Persönlichkeitsentwicklung 037 - Die Faszination des Grossen Wurfs

in #deutsch6 years ago (edited)

20. Dezember 2018

Gestern veröffentlichte das deutsche Nachrichtenmagazin Der Spiegel [1] einen Bericht über eine besondere Situation [2]. Es war nämlich so, dass einer der jüngeren, hoch gehandelten Journalisten, der seit einiger Zeit für den Spiegel schrieb, wesentliche Teile seiner Artikel frei erfunden und falsche Tatsachen verbreitet hatte. Es handelt sich dabei um Claas Relotius (geboren 1985) [3], der trotz seines jungen Alters schon viele Preise für Journalisten entgegennehmen durfte. Die Liste der Publikationen, in denen Relotius als freiberuflicher Journalist Inhalte veröffentlichen durfte, bevor er 2017 beim Spiegel fest angestellt wurde, umfasst 10 der renommiertesten Adressen im deutschsprachigen Raum [3]. Ein echter junger Star also, dem sozusagen der rote Teppich ausgerollt wurde, der dieses Vertrauen im Rückblick gesehen nicht verdiente.

Ich selbst kann mich nicht erinnern, jemals einen seiner Texte gelesen zu haben, aber ich habe Auszüge zu Gesicht bekommen, die mir zeigten, dass es kein Wunder ist, warum das so ist. Es waren Auszüge, die den politisch-moralischen Zeitgeist in Deutschland wohl sehr gut abbildeten und damit eine pseudoreligiöse Fangemeinde bestens zufriedengestellt haben.

Bis auf weiteres dürfte Relotius' zuvor hervorragend verlaufene Karriere allerdings ruiniert sein. Im Alter von 33 Jahren hat man in Deutschland realistisch gesprochen noch 35+ Jahre Berufstätigkeit vor sich. Es gibt so wenigstens noch Zeit für eine Umorientierung. Meine Sorge soll der Verlauf von Herrn Relotius' Leben allerdings nicht sein. Es werden sich sicherlich andere Journalisten um ihren unehrlichen Konkurrenten kümmern, der ihnen schon vor der Sonne stand und sich im Kampf um den Platz an der Sonne unehrlicher Methoden bediente. Um den beschädigten Ruf der Journalisten etwas zu verbessern, wird eine Distanzierung nötig sein und der Täter eine für Jahre sättigende Portion Abneigung serviert bekommen. Man kann sich dazu beispielsweise bei Twitter unter dem Thema #relotius [4] umschauen.

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Bei schlechter Sicht herrsch automatisch wenig Klarheit. Die Orientierung wird zur Herausforderung. Die Fähigkeit, sich in widrigen Verhältnissen zurechtzufinden und Klarheit zu schaffen, muss erarbeitet werden. Eigene Aufnahme.

Da der Artikel in der Rubrik Persönlichkeitsentwicklung eingestellt ist, soll es aber noch um etwas anderes gehen. Nämlich darum, wie man in diese Lage kommt. Die Faszination des kurzfristigen Erfolgs, eines möglichen grossen Wurfs, der Gelegenheit, für eine Sensation zu sorgen oder ganz einfach an Macht zu gewinnen oder aufzusteigen, ist riesengross. Und diese Faszination vermag es, Menschen gänzlich zu korrumpieren. Sie ist gefährlich und wird, wenn entlarvt - hoffentlich kommt es dazu - den Menschen auch zum Verhängnis. Der Ruhm, der bei Nicht-Entlarvung erreicht werden kann, ist oft eine zu grosse Versuchung. Dies obwohl es keine neue Erkenntnis darstellt, dass sich ein hervorragender Ruf nur über jahrelang gerechtfertigtes Vertrauen aufbauen lässt, nicht über Nacht durch eine Sensation. Dessen Zerstörung hingegen kann viel rascher herbeigeführt werden.

Ebenso klar sollte sein, dass jede Entfernung von der oft unspektakulären, spasslosen und grau wirkenden Realität und Wahrheit ein Stein im Lügengebäude eines Menschen ist. Aus diesem Grund sollte eine ehrliche Strohhütte auch mehr Geltung und Würdigung erfahren als ein Lügenpalast. Jede Sensation, die mir voreilig aufgebauscht oder zu gut um wahr zu sein erscheint, mahnt mich zu Vorsicht und Nüchternheit. Natürlich sollen junge Journalisten wie der genannte und Nachwuchskräfte jeglicher Profession ihren Platz bekommen und für erstklassige Leistungen gelobt werden, aber einen Überschwang sollte man auch angesichts der Möglichkeit eines tiefen Falles eher vermeiden.

Ich sehe ein Hauptproblem auch darin, dass viele Menschen für den Erfolg nahezu alles zu tun bereit sind, auch sich selbst zu verraten. Weil solide, aber "nur" gut gemachte Ergebnisse, die nicht spektakulär sind, kaum honoriert werden. Wenn jemand Forschung betreibt, wird er an Resultaten gemessen. Aber an welchen Resultaten? Es lassen sich nur positive Erkenntnisse publizieren. Dinge, von denen man herausgefunden hat, dass sie nicht funktionieren, lassen sich nicht publizieren. Aber auch die negativen Resultate, sofern sie nicht durch einen Mangel an Sorgfalt, Fleiss und Tugendhaftigkeit entstehen, sind wertvolle Erkenntnisse. Alles, was gesichert nicht geht, braucht nicht noch einmal versucht werden. Aus dieser Sicht ist Erfolg heute ein ziemlich einseitig belegter Begriff. Man ist dazu auch verpflichtet, obwohl es für viele Aktivitäten keineswegs eine Erfolgsgarantie gibt.

Darüber hinaus sind Erfolg und damit verbundene strahlende Gesichter sind heute nahezu omnipräsent. Es werden sogenannte Stars makellos präsentiert und als beruflich erfolgreiche und menschlich-moralisch erstklassige Wesen dargestellt. Stars sind oft nicht nur in ihrem Bereich aktiv, sondern setzen sich darüber hinaus für politische Ziele ein, meist solche, die der Zeitgeist gerade für angesagt hält. Wenn Firmen Image-Videos drehen, wird meist alles in perfekter Ordnung präsentiert und es zeigt sich ein Bild, welches in der Realität kaum aufrecht erhalten werden kann, es sei denn man tut in der Firma nichts ausser den Arbeitsplatz zu reinigen.

Die Fantasie von Perfektion wird also gezeigt, obwohl es diese real nicht gibt und das Leben naturgemäss mit einer ganzen Menge Leiden und Tragödien verbunden ist. Eine positive Einstellung und viel Tatendrang, Umtriebigkeit und Ehrgeiz kann man sich erarbeiten und auch aufrecht erhalten, sie verhindert aber nicht, dass mit der Tragik von Krankheiten, Misserfolgen, Niederlagen und der Sterblichkeit umzugehen hat.

Tragik zeigt sich auch im Leben vieler Stars, die immer wieder wenig ruhmreichen Geschichten für Aufsehen sorgen. Missbrauch von stimulierenden Genussmitteln und Drogen, ausschweifende Beziehungsgeschichten, peinliche einzelne Auftritte und ähnliches stehen bei vielen im Lebenslauf. Es gibt auch viele, die sich nicht eines langen Lebens erfreuen konnten. Betrachte ich beispielsweise die Popmusik, zu der ich auch Hip-Hop zähle, geht es eher in die Richtung einer Anti-Perfektion. Ich sehe dort überwältigend viele Gestalten, deren Musik, Erscheinung und Handlungen abstossend auf mich wirken. Ich sehr oft noch junge, kriegsbemalte Wracks, die nicht selten sehr früh sterben und von denen ich nicht wüsste, was sie mich an Positivem lehren könnten.

Für mich ergibt sich da eine schlechte, sehr begrenzte Auswahl an Perfektion und deren Kontrapunkt. Kaum dargestellt werden gute Vorbilder für den ganz normalen Menschen mit seinen täglichen Kämpfen um seine Existenz, um sein Leben als Erwachsener in der Gesellschaft, den sinnvollen Umgang mit unvermeidlichen Niederlagen, aber auch mit den Erfolgen.

Vor dem Hintergrund, dass nicht nur Sonnenschein und Privilegien, sondern auch Tragödien jedes menschliche Leben prägen, halte ich ein nahezu wahnhaftes Verlangen nach Perfektion für nicht zielführend. Dasselbe gilt auch dafür, dass ich es für ausgesprochen verkehrt halte, dass sich viele Menschen lieber von geschönten Lebensläufen in die Irre führen lassen, als dass sie jemandem eine Chance geben, der ehrlich mit seinen schlechten Tagen umgeht und keine Mühe bekundet, eigenes Scheitern und beschrittene Irrwege zuzugeben. Es ist klar, dass jemand, der grossen Schaden angerichtet hat, dafür auch büssen muss, aber wenn er sich gebessert hat, hat auch dieser Mensch wieder Chancen verdient.

Es ist eine Tatsache, dass es Menschen gibt, die in einzelnen Bereichen überwältigendes Talent geschenkt bekommen haben, solche es sogar in mehreren Bereichen erhalten haben und weitere, wohl die Mehrheit, die sich eher im Durchschnitt bewegt. Aber auch wenn es Supertalente gibt, ist noch kein Meister auf die Erde gefallen. Alle Menschen müssen praktische Erfahrungen machen und üben, um ihr Talent bestmöglich und mit einer gewissen Konstanz zur Anwendung bringen zu können. Konstanz und Ausdauer sind zwei ganz zentrale Bereiche im Leben, denen man viel Aufmerksamkeit schenken soll. Mittels erarbeiteter Kompetenz überdurchschnittliche Ergebnisse in nahezu jeder Situation erzielen zu können, ist viel besser, als mit einer Alles-oder-Nichts-Haltung einzelne, vielleicht grössere Erfolge zu erzielen. Ein grosses Talent in einem bestimmten Bereich alleine reicht also für das Meistern der Herausforderungen des Lebens nicht aus. Auch dann noch nicht, wenn man herausgefunden hat, wie man mit der Nutzung des Talents Geld verdienen kann.


[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Spiegel
[2] Manipulation durch Reporter SPIEGEL legt Betrugsfall im eigenen Haus offen. Der Spiegel, 19. Dezember 2018, von Ulrich Fichtner http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/fall-claas-relotius-spiegel-legt-betrug-im-eigenen-haus-offen-a-1244579.html
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Claas_Relotius
[4] #relotius bei Twitter: https://twitter.com/hashtag/relotius?src=hash


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