's just the way it is. But that is also something I learned as a small child: Death is part of life (the cycle of life). Grief and pain are also part of it. As soon as you have "finished" the deepest emotional phases and are able to think clearly again, you can draw "lessons" from the irreversible and feel gratitude. Also for everything that happened around it.
In real life, of course, it was much more intense, but on the Steem alone: how grateful I am to Hira, Peter and you, for example, when you - strangers - took over my sc tasks at the time without batting an eyelid. In extreme situations, you find out which friends you can rely on (especially in real life). See, this is a small positive aspect, triggered by a terrible event. We are allowed to be happy about that...

 last year 

SC duties are such trifles :) And you still remember it :)))

 last year 

Even triffles make up life...
Yes, I remember it well. I think I remember every second in that extreme situation.... ;-)

 last year 

Schon beim ersten Satz musste ich staunen: Ist es wirklich schon ein Jahr her!?

Ich kann nur schreiben: Mich haben deine Zeilen sehr berührt!

 last year 

Jo. Ein Jahr. Irre, nä? Kommt mir auch wie im Zeitraffer vor.
Ich kann nur schreiben: Das hast du schön geschrieben und es freut mich sehr... :-))

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