Das Klassentreffen

in #deutsch4 years ago

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Die Bahn raste dahin, erst zogen die Vororte meiner Wahlheimatstadt an mir vorbei, dann wurde es immergrüner. Ich saß allein für mich in einer Vierersitzgruppe und hatte ein Buch auf dem Schoß. Die Sonne schien durch das breite Fenster, es war warm und gemütlich, trotzdem war ich unruhig und aufgeregt. So was mache ich eigentlich viel zu selten, dachte ich, einfach mal raus aus der Stadt und dem tristen Alltag entfliehen. Aber irgendwie hielt mich immer etwas davon ab, und wenn es nur die Gewohnheit war.
Vor einiger Zeit hatte ich einen ungewöhnlichen Brief aus meinem Briefkasten gefischt. Ich bekam selten Post, wenn, dann nur Amtsschreiben. Aber ein Blick auf den handgeschriebenen Absender brachte Licht ins Dunkel. Marion Gelsendorfer hatte mir diesen Brief geschickt, die Klassensprecherin meiner Abschlussklasse. Es sah ihr ähnlich, dass sie, einmal in dieses Amt erhoben, es sich auf Lebenszeit aneignete. Es war eine Einladung zum ersten Klassentreffen, sieben Jahre nach unserem gemeinsamen Abschluss. Anfangs hatte ich nicht wirklich Lust dazu, aber irgendwann gewann doch die Neugierde. Was wohl aus den ganzen Leuten geworden war? Vielleicht würde ich auch Reiner, meinen alten Jugendfreund, wiedersehen, von dem ich schon so lange nichts mehr gehört hatte.
Marion hatte einfach alles im Griff. Als ich mich bei ihr meldete, um die Einladung zu bestätigen, hatte sie schon Hotelvorschläge und den Nahverkehrsplan parat. Das eigentliche Klassentreffen würde in der alten Turnhalle stattfinden.
Während ich darüber sinnierte, wer wohl alles auftauchen würde, wie es wohl wäre, diesen und jenen wieder zu sehen, wurde die Landschaft wieder vertrauter. Die Gegend, in der ich meine Kindheit und Jugend verbrachte, weckte Erinnerungen an faule Sommertage und ruhige Winterabende. Kurzum, die rosa Nostalgie packte mich mit vollem Körpereinsatz.
Marions Planung erwies sich als absolut makellos, wie immer. Der herausgesuchte Bus brachte mich zum besprochenen Hotel, dort war bereits auf meinen Namen reserviert worden. Ich brachte meinen kleinen Koffer auf das Zimmer und stellte mich gemütlich unter die Dusche. Ein Blick auf meine Uhr verriet mir, dass ich noch etwas Zeit hatte. Also ließ ich mir an der Rezeption ein Taxi kommen, dass mich zum Haus meiner Kindheit fuhr.
Die Nachbarschaft hatte sich kaum verändert, gutbürgerliche Mittelklasse, so weit das Auge reichte. Das ehemalige Haus meiner Eltern stand in einem wohlgepflegten Garten und auf der Terrasse saß nun eine andere Familie, gemütlich bei Kaffee und Kuchen. Ich blinzelte gegen das Licht und betrachtete die Fassade, bis ich bemerkte, dass der Familienvater etwas unruhig wurde. Ich winkte der Familie zu und tat das, weswegen ich eigentlich gekommen war. Ich machte mich auf meinen alten Schulweg. So lange war ich diese Strecke gegangen, schwer beladen mit Prüfungsängsten, schlechtem Gewissen und einer schweren Schultasche. Es war wundervoll, diesen Weg freiwillig und frei von allen Gedanken einfach gehen zu können. Ich träumte vor mich hin, und kam schließlich an meiner alten Schule an.
Da stand sie, alt und noch etwas heruntergekommener, als zu meiner Zeit, der Pausenhof war leer und verlassen. Einen kurzen Moment stand ich mitten auf dem asphaltierten Platz und ließ ihn auf mich wirken, das Echo der großen Pausen hallte durch das Raumzeitgefüge.
Die Tür zur Sporthalle stand weit geöffnet, ich bemerkte die Ballons und das große Schild, auf dem Klasse und Jahrgang prangten. Als ich die Halle betrat, kam mir Musik entgegen, natürlich eine Playliste der Top-Charts unseres Abschlussjahres. Ich musste grinsen und sah mich um. Es waren schon einige Leute da und natürlich Marion, die auf mich zu stürmte.
„Heeeeey, hat alles geklappt? Wie geht es dir?“
„Alles Super, Mari. Irre, was du wieder alles organisiert hast.“
„Klar doch.“ Sie sah sich zufrieden um. „Es sind schon fast alle da, geh doch schon mal hin. Ich muss mich noch um das Essen kümmern.“ Und weg war sie wieder.
Etwas nervös sah ich mich um, es hatten sich Grüppchen gebildet, hier und da erkannte ich ein Gesicht, wir hatten uns alle verändert. Aber Reiner konnte ich nirgendwo erspähen. Als Erstes gesellte ich mich zu der Clique aus der letzten Reihe, die hatten sich wirklich gemacht. Es war erstaunlich, was sich getan hatte, der eine hatte seine Liebe zur Mathematik entdeckt. Der andere war von blöden Bildchen auf den Schulbänken zum Mediengestalter mutiert. Dann war da noch unser Freak, wie wir ihn nannten, der sich damals nur für Computer interessierte. Der hatte sich kaum verändert. Nach einem kurzen Gespräch wusste ich mehr über Servereinstellungen und Netzwerke, als mir lieb war. Allerdings hatte er schon seine erste Firma verkauft und hatte die zweite an die Börse gebracht. Dann entdeckte ich unsere Oberstreberin, aus ihr war eine Hausfrau geworden, ich muss gestehen, das Gespräch war etwas surreal.
Als ich mich gerade mit Jan über seinen neuen Job in einer Kanzlei unterhielt, in der er, laut eigenen Angaben, sehr bald zum Partner aufsteigen würde, drängte sich etwas sehr Buntes in unsere kleine Runde. Sally, unsere Quotenpunkerin, hatte sich kaum verändert. Jan ergriff die Flucht.
„Ich schau schnell mal zu den anderen.“
Da stand ich und wurde erst einmal gemustert. „Na du Spießer? Wie gehts dir?“
„Danke, danke, gut und selbst? Was treibst du so?“
„Weißt du, ich hab mich ja total verändert ...“
„Echt jetzt?“ Sie überhörte die Ironie.
„Ja weißt du, früher war ich ja so voll auf dieser politischen Schiene, dann war ich ne Weile mit PETA am Start.“
„Oh cool, habt ihr Delfine gerettet?“
„Ne mehr so in der Landwirtschaft, weißt du, die meisten wissen gar nicht, was da für ne Scheiße läuft.“
„Ich schätze mal meistens Hühner-, Schweine- und Kuhscheiße, oder?“
„Ja Mann, das ist so übel, wir hatten da voll die Aktionen, einmal sind wir in eine Hühnerzucht eingebrochen und ....“
„Lass das bloß nicht Jan hören, der wittert sonst seinen ersten großen Fall.“
„Ach der Jan, mit dem hab ich schon gesprochen, der ist immer noch so n Chauvi, voll überheblich und so ...“
Unser Gespräch wurde glücklicherweise von Marion unterbrochen, die sich vor dem Buffet aufgebaut hatte und mit einer Gabel an ein Champagnerglas stieß.
„Liebe Klassenkameraden, es freut mich, dass ihr so zahlreich erschienen seid, es fehlen zwar noch ein paar, aber ich glaube, wir fangen einfach an. Für Essen ist gesorgt, wir haben Getränke, lasst uns in Erinnerungen schwelgen! Ich wünsche allen einen tollen Abend!“
Wir applaudierten höflich, und ich nutzte die Gunst der Stunde, um mich von Sally abzusetzen. Ich schnappte mir ein kleine Flasche Cola, einige Häppchen und fand mich auf einmal in einem Gespräch über Fußball wieder. Ein Thema, bei dem ich immer noch nicht mitreden konnte, und das sorgte wie früher für großes Gelächter. Dann stellte ich mich zu einigen Kameradinnen, die ich nur peripher kannte. Deren Gespräch war schon interessanter, sie hatten es in kürzester Zeit geschafft, den Klatsch und Tratsch von sieben Jahren aufzuholen. Sie wussten, wer geschieden war, wer Single war, wer Kinder hatte, was dieser oder jener genau gemacht hatte. Aber das Gespräch erreichte schnell einen sehr klebrigen, unangenehmen Punkt.
Ich wollte noch einmal zu Jan und seiner Entourage schauen, als ich sah, dass Sally sich gerade in einer heftigen Diskussion mit ihnen befand. Ich hörte Wörter wie Männerschweine, Chauvi, voll krank, Frauenrechte und Gleichberechtigung zu mir herüberwehen. Also sah ich mich nach einer alternativen Gesellschaft um, am Buffet stand eine kleine drahtige Figur und belud sich einen Teller.
„Reiner? Wann bist du denn aufgeschlagen?“
„Hey Mann, gerade eben, ich musste ein Stück fahren. Wie gehts dir?“
„Ja, gut, wo hat es dich denn hin verschlagen? Ich hab ja ewig nichts mehr von dir gehört. Wie ist es dir ergangen?“
„Stimmt ja, ich hab immer wieder dran gedacht, mich mal wieder zu melden, hat aber nie geklappt, das hat mir leidgetan. Ich hatte doch ne Lehre als Schweißer angefangen.“
„Ja ich erinnere mich, da hatten wir ja auch noch Kontakt.“
„Dann war ich ne Weile auf Montage, immer wo anders, das war echt ne coole Erfahrung, aber halt sonst Zeit für nix.“
„Oh wow, ja du bei mir ist es der Bürojob geblieben, bist du dann immer noch auf Montage? Komm schon, Alter, lass dir nicht alles aus der Nase ziehen, was ist aus deinem Tauchen geworden?“
„Ne auf Montage geh ich nicht mehr, aber ich war dann ne Weile auf ner Bohrinsel, hab da ne Weiterbildung zum Industrietaucher gemacht, schweißen Unterwasser und so ...“
„Aaaalter, wer hätte das gedacht ... du wolltest eigentlich mal ne Tauchschule aufmachen, erinnerst du dich?“
„Ja, das bringt doch nix, wer braucht n so was.“ Er grinste und ich freute mich, dass mein bester Freund aus diesen Tagen aufgekreuzt war. Wir wollten uns gerade aus dem Trubel zurückziehen, um uns in Ruhe zu unterhalten, als wie aus dem Nichts Sally bei uns stand.
„Ey, dieser Jan ist immer noch so ein Arsch! Wenn alle so wären, wie der, würden Frauen nur hinterm Herd stehen. So ein Affe!“
„Hey Sally, schön dich zu sehen.“
„Ihr seid echt die einzig coolen hier, die sind alle so voll stehengeblieben, wie seht ihr das? Frauen sollten doch alles tun können, was Männer tun.“
Ich war etwas ratlos, aber Reiner schien sich auf die Diskussion einlassen zu wollen.
„Es gibt schon Berufe, bei denen die weibliche Anatomie von Nachteil sein kann.“
„Oh Gott, bist du auch so einer geworden? Was soll das denn sein?“
„Na ja ich mein jetzt nicht die Körperkraft, eher so ... äh ... die Oberweite. Das wär jetzt in meinem Fall schon unpraktisch.“
„Klar! Das sind doch nur Sprüche von euch Typen, lass mich raten, und zufällig ist das n Job mit fett Kohle?“
„Ich kann mich nicht beklagen, das stimmt. Aber ich hab auch noch nicht mitbekommen, dass sich eine Frau beworben hätte.“
„Ja sicher, du Spack! Was soll das denn für n Job sein?“
„Industrietaucher für Kläranlagen ... du kennst es vielleicht als Scheißetaucher.“

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