Geschichten aus dem Taxi - Einmal Wahnsinn für 500 Euro bitte

in #deutsch6 years ago (edited)

Taxifahrer können Bücher schreiben. Nicht wegen einer versteckten Kompetenz im Schreiben, sondern eher aufgrund der Erlebnisse. Daher möchte ich heute eine meiner erlebten Geschichten als Taxifahrer in Hamburg mit euch teilen. 

01:40 Uhr

Es ist seit knapp anderthalb Stunden Mittwoch, es regnet und ich muss dringend auf die Toilette. Das muss ich mir aber noch kurz verkneifen, ich stehe in der Reihe am Hauptbahnhof in Hamburg an zweiter Stelle. Ich will eh nur noch diese eine Fahrt machen, dann ist es Zeit für den Feierabend. Hinter mir betteln bereits wieder etliche Taxen nach Umsatz, vor mir jedoch nur noch einer. Ich bin also gleich dran. Nur noch kurz durchhalten, den nächsten Fahrgast noch und dann schnell nach Hause auf den Pott, denke ich mir. Vor mir steigt eine Frau ein, das Taxi fährt los und ich rücke an die Pole Position der Schlange. 

01:45 Uhr 

Ein Mann reißt die Tür auf, steigt ein, würdigt mich keines Blickes und spricht nur ein Wort: "Letmathe". Er guckt zielgerichtet nach vorne und wartet auf das Aufheulen des Motors. In meinem Gesicht spiegelt sich ein großes Fragezeichen und ich frage ihn, was diese Aussage bedeuten soll. Ist es ein Lokal, eine Diskothek oder ein Club? Mir sagt das nichts. "LETMATHE" ist und bleibt seine Antwort. Trotz lauterer und deutlicherer Aussprache ändert das eigentlich an meiner Frage nichts, den Fahrgast scheint das aber in keiner Weise zu beeindrucken.
Nach etlichen Sekunden folgt die Befreiung der Stille und er schafft es einen vollständigen Satz zu formen, wenn auch mit einem weiteren Rätsel: "Letmathe bei Hagen, sollte man kennen als dortmunder Taxifahrer!" Auf mein Stottern aufgrund der Verwirrung seiner Aussage, warum dortmunder Taxifahrer, wie seien doch in Hamburg, werde ich erstmalig angeschaut. Auch wenn der Blick durch noch größere Verwirrtheit nicht unbedingt hilfreich ist.
"Wo sind wir?" ist seine Frage, auf die ich ihm antworte, dass dies der hamburger Hauptbahnhof sei. Ein verzweifeltes Stöhnen und die Hand wandert resigniert zur Stirn.
"Okay, was kostet das nach Letmathe? Das ist ein Ort bei Hagen, Dortmund. *Straße und *Hausnummer."
Ich schmeiße das Navi an, tippe die genaue Adresse ein, die Strecke wird berechnet, 358km, ich überschlage den Preis kurz im Kopf und nenne ihm die Kosten in Höhe von 500 Euro. Wortlos zückt er eine Kreditkarte mit der Frage, ob die Zahlung damit gehe. Bestätigend nehme ich die Kreditkarte, ziehe sie mit dem Betrag von 500 Euro durch das Kartenlesegerät und gebe sie ihm zurück. Immer noch schweigend wandert die Kreditkarte in seine Jacke, er unterschreibt. "Kann ich dann schlafen und sie sagen mir bescheid, sobald wir da sind?" Ich bejahe seine Antwort und fahre los, während er die Augen schließt und zur Seite sackt. Er schläft.

01:50 Uhr

Ich schaue auf das Navi und sehe, wie aus 358 km bis zum Ziel, 357 km werden und erst jetzt fällt mir wieder ein, wie dringend ich auf Toilette muss. Egal, da muss ich nun durch denke ich mir, trete aufs Gas und beflügelt von den 500 Euro flitze ich gen Autobahn. Das Geld scheint mich auch wieder aus der Müdigkeit gerissen zu haben.

02:20 Uhr

Nein, das Geld hat mich nicht aus der Müdigkeit gerissen. Recht schnell erlange ich diese Erkenntnis. Es regnet mittlerweile sehr stark, die Autobahn ist leer und ein Blick aufs Navi lässt mich verzweifeln. Die Kilometer scheinen nicht weniger zu werden, obwohl ich mit 210 km/h über die Bahn fetze. Die Abstände beim Gähnen werden kürzer, ich stelle die Klimaanlage einen Grad runter, in der Hoffnung, dass ich bei Kälte nicht einschlafe.

03:00 Uhr

Was war das? Warum bin ich auf der linken Spur? War ich eben nicht auf der mittleren? Noch immer ist die Autobahn abgesehen von sehr wenigen Fahrzeugen im Grunde leer gefegt. Der Regen hat nicht abgenommen, meine Konzentration aber anscheinend erheblich. Ich bekomme Angst, habe ich geschlafen und es nicht mal mitbekommen? Die Angst steigt in mir weiter auf und verdrängt zumindest den Drang, dem ich nach wie vor nicht nachgeben konnte. Wohin auch, in die Hose? Ich drossel die Geschwindigkeit auf 160 km/h und fahre weiter.

03:30 Uhr

Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr. Ich halte an, stoße ihn raus, pinkel an den Fahrbahnrand und schlafe. Das ist mein Plan. Klingt nicht vernünftig, selbst in dem Moment. Ich muss nach Letmathe, was auch immer das sein mag. Immerhin hat der Schlafende bereits bezahlt. Nein, ich fahre weiter. Ich öffne das Fenster, eiskalte Luft wirbelt ins Auto gemischt mit Wasser vom immer noch anhaltenden Regen. Es prasselt mir ins Gesicht. Ich halte mich wach, sehe aber kaum die Fahrbahnmarkierung. Ich will unbedingt eine Rauchen, das würde mich bestimmt wach halten. Nein, das kann ich nicht machen, vielleicht ist der Fahrgast Nichtraucher, das gehört sich nicht. 

0X:XX Uhr

Ich habe kaum eine Erinnerung daran, aber ich bin da. Ich wecke den Mann, er schaut mich entgeistert an und wirft einen Blick aus dem Fenster. Mit einer trockenen Begeisterung für den Standort steigt er aus dem Auto, verabschiedet sich und wünscht mir eine gute Heimfahrt. 

Ich fahre 20 Meter und errichte in seiner Nachbarschaft einen neuen See. Gefühlte 10 Kilo leichter setze ich mich ins Auto, gebe ins Navi mein Zuhause ein und halte nochmal an der nächsten Tankstelle. Volltanken, zwei Schinken-Käse Croissants und ein Getränk kaufe ich dort. Auf zur Autobahn und schon kommt lieblicher Qualm aus meiner Zigarette. Eine Wohltat, ich fühle mich wieder wacher und bin auf dem Heimweg. Welch ein Irrtum stelle ich nach paar Minuten fest und sehe einen Parkplatz in 500m. Bremsen und rauf da. Es ist immer noch stockfinster und der Parkplatz komplett leer. Ich stelle mich ganz nach vorne, kurz vor den Beschleunigungsstreifen, schließe von innen ab, stelle den Sitz zurück und wache plötzlich wieder auf.-

11:00 Uhr

Es ist Tag, die Autobahn neben mir ist laut und voll, hinter mir Reihen von LKW. Das Tageslicht blendet mich, ich bin völlig desorientiert. Langsam komme ich zu mir, begreife wo und wie ich bin. Ich starte das Auto, das Navi kalkuliert den Weg, ich beschleunige und bin erneut am Fahren. Diesmal aber erholt und die Taschen voller Geld. Zufrieden und froh, noch am Leben zu sein, rauche ich eine Zigarette und setze zum Überholen an.

Heute

Noch immer bin ich erschrocken über das Risiko, welches ich für ein bisschen Geld bereit war auf mich und den Fahrgast zu nehmen. Ich kann euch nur empfehlen, solch eine lange Fahrt zu so einer Zeit wohl zu überlegen. Man denkt vermutlich nicht daran, aber der Fahrer ist ein Mensch, der unbedingt Geld braucht, explizit auch in dieser Branche. Er wird Risiken eingehen, nur des Geldes wegen. In meiner Laufbahn als Taxifahrer bin ich Kollegen begegnet, die mehr als 24 Stunden am Stück auf der Straße unterwegs waren. 

Es verblieben aber auch viele Fragen. Warum dachte der Fahrgast, er sei in Dortmund? Wie kann sowas passieren? Wie ist er nach Hamburg gekommen? Leider werde ich auf diese Fragen wohl nie eine Antwort erhalten. 

Es soll ja krasse Zufälle geben. Also wenn du das liest und deine Geschichte erkennst, bitte beantworte mir die Fragen, die Neugier ist unverändert seit dem Tag. 

Wer noch mehr über Hintergründe der Branche erfahren möchte, dem empfehle ich meinen Bericht über den Werdegang zum Taxiunternehmer:
https://steemit.com/deutsch/@sabih/auf-in-den-ruin-wie-man-taxiunternehmer-wird

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Ich hab echt mitgefiebert.
Möglicherweise hätte ich den Passagier zu einer gemeinsamen Pinkelpause animiert. Nee, klingt doch blöd.
Ehrlichen Respekt für diese Leistung, diese Fahrt durchzuziehen.

Danke für deinen Kommentar. Ich habe darüber auch nachgedacht, habe mich aber nicht getraut ihn zu wecken. Dennoch wäre es natürlich eine Option gewesen bei so einer langen Fahrt. Vielleicht war ich auch zu jung.

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