Politik 090 - Neue Einschätzungen von Prof. Werner Patzelt 2/2

saamychristen (67)in #deutsch • 6 years ago

15. August 2018

Zunächst das Video des Gesprächs [3] mit Prof. Werner Patzelt [1]

Abschnitt (6:21-16:35)

(6:21) - Matthias Wagner

Man glaubt ja auch zur Zeit, dass sich gerade die EU fast ein wenig selbst auflöst. Das sind nicht die Auswirkungen des Brexit, sondern da sind die vielen eigenen Meinungen der Mitgliedsstaaten, die sich auch diese Asylpolitik der Deutschen nicht überstülpen lassen wollen. Wird es denn dort irgendeine Lösung geben? Selbst die Franzosen gehen jetzt einen eigenen Weg und die Spanier sind wohl nicht die verlässlichsten Partner.

(6:49) - Prof. Werner Patzelt
Die Zerrkräfte, die derzeit auf der Europäischen Union lagern, sind mit die übelste Begleiterscheinung der fehlerhaften Migrationspolitik der Jahre 2014 und 2015. Die Hoffnung, ausgesprochen sogar, war, dass am Deutschen Wesen Europa genesen wird. Alle sollen sich gefälligst an Deutschland ein Beispiel nehmen und Flüchtlinge aufnehmen. Eine Garantie, dass man den Flüchtlingszustrom begrenzen könnte, könne man nicht geben, weil das nicht ginge (ein argumentativer Zirkelschluss mit sehr geringem Radius - Anm.).

Infolgedessen haben sich osteuropäische Staaten gesperrt. Die skandinavischen Staaten haben sich abgeschottet. Die Briten verlassen die europäische Gemeinschaft. Derweil zeigen die Italiener, dass man sehr wohl die Zuwanderung stoppen kann, indem man sich einfach weigert, Zuwanderer aufzunehmen. Derweil zeigen die Spanier, dass man die Fehler der Deutschen durchaus nachahmt, um am Ende den gleichen Katzenjammer zu haben. Die Franzosen zeigen derweil diplomatisch geschickt, wie sie sind, dass man zwar auf dem Papier für Europa und Offenheit sein kann, aber dann faktisch ganze Bus- und Zugladungen von in Spanien angelandeten an den Grenzen postwendend wieder nach Spanien zurückschicken lässt.

Kurzum, Europa fängt an zu zerfallen, aufgrund einer Migrationspolitik, die so tat, als würde sie keine realen Probleme auslösen und als könne Deutschland einfach diktieren, was die anderen europäischen Staaten als vernünftige Politik schlicht und ergreifend zu akzeptieren hätten.

(8:18) - Matthias Wagner

All diese kleinen Bausteine müssten doch eigentlich dazu führen, dass gerade die Macht einer Angela Merkel irgendwann sichtbar bröckelt. Wird sie das wieder aussitzen? Ist das einfach so zu machen?

(8:29) - Prof. Werner Patzelt
Die Macht der Kanzlerin hat schon ganz offenkundig zu bröckeln angefangen. Ihre Popularitätswerte sind drastisch abgesunken. In der letzten Popularitätsskala der Forschungsgruppe Wahlen rangierte sie bei allen Deutschen nur noch auf dem dritten Platz, was vor vier oder sogar drei Jahren noch ganz undenkbar gewesen wäre. In der CDU musste sich sogar eine Union der Mitte als Unterstützerverein der Kanzlerin aufstellen, um die Kanzlerin gegen die (konservativere) Werteunion sozusagen in Schutz zu nehmen.

Die SPD verweist immer öfter darauf, dass die deutschen Probleme doch ganz wesentlich von der CDU-Parteivorsitzenden verursacht worden wären und keiner im Lande geht im Grunde doch davon aus, dass diese Koalition bis an ihr vorgesehenes Ende tatsächlich zusammenhalten wird. Sondern jeder erwartet, dass die SPD, sobald sie Kassensturz macht - wie vereinbart in der Mitte der Wahlperiode - zum Ergebnis kommen wird, lieber ein Ende mit Schrecken zu wollen, als einen Schrecken ohne Ende. Ein solcher Ausstieg der SPD aus der Koalition würde unweigerlich das Ende der Kanzlerschaft Angela Merkels nach sich ziehen.

Anmerkung: Allerdings wäre das auch gleichbedeutend mit dem Ausscheiden der SPD aus Bundesregierungen in naher Zukunft. Eine Regierung selbst anführen wird sie mangels Wählerzuspruchs nicht mehr können, es gibt auch deutlich keine Mehrheit für SPD, Grüne und Linke. Das sollte man bei den Sozialdemokraten längst verstanden haben, auch wenn man noch immer den nominierten Spitzenkandidat Kanzlerkandidaten nennt.

(9:39) - Matthias Wagner

Aber gerade auch diese skandalösen Vorfälle, die aufgeklärt worden sind beim BAMF (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) und die von oben beeinflusst worden sind, müssen die Sache irgendwo ein wenig beschleunigen, nicht? Wir haben volle Fahrt aufgenommen in eine sehr ungewisse und auch sehr unschöne Zukunft. Kann man diesen Zug nicht irgendwie abbremsen?

(9:56) - Prof. Werner Patzelt
Man kann den Zug abbremsen. Die Italiener führen derzeit vor, wie der Zug auf die drastische und im Einzelfall sehr ungerechte Weise zu bremsen ist. Die Spanier werden binnen eines Jahres ganz gewiss die Probleme, die sie sich bis dahin aufgehalst haben werden, dadurch zu verkleinern versuchen, dass sie dem italienischen Beispiel folgen. Es ist schon so, dass man gegen Migration, die unerwünscht ist, eine ganze Menge machen könnte. Aber bislang fehlte der politische Wille. Dieser fehlte deswegen, weil die Kanzlerin, die Grünen und die Sozialdemokraten nicht eingestehen wollten, dass sie 2015 einen Fehler machten, indem sie so taten, als könne die einmalige Aktion - in Ungarn gestrandete nach Deutschland zu holen - sozusagen eine neue Grundrichtung deutscher Migrationspolitik sein.

Obendrein erweist es sich im Rückblick, dass die Kanzlerin sehr gut darin ist, auf den Wogen der öffentlichen Meinung zu surfen. Erst wenn diese sich noch mehr ändert, als sie sich bislang schon geändert hat, wird das die Handlungen der Kanzlerin stärker beeinflussen. Darüber hinaus rufen jetzt viele Beteiligte: 'Haltet den Dieb!' Und: 'Im Innenministerium sitzt ein CSU-Politiker, wahrscheinlich ist der Schuld an alledem, was in der Vergangenheit schief gelaufen ist.'

(11:11) - Matthias Wagner

Da kann ich aber trotzdem die Haltung der Grünen nicht verstehen. Die haben ja vehement für die Rechte der Frauen in Deutschland gekämpft. Diese lassen es jetzt wieder zu, dass es wieder Ehen mit mehreren Frauen gibt (Vielehen, Polygamie - Anm.) und dass Kinderehen erlaubt werden. All das sind Dinge, die man in Deutschland überhaupt nicht sehen wollte, nicht?

(11:29) - Prof. Werner Patzelt
Das ist so und gehört zu den Inkonsistenzen politischen Handelns und Denkens. Im Hintergrund steht sozusagen der 'Liberalismus', der bis zu seinem Ende durchdekliniert ist. Das einzige, was zählt ist das Individuum und sein Anspruch auf Selbstverwirklichung. Frauen haben das Recht, sich selbst zu verwirklichen. Wenn aber muslimische Männer für ihre Selbstverwirklichung viele Frauen brauchen, dann haben die auch das Recht. Solange es nicht deutsche Männer sind geht es ja. Un dann kommt eine Art kulturalistischer Rassismus ins Spiel. Das, was deutschen Männern abzuverlangen ist, nämlich sich mit einer Frau zu begnügen, sie auch gut zu behandeln und voller Respekt mit ihr umzugehen, das sei muslimischen Männern im Grunde nicht zuzumuten. Weil sie sich von ihrer Tradition her anderes gewohnt seien. Und, wie könne man einem Menschen, der gerade in Deutschland Freiheit und Selbstbestimmung sucht, daran hindern, diese in Auslebung seiner bisherigen Kultur hier zu finden? Das ist nun freilich etwas sehr zugespitzt, ironisiert und nicht ohne Sarkasmus gesagt, aber solche Widersprüche im politischen Positionsbeziehen kommen eben vor. An dieser Stelle eben besonders deutlich bei den Grünen.

Anmerkung: Individuelle Selbstverwirklichung kann, wenn andere Menschen beteiligt sind, nur auf Basis freiwilliger Kooperation rechtens sein. Insbesondere auch die Idee, dass ein Ehepartner der Besitz des anderen sein soll, kann nicht rechtens sein in einem individualistisch System, das allen Menschen die gleichen Rechte zugestehen will. Treffend gesagt ist das eine Form der Sklaverei und die ist ebenso verboten.

(12:38) - Matthias Wagner

Was glauben Sie, wie lange werden das unser Sozialsystem und unsere Rentenkassen durchhalten bis alles zusammenkracht?

(12:43) - Prof. Werner Patzelt
Nachdem wir (noch - Anm.) ein reiches Land sind und viel Fett angesetzt haben und nachdem wir über Steueraufkommen über lange Zeit die maroden Rentenkassen finanzieren können, kann es schon noch 10 bis 15 Jahre dauern bis die Mehrheit begreift:

Dass die sichere Zukunft der deutschen Rentner, der jetzigen weniger als der kommenden, aufs Spiel gesetzt worden ist.
Dass der deutsche Sozialstaat übernutzt worden ist.
Dass am Ende von jahrzehntelanger Aufbauarbeit im Grunde ein abgeweidetes und sich selbst aufgegeben habendes Land steht.

(13:15) - Matthias Wagner

Letzte Frage: Die Flüchtlinge oder Umsiedler, wie ich sie mal nennen würde, nehmen einen langen und gefahrvollen Weg auf sich, um etwa aus Syrien hierher zu kommen. Warum nehmen denn zum Bespiel Länder wie Saudi-Arabien keine Flüchtlinge auf? Das ist ein ganz kurzer Weg und es sind (zum grossen Teil - Anm.) Glaubensbrüder. Müsste da nicht das Gebot der Nächstenliebe gelebt und Flüchtlinge aufgenommen werden? Aber die weigern sich strikte dagegen.

(13:36) - Prof. Werner Patzelt
Es wäre schon naheliegend, dass nicht nur die Länder Jordanien, Libanon und die Türkei, die sehr viel Gutes leisten, aus Syrien Geflüchtete aufnehmen und im eigenen Land beherbergen. Immerhin können Staaten wie Saudi-Arabien im Geld schwimmen und hätten überhaupt keinerlei Beeinträchtigungen ihrer Wohlfahrt, wenn sie mehr Geld für muslimische Geflüchtete ausgäben. Es können Staaten wie Katar für eine Fussball Weltmeisterschaft voll-klimatisierte Stadien für Zehntausende von Menschen schaffen. Auch dort könnte man sich mehr für Geflüchtete engagieren.

Aber die vorherrschende Wahrnehmung ist die, dass die westlichen Staaten und der Kolonialismus an den ganzen Problemen Schuld sei. Dazu Israel, das sozusagen als eine Gründung westlicher Staaten der arabischen Welt ins Fleisch eingepflanzt wurde, an den Problemen auch Schuld sei. Infolgedessen möchten sich die Schuldigen an diesen Zuständen auch um die finanziellen Folgen kümmern. Das ist eine Haltung, die historisch nicht gerecht und aktuell bezogen menschenverachtend und auf alle Fälle verantwortungslos ist.

Anmerkung: Die letzten grösseren willkürlichen Grenzziehungen im Nahen Osten fanden zum einen in der Folge des Ersten Weltkriegs statt, durch das Sykes-Picot-Abkommen zwischen dem Vereinigten Königreich und Frankreich [9]. Deutschland war zuvor als Verbündeter des Osmanischen Reiches unterlegene Kriegspartei gegen diese beiden Mächte und hatte zumindest gemäss meinem Wissen keinen Einfluss auf diese willkürliche Grenzziehung. Grenzebn wurden nicht selten so gezogen, dass in der Folge Konfliktpotential erhalten bleibt.

(14:46) - Matthias Wagner

Kann die junge Generation noch sorglos in die Zukunft blicken? In Deutschland, was glauben Sie, wer jetzt 3-5 Jahre alt ist, was wird ihn oder sie eines Tages erwarten?

(14:55) - Prof. Werner Patzelt
Diese Fragen sind immer schwer zu beantworten. Schauen Sie, wenn man in den Jahren 1945-47 gefragt hätte, ob die junge Generation unbesorgt in die Zukunft blicken kann, hätte die Prognose 'Nein' sein müssen. Deutschland war ein moralischer und physischer Trümmerhaufen. Dann kam das Wirtschaftswunder und bescherte jenen, die in den späten 1940ern und frühen 1950er Jahren geboren sind ganz wunderbare Lebensläufe.

Das bedeutet, dass wir es nicht wissen können, wie es weiter geht. Eine Garantie, dass alles immer besser und schöner wird, lässt sich nicht geben. Und man kann nicht einmal mehr garantieren, dass die Gesellschaft, so wie sie jetzt stabil und zusammenhängend da ist, überhaupt noch in dieser Weise funktionieren wird. Folglich kann man auch keinen stabilen Sozialstaat in Aussicht stellen. Das wird erhebliche Gefährdungen der demokratischen Legitimität und Stabilität nach sich ziehen. Der derzeit aufkommende Populismus quer über Europa ist lediglich jene Schwalbe, die einen ganz gewittergeprägten Sommer herbeiführen wird.

(15:53) - Matthias Wagner

Mit dieser Aussage haben Sie mir quasi ein wenig unser Sommergespräch verhagelt. Denn man will natürlich schöne Aussichten haben, wenn es die Zukunft betrifft. Aber es ist nun mal so. Liebe Zuschauerinnen, liebe Zuschauer, das war das Sommergespräch mit Professor Patzelt von der TU Dresden. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Rest des Sommers und hoffe, dass die Prognosen, die Sie aus rein wissenschaftlicher Sicht gegeben haben, nicht eintreffen oder sehr spät. Wir werden sehen.

(16:18) - Prof. Werner Patzelt
Ich würde mich am meisten darüber freuen, wenn ich Unrecht hätte.

(16:22) - Matthias Wagner