Fotogedanken - Verzinkte Blechgedanken über Mann und Frau
Elvira Becker lässt das Wasser laufen.
Es überrascht mich überhaupt nicht, als ich mich beim Ortstermin exakt mit dem konfrontiert sehe, was mir Kurt Becker, mein langjähriger, Kegel- und Skatbruder, Nachbar und obendrein Bewacher meines kleinen, bescheidenen Anwesens, während meiner körperlichen Abwesenheit, bereits prophezeit hatte.
Es war am heutigen Morgen, als Kurt mich während der üblichen Skatrunde am Stammtisch, die als Gegenveranstaltung zum Gottesdienst, den unsere Frauen mit großer Begeisterung besuchen, ins Leben gerufen wurde, als er mit seiner wohl angeborenen, unsanften Art mir seinen Ellenbogen in die Rippen rammte, um mir seine Vermutung bezüglich seiner Schwägerin zu übermitteln.
“Wolfram, wenn ich es dir sage, das Weib hat einen komplett an der Waffel. Was mein Bruder an der bloß findet, es wird mir wohl bis in alle Ewigkeit ein Rätsel bleiben. Aber besser, dass ich es nicht weiß. Derartige Bilder im Kopf bekäme ich wohl nie wieder los.”
Natürlich war mir auf Anhieb klar, wem Kurt da gerade das Zeugnis ausstellte. Jedoch konnte ich mir keinen Reim darauf machen, wieso mein Kumpel bereits so früh im Jahr ein so hartes Urteil fällt. Normalerweise sind doch Anlässe wie der Jahreswechsel oder (zumindest beim weiblichen Geschlecht) das Ausbleiben der Periode geradezu prädestiniert dafür Mitmenschen hochzujubeln oder kurzerhand den Stab über ihrem Haupt zu brechen. Hier jedoch stand offensichtlich der arg morsche Stab im Fokus des Geschehens. Also höchste Zeit für eine Nachfrage, bevor der Ellenbogen ein zweites Mal einschlägt.
“Was ist denn jetzt schon wieder passiert? Ich dachte, zwischen Harry und Elvira klappt es wieder bestens? Habe ich etwa was verpasst?”
An dieser Stelle sollte ich zum besseren Verständnis erwähnen, dass es vor zirka einem halben Jahr zu einem kleinen Zwischenfall im Anwesen von Harry und Elvira Becker kam, als nach einem heftigen Disput sich das Ehepaar nicht einigen konnten, wer aus lauter Verzweiflung zuerst aus dem Fenster springen soll. Hätte man dieser Angelegenheit eine Einigung gefunden, der Vollzug hätte sich weiter verzögert, denn der nächste Streitpunkt lauerte bereits um die Ecke: Wenn schon springen, dann aus welchem Stockwerk?
Als Auslöser des Ehekrachs konnte eindeutig der gemeinsam gezeugte Sohn ausgemacht werden, dem, inzwischen volljährig, eklatante Mangelerscheinungen im Denkstübchen schwerlich abzusprechen sind. Die Erzeuger konnten sich damals über die prozentuale Verteilung der Schuld für die Schwachköpfigkeit des Sohnes nicht einigen. Harry Becker wollte und konnte die ihm zugeteilten 100 % so einfach nicht widerspruchslos akzeptieren.
Die Fenster im Erdgeschoss und am Zugang zum Keller wurden sperrangelweit mit viel Geschrei aufgerissen, doch war die Freiwillige Feuerwehr mit dem sauber gefalteten Sprungtuch rechtzeitig vor Ort. Außerdem erklärte sich der protestantische Pfarrer, den wohl ein göttlicher Schachzug zu dem Haus katapultiert hatte, ohne lange darüber nachzudenken, 36 % der Schuld von Harry zu übernehmen, was wiederum zu Diskussionen in Wohnviertel führte, die nur sehr wenig mit der Blödheit des Juniors zu tun hatten.
Kurts Mitteilungsbedürfnis hatte Fahrt aufgenommen.
”Jetzt erzähle mir nicht, du hättest noch nicht die neue Dachrinne und das Fallrohr gesehen, das die hohle Nuss ans Haus hat anbringen lassen. Das ganze Viertel redet bereits nur noch über den Blödsinn. Und jedes Mal fällt dabei der Name Becker. Das Weib scheint keine Ruhe geben zu wollen, bis unser Nachnamen komplett im Abwasserkanal verschwunden ist. Du kannst dir nicht vorstellen, wie viele Klöße mir augenblicklich im Hals stecken.”
Dieser Behauptung konnte ich nicht widersprechen, obwohl ich mir einen dicken Hals definitiv immer anders vorgestellt hatte. Aber vielleicht dachte mein Nachbar dabei wohl eher an Grießknödel, wie ich sie bei genauer Beobachtung ab und zu in der klaren Brühe vorbeischwimmen sehe? Eine unverkennbare, innere Verärgerung konnte jedoch Kurt nicht abgesprochen werden. Ein guter Grund mir das Anwesen in der Blumenstraße etwas genauer anzuschauen, da auch ich nicht daran interessiert war, dass mein Nachbar sich nach einem neuen Nachnamen umschauen muss, nur weil die Stadt nicht über eine funktionierende Kläranlage verfügt.
Nach dem Stammtisch erwartete mich dann beim Mittagstisch die nächste Botschaft, auf die ich auch hätte gerne verzichten können. Als wäre die Regenrinne von Elvira Becker nicht bereits genügend störender Ballast bei meiner sonntäglichen Bemühung wieder in Harmonie mit meinem Körper und vor allem mit dem meiner geliebten Ehefrau zu kommen, überrascht selbige mich zum Mittagessen mit einem Spinat-Nudelauflauf, gerösteten Sonnenblumenkerne und kratzigem Endiviensalat. Meine sofort eingeleitete Suche nach dem panierten Kalbskotelett brach ich bereits nach wenigen Augenblicken ab, da überhaupt kein einziges Messer auf dem Tisch zu finden war. Mein fragender Blick wurde mit so etwas wie protestantischer Demut gegenüber dem Tier beantwortet. Sofort kam in mir die Frage auf, was an den Gerüchten um den evangelischen Geistlichen wirklich dran ist und ob ich meine Frau nicht doch lieber auf der anderen geistlichen Seite anmelden sollte.
Nach der auferlegten Einschränkung den Protestanten gegenüber brauchte ich dringend frische Luft und eine Bildstörung, damit endlich das fehlende Kalbskotelett vor meinen Augen verschwindet. Um unnötige Spannungen bei der Auslegung sonntäglicher Liebesbekundungen mit dem Anreichern einer tierischen Opferbeigabe nicht auf die Spitze zu treiben, bat ich meine Frau mich in die Blumenstraße zu begleiten, wo wir jetzt stehen und uns mal wieder uneins in der Interpretation dessen sind, was uns da gerade präsentiert wird.
Die ausgeprägte Sprachlosigkeit meiner Herz-Dame, die ganz nebenbei bemerkt fast jeden Stich macht, weist darauf hin, dass bei ihr die hier präsentierten visuellen Einschläge noch nicht ganz verarbeitet sind. Eine ideale Gelegenheit meinen ersten Eindrücken den Weg in die Freiheit zu gewähren.
”Also wenn du mich fragst, ist hier mit Kurt ein wenig die Fantasie durchgegangen. Ich kann zumindest keine Ähnlichkeit mit Harry erkennen. Okay, ich kenne ihn zwar nicht so genau, was nichts anderes heißt, als dass wir noch nie zusammen unter der Dusche standen, doch, und hier beginne ich doch wieder zu zweifeln, der mittige Abfluss ist schon eine Provokation. Da schneidet Harry nicht sonderlich gut aus.”
Der unzweifelhaft strafende Blick meiner Trumpfkarte gibt mir sofort zu denken. Weiß sie etwa mehr als ich vorgebe zu wissen? War da was früher, was ich verpennt habe? Ich bin gespannt, was jetzt kommen wird.
”Wieso schaut ihr Männer immer sofort dort unten hin und stellt umgehend Vergleiche an? Schau dir doch mal das Objekt als Ganzes an. Mir gefällt es jedenfalls. Nicht so langweilig, wie bei uns am Haus. Ich sollte mich mit Elvira vielleicht doch bei Gelegenheit treffen.”
Ich brauche mir überhaupt nicht die Mühe zu machen darüber nachzudenken, über was bei einem solchen Treffen beratschlagt werden würde. Doch alleine der Gedanke, das so etwas unser Eigenheim zieren könnte, muss im Ansatz erstickt werden.
”Wage dich nur ja nicht so einen Mist in Auftrag zu geben. Soll ich der dummen Nuss vielleicht auch noch als Modell zur Verfügung stehen? Vergiss es einfach. Unsere Regenrinne bleibt unangetastet. Und damit basta.”
Immer wenn ich mich der festen Überzeugung verschreibe und dabei glaube, mich klar und deutlich ausgedrückt zu haben, werde ich eines Besseren belehrt. Überzeugungen entpuppen sich daher immer öfters als kurzlebige Episoden ohne Happy End.
”Wie redest du überhaupt über eine Person, die du gar nicht richtig kennst? Du bellst doch nur das nach, was dein Kumpel Kurt dir vorgejault hat. Schau dir lieber die Konstruktion genauer an. Hier hat jemand wirklich genau aufgepasst. Zu was taugt der männliche Körper, wenn er nicht gerade an das Eine denkt? Du brauchst nicht zu lange nachzudenken, ich helfe dir auf die Sprünge. Ihr seid die idealen Durchlauferhitzer. Sobald es oben reingelaufen ist, kommt es kurz danach unten warm raus. Das ist auch der Grund, warum Elvira Harry so einen opulenten Bauch verpasst hat. Der natürliche Warmwasserspeicher für die Autowäsche. Meiner Ansicht nach eine wirklich gute Idee, auf die wohl nur Frau kommen kann.”
Kann ich da etwa ein süffisantes Lächeln im Gesicht meiner Frau ausmachen? Höchste Zeit hier ein paar Dinge geradezurücken.
”Wenn du ja den vollen Überblick darüber hast, was die Zink-Blech-Designerin hier im Schilde führte, dann sei mir die Frage erlaubt, warum sie Harry die Hände amputiert hat? Wird ab sofort nur noch gepinkelt, wenn Madame es erlaubt? Und außerdem, wieso steht denn Harry überhaupt so komisch in der Landschaft rum? Das kommt mir vor, als sei er sich nicht sicher, ob er stehen bleiben darf oder sich doch wieder setzen muss. Sichtbare Ratlosigkeit, nur weil die Frau die Gesetze macht. Aber wenn ich mal ganz ehrlich sein darf, es macht auf mich den Anschein, als habe er gerade in die Hose geschissen. Dumm gelaufen für Elvira. Ein eklatanter Konstruktionsfehler, kann ich da nur sagen.”
Der Etappensieg im Kampf gegen Diskriminierung am Bau scheint mir sicher, da die Herz-Dame dem herzhaften, in ihr aufsteigenden Lachen keinen Einhalt mehr bieten kann. Zu meiner Überraschung legt sie sogar noch einen drauf und gibt sich der Vorstellung hin:
”Vielleicht ist das ja auch gar nicht Harry. es kann ja auch genauso gut sein, dass Elvira hier unter der warmen Dusche steht und es einfach laufen lässt.”
Ich werfe noch einen letzten Blick auf das, was sich da unter die Regenrinne geflüchtet hat, kann mich weder für Harry noch für Elvira entscheiden, bin mir aber 100 % sicher, mit der Herz-Dame an meiner Seite den höchsten Trumpf in der Hand zu haben.
Hier bleibt nur noch Platz für den Dank an @kadna und die
Hinweise auf lesens- und hörenswerte Beiträge:
Wer interessiert am Jazz ist, der findet hier was: #jazzfriday
Soll es was ganz Leckeres für den Magen sein: #w74-rezepte
Kurzgeschichten oder Ausflüge in die deutsche Sprache, dann wird man sicher fündig unter: #ganzwenigtext
Alte Ausgaben des Wochenrückblickes liegen hier: #wochenrueckblick
Mahnende Worte von der Kanzel herab (oder von wo auch immer): #sonntagspredigt
Nicht zu vergessen: BRenNgLAS
Das hört sich doch gut an! Wofür interessante Nachbarn doch alles gut sind ;-) und Regenrinnenmänner mit ihrer Eigenschaft Kreativität zu generieren. Köstlich und danke. Kadna
Herrlich! Ich habe schallend gelacht! 😂😂😂