Das unbekannte Lied

Ich schaute mir gerade ein Jazz-Konzert im Fernsehen an, als mir eine Erinnerung aus der Jugend lebhaft zurück kam. Wir waren noch junge Knaben und stolperten unbeholfen durch alle Peinlichkeiten des Teenager-Daseins. Körbe von der “großen Liebe”, Mutproben, Modesünden, Koordinationsschwierigkeiten der Glieder, Alkohol und natürlich: Drogen. Wir wollten leben und anders sein als der Rest. Zumindest viel cooler.

An diesem Abend gab es ein Isar-Fest. Um ein Lagerfeuer versammelten sich alle, die nicht mehr um spätestens zehn Uhr ins Bett mußten. Die „Erwachsenen“ sozusagen. Da gab es den Schönling mit der Gitarre, die Halbstarken, die Schüchternen, die Unbeholfenen, die Rebellen, die Schläger, die Schlichter aber vor allem; Alkohol, stibitzt von dem Alkoholschrank der Eltern. Herrliche Zeiten.

Wir – das sind drei Freunde und ich – verliessen dieses Hormonchaosgelage und schlichen uns klammheimlich zu Manuels Auto. Er war der älteste und coolste von uns. Er sah gut aus, hatte ein Auto, eine hübsche Freundin, konnte sehr gut Gitarre spielen und war überhaupt einfach cool. Vor allem hatte er heute was zum rauchen dabei. Im Auto ging er dran eine Tüte zu drehen, während der Rest von uns vor Aufregung platzte. Wir waren Outlaws, nicht so spießig und brav wie die anderen da draußen, wir lebten on the wild side! Natürlich überspielten wir die Aufregung mit geübter Gelassenheit. Aber es konnte nicht früh genug losgehen.

Manuel zündete den Joint an und das Aroma kroch in unsere Nasen. Jeder kam an die Reihe und so auch ich. Der erste, noch frische, Zug kribbelte gleich im ganzen Körper und ich spürte den Rausch schon anschleichen. Drei Züge und der Joint ging weiter. Manuel schaltete das Autoradio ein und suchte nach passender Musik. Zwischen dem Kratzen und Fiepen des manuellen Suchlaufes tauchten Töne, Stimmen und Lieder auf. Aber keines befriedigte so richtig. Entweder es war ein blöder Popsong, Volksmusik, Dance oder eine Labertasche. Doch dann erwischte Manuel einen Jazzsender. Und da hörte ich eine unbekannte, elektrisierende Musik. Ein Drummer legte einen fesselnden groove hin, der Bass drehte und wand sich, und das Rhodes-Klavier spielte Harmonien die mir durch Mark und Bein gingen. Diese Töne waren die Musik, die ich immer hören wollte ohne es gewußt zu haben. Das Gerede der anderen verstummte für meine Ohren, die Tüte wurde mir egal, ich wollte nur noch diese Musik hören, diesen Klang einer Welt die ich kenne und trotzdem zum ersten Mal hörte. Hier war etwas das ich verstand und das mich verstand. So klingt es wenn ich die Welt höre. Das ist Zuhause! Mit jeder Faser erlebte ich diese Klänge. Plötzlich drehte Manuel weiter „Das ist mir zu abgefahren, das kann ich mir bekifft nicht anhören.“ Wieder das Kratzen und Fiepen des Suchlaufs. Ich war empört und erschüttert, ich konnte es nicht glauben! Wie kann man so eine Musik nicht hören wollen! Es war als hätte man mich mit Gewalt aus einem Traum gerissen. Das Gerede und der Joint gingen mir jetzt am Allerwertesten vorbei. Die Sounds und die Harmonien klangen noch weiter in mir. Jetzt wollte ich nur noch gehen und diese Sounds suchen. Damals gab es aber kein Internet. Und obwohl ich gesucht habe; das Lied konnte ich nie wieder finden.

Oft wenn ich heute spiele denke ich an das Erlebnis von damals. Dieses Erwachen prägte mich zutiefst und gehört zu den magischen Momenten meines Lebens. Ob ich jemals ein Lied schreiben werde, das diesem Gefühl nahekommt, oder einen anderen Menschen so berührt weiß ich nicht. Aber wer immer sie waren, wer immer das Lied geschrieben hat; danke für diesen Moment.

Als Ersatz poste ich ein paar Lieder hier unten. Das sind Lieder, die mir unheimlich gut gefallen. Vielleicht findet ihr etwas an ihnen.

Neil Cowley Trio - A Degree in Intuition