Persönlichkeiten 013 - Wassili Mitrochin

in #deutsch6 years ago (edited)

30. April 2018

Mit Wassili Nikititsch Mitrochin (russisch Василий Никитич Митрохин, 3. März 1922 - 23. Januar 2004), will ich jemanden vorstellen, der mit vielen geheimen Unterlagen die Sowjetunion verliess und diese dem Westen, in diesem Falle dem Vereinigten Königreich, zur Verfügung stellte. Am 07. November 1992 setzte sich Mitrokhin mithilfe des Britischen Geheimdienstes Secret Intelligence Service (SIS) [2] - besser bekannt als Military Intelligence, Section 6 (MI6) - ins Vereinigte Königreich ab. Zuvor hatte er in der Britischen Botschaft der lettischen Hauptstadt Riga ein sehr umfangreiches Archiv abgegeben. Es beinhaltete unter anderem die Namen hunderter sogenannter Illegaler. Unter Illegalen versteht man eingeschleuste Agenten, die von der Sowjetunion oder einem verbündeten Land in anderen Ländern platziert wurden und neben ihrer dort wahrgenommenen Tätigkeit für einen Geheimdienst des Ostblocks arbeiteten.

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Porträt von Wassili Mitrochin. Es erschien in einem Artikel in der englischen Zeitung Guardian aus dem Jahr 2014 und stammt aus dem Familienarchiv der Mitrochins [31].

Das Archiv von Mitrochin wurde umfangreich untersucht. Natürlich einerseits auf geheimdienstliche Weise, andererseits auch auf geheimdiensthistorische Weise. Letzteres findet unter Ägide des britischen Historikers und Professors Christopher Andrew (geboren 1941) [3] statt und kann von der Öffentlichkeit in einer Reihe von Büchern gelesen werden, von denen zwei in deutscher Sprache erschienen sind. Die Bücher sind gemäss meinen Einschätzungen und Eindrücken aus ein paar Stunden quer lesen ein grosser Fundus von historisch essentiellen Informationen. Es gibt allerdings eine Einschränkung. Denn, das Archiv ist zwar im Churchill Archives Centre [4] grundsätzlich offen zugänglich, allerdings nicht alles und wie bei Archiven von hoher Brisanz und hohem Wert muss ein Besuch vereinbart und gestattet werden. Die Informationen sind natürlich zuerst von den Geheimdiensten und den mit dem britischen Staat verbundenen Historiker durchgearbeitet worden. Mangels vertiefter Kenntnisse meinerseits ist es mir aber nicht möglich, eine wirklich tiefgreifende Bewertung abzugeben, ob und wie die Briten die Informationen möglicherweise womöglich zu ihren Gunsten ausgelegt haben.

Auch beim amerikanischen Woodrow Wilson Center [5] ist im Archiv einiges an Informationen über das Archiv von Wassili Mitrochin zu finden. Dieses Zentrum wurde 1968 mit dem Ziel gegründet, international die Welt der Ideen mit der Politik in einen Dialog zu bringen. Namentlich gewidmet ist es dem 28. Präsidenten der USA, Thomas Woodrow Wilson (1856-1924) [6], welcher in einer sehr schweren Zeit regierte und wegen folgenschwerer Entscheidungen wie der Gründung des Federal Reserve Systems [7] und der Beteiligung der USA im Ersten Weltkrieg aufseiten der erweiterten Entente [8] gerade bei konservativen Amerikanern und Republikanern bis heute unbeliebt ist. Mit einem Promotion in Politikwissenschaften und Geschichte ist er bis heute der einzige Präsident der USA mit einem Doktortitel.

Mit anderen Sammlungen wie etwa dem Archiv von Dmitri Wolkogonow (1928-1995) [9] verhält es sich anders. Dieses liegt in den USA in der Bibliothek des Kongresses und ist einigermassen offen zugänglich. Der in diesem Blog bekannte Yuri Maltsev studiert immer wieder Akten daraus. Im Gegensatz zu Mitrochin ist Wolkogonow auch nicht beim Geheimdienst tätig gewesen, sondern in der Hauptverwaltung der Armee, im Rang eines Dreisternegenerals. Dazu ist er nur temporär aus Russland ausgereist und war bis zu seinem Tod in der russischen Politik tätig. Maltsev erzählte in einem seiner Vorträge, dass er Wolkogonow in den 1980er Jahren wegen dessen Auftritten im Fernsehen für einen unerträglichen Propagandisten hielt. Deswegen war er umso mehr überrascht, als er davon erfuhr, dass Wolkogonow einen Berg an privaten, hochgradig illegal erstellten Kopien brisanter Unterlagen veröffentlichte.

Die Bücher, die auf dem Archiv Mitrochins aufbauen, sind die folgenden. Einige davon sind frei zugänglich, andere schwieriger zu bekommen. Bei den frei zugänglichen sind entsprechende Links angegeben, ansonsten zu Amazon, wo die in der Regel Rezensionen zu finden sind. Vieles ist erst nach Mitrokhins Tod im Jahre 2004 erschienen. Etwas problematisch finde ich, dass die Bücher teilweise unter verschiedenen Titeln bei verschiedenen Verlagen auftauchen und nicht erklärt wird, ob es sich um ein und dasselbe Buch handelt. Mir liegt neben den bei archive.org zu findenden beiden Büchern das KGB Lexicon vor.

Englisch

Deutsch


Nach der Präsentation des Archivs, welches Wassili Mitrochin an den Westen aushändigte, soll es wie in einem Artikel in der Rubrik Persönlichkeiten auch um das Leben dieses Mannes gehen. Denn nur daraus kann ersichtlich werden, warum seine Dokumente von Wichtigkeit sein können.

Wassili Mitrochin wurde 1922 in Jurasowo in der Russischen Oblast Rjasan [10] geboren. Rjasan [11] ist auch die am nächsten gelegene grössere Stadt in der Umgebung von Jurasowo. Gegenüber Moskau befindet man sich etwa 200 km südöstlich.

Mitrochin besuchte die Schule und trat danach in den Militärdienst ein, er war bei der Artillerie. In der Folge studierte er Geschichte und Recht. Während des Zweiten Weltkriegs [12], aus sowjetischer Sicht Grosser Vaterländischer Krieg genannt, war Mitrochin unter anderem im nordostukrainischen Charkiw im Büro eines militärischen Sachwalters tätig.

Im Jahre 1948 trat Mitrochin in den Dienst des sowjetischen Ministeriums für Staatssicherheit [13] (MGB = Министерство государственной безопасности, Ministerstwo Gossudarstwennoi Besopasnosti). Zu der Zeit war es in der Sowjetunion durchaus üblich, dass die Namen der Geheimdienste häufiger gewechselt wurden. Von der ersten Geheimpolizei zur Cheka [14] im Jahre 1922, zur OGPU [15] (Объединённое государственное политическое управление при СНК СССР, Obyedinyonnoye gosudarstvennoye politicheskoye upravleniye pri SNK SSSR) im Jahre 1923, zum NKWD [16] (Народный комиссариат внутренних дел, Narodnyj kommissariat wnutrennich del) im Jahre 1934 über NKGB [17] (Народный комиссариат государственной безопасности, Narodnij Komissariat Gossudarstwennoi Besopasnosti) im Jahre 1946 zum bereits genannten MGB 1948 zu KGB [18] (Комитет государственной безопасности, Komitet Gossudarstwennoi Besopasnosti) im Jahre 1954. Mit der Umbenennung zum FSB [19] (Федеральная служба безопасности Российской Федерации, Federalnaja sluschba besopasnosti Rossijskoi Federazii) im Jahre 1991 gab es die bislang letzte Umbenennung. Ich gehe davon aus, dass mit der Namensänderung auch die eine oder andere Änderung in der Organisation vorgenommen wurden. Grundsätzlich stehen aber alle Bezeichnungen für den sowjetischen Inlandsgeheimdienst, dessen Aktionsradius nicht nur auf das Inland beschränkte.

In den 1950er Jahren wurde Wassili Mitrochin für Operationen in fremde Länder entsandt. Unter anderem war er 1956 unter den Begleitern der sowjetischen Sportlerdelegation an den olympischen Spielen [20], die damals im australischen Melbourne stattfanden. Im gleichen Jahr führte er einen Auftrag so schlecht aus, dass er von Auslandseinsätzen abgezogen wurde.

In der Folge begann in Mitrochin die Desillusionierung über das sowjetische System zu wachsen, er führte den Beginn dessen auf Nikita Chruschtschows (1894-1971) [21] berühmte Geheime Rede [22] zurück. Chruschtschow hielt diese zum Abschluss des 20. Parteitages der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) [23]. Da es die Sowjetunion ansonsten sehr gut verstand, Geheimnisse für sich zu behalten, kann man davon ausgehen, dass die Bezeichnung geheim bei gleichzeitig riesigem Verbreitungsgrad eine bewusste Irreführung darstellt. Die Denunzierung des vorherigen Machthabers, im genannten Falle war das der schreckliche Josef Stalin [24] ist eine in Russland seit langem beliebte Tradition von Glasnost (Гласност) [25], die dazu dient, einem neuen Machthaber propagandistisch Vorschusslorbeeren zu geben und ihn vom schlechten alten Regime zu distanzieren.

Mitrochin wurde deswegen misstrauisch und desillusioniert, weil er als Geheimdienstler sowohl eigene, als auch westliche Berichterstattung, Einschätzungen und Expertisen studierte und den weiten Graben dazwischen irgendwann nur noch schwer ertragen konnte. Nach den Einsätzen im Ausland war er in den Archiven des KGB tätig und erlangte zunehmend Kenntnis von der systematischen Unterdrückung der Bevölkerung auf dem Territorium der Sowjetunion. Er war vor allem über die Planung und Vorbereitung übelster Grausamkeiten schockiert [26].

Zwischen 1972 und 1984, einem Zeitabschnitt von 13 Jahren war Mitrochin einer der Überwacher des Transports des KGB-Archivs von dem weltweit bekannten Gebäude Lubjanka [27] zum neuen Hauptquartier in Jassenowo im Südwesten Moskaus. In dieser Zeit begann Mitrochin damit, exzessiv Kopien und eigene Notizen über Dokumente aus dem Archiv anzufertigen. Er lagerte diese in seiner Datsche, den in Russland sehr beliebten Wochenendhäusern, die es in allen möglichen Ausführungen gibt.

Mitrochin war von 1948 bis zu seiner Pensionierung 1985 Mitglied des KGB und erreichte zuletzt den Rang eines höheren Offiziers, nämlich den eines Obersts. Bis zur Auflösung der Sowjetunion unternahm Mitrochin keine Annäherungsversuche an den Westen und westliche Geheimdienste. Erst danach reiste er nach Riga, um mit Dokumenten zunächst zur amerikanischen Botschaft zu gehen. Dort wurde er aber als möglicherweise nicht glaubwürdig abgewiesen. Bei der britischen Botschaft hatte er mehr Erfolg. Er übergab etwa 25'000 streng geheimen Materials, für dessen Besitz er in der Sowjetunion jederzeit ohne einen Gerichtsprozess hätte getötet werden können. Die Ausreise wurde für Mitrochin und dessen Familie arrangiert, obwohl es zu damaliger Zeit vonseiten der Regierung unter Jelzin keine krassen Einschränkungen für Reisen ehemaliger Agenten mehr gab.

Richard Tomlinson [30], ein Agent des britischen MI6, der 1995 unehrenhaft aus dem Dienst entlassen wurde und für die Absicht, ein Buch über seine Tätigkeit zu veröffentlichen zeitweise inhaftiert wurde, war an dem Transfer der Dokumente aus Mitrochins Archiv beteiligt. Tomlinson kann in einigen Videos auf YouTube gesehen werden. Über sein Wissen, seine Aussagen und Gedanken kann ich aber keine Aussagen treffen, da ich bisher nichts davon gesehen habe. Sicher ist, dass der Transport von so viel Papier nicht mittels eines einzelnen Handkoffers stattfinden konnte.



[1] https://en.wikipedia.org/wiki/Vasili_Mitrokhin
https://de.wikipedia.org/wiki/Wassili_Mitrochin
[2] https://en.wikipedia.org/wiki/Secret_Intelligence_Service
https://de.wikipedia.org/wiki/Secret_Intelligence_Service
[3] https://en.wikipedia.org/wiki/Christopher_Andrew
https://de.wikipedia.org/wiki/Christopher_Andrew
[4] The Papers of Vasiliy Mitrokhin (1922–2004). Churchill College Cambridge, 2016 https://www.chu.cam.ac.uk/archives/collections/papers-vasiliy-mitrokhin-1922-2004/
https://en.wikipedia.org/wiki/Churchill_Archives_Centre
[5] Mitrokhin Archive at the Wilson Center http://digitalarchive.wilsoncenter.org/collection/52/mitrokhin-archive
https://en.wikipedia.org/wiki/Woodrow_Wilson_International_Center_for_Scholars
https://de.wikipedia.org/wiki/Woodrow_Wilson_International_Center_for_Scholars
[6] https://en.wikipedia.org/wiki/Woodrow_Wilson
https://de.wikipedia.org/wiki/Woodrow_Wilson
[7] https://en.wikipedia.org/wiki/Federal_Reserve_System
https://de.wikipedia.org/wiki/Federal_Reserve_System
[8] https://en.wikipedia.org/wiki/Allies_of_World_War_I
https://en.wikipedia.org/wiki/World_War_I
https://de.wikipedia.org/wiki/Erster_Weltkrieg
[9] https://en.wikipedia.org/wiki/Dmitri_Volkogonov
https://de.wikipedia.org/wiki/Dmitri_Antonowitsch_Wolkogonow
[10] https://en.wikipedia.org/wiki/Oblast_Ryazan
https://de.wikipedia.org/wiki/Oblast_Rjasan
[11] https://en.wikipedia.org/wiki/Ryazan
https://de.wikipedia.org/wiki/Rjasan
[12] https://en.wikipedia.org/wiki/World_War_II
https://de.wikipedia.org/wiki/Zweiter_Weltkrieg
https://en.wikipedia.org/wiki/Eastern_Front_World_War_II
https://de.wikipedia.org/wiki/Deutsch-Sowjetischer_Krieg
[13] https://en.wikipedia.org/wiki/Ministry_of_State_Security_(Soviet_Union)
https://de.wikipedia.org/wiki/Ministerium_f%C3%BCr_Staatssicherheit_(UdSSR)
[14] https://en.wikipedia.org/wiki/Cheka
https://de.wikipedia.org/wiki/Tscheka
[15] https://en.wikipedia.org/wiki/Joint_State_Political_Directorate
[16] https://en.wikipedia.org/wiki/NKVD
https://de.wikipedia.org/wiki/Innenministerium_der_UdSSR
[17] https://en.wikipedia.org/wiki/People%27s_Commissariat_for_State_Security
https://de.wikipedia.org/wiki/Volkskommissariat_f%C3%BCr_Staatssicherheit
[18] https://en.wikipedia.org/wiki/KGB
https://de.wikipedia.org/wiki/KGB
[19] https://en.wikipedia.org/wiki/Federal_Security_Service
https://de.wikipedia.org/wiki/FSB_Geheimdienst
[20] https://en.wikipedia.org/wiki/1956_Summer_Olympics
https://de.wikipedia.org/wiki/Olympische_Sommerspiele_1956
[21] https://en.wikipedia.org/wiki/Nikita_Khrushchev
https://de.wikipedia.org/wiki/Nikita_Sergejewitsch_Chruschtschow
[22] https://en.wikipedia.org/wiki/On_the_Cult_of_Personality_and_Its_Consequences
https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%9Cber_den_Personenkult_und_seine_Folgen
[23] https://en.wikipedia.org/wiki/20th_Congress_of_the_Communist_Party_of_the_Soviet_Union
https://de.wikipedia.org/wiki/XX_Parteitag_der_KPdSU
[24] https://en.wikipedia.org/wiki/Joseph_Stalin
https://de.wikipedia.org/wiki/Josef_Stalin
[25] https://en.wikipedia.org/wiki/Glasnost
https://de.wikipedia.org/wiki/Glasnost
[26] Vasili Mitrokhin. The Telegraph, 02. Februar 2004 https://www.telegraph.co.uk/news/obituaries/1453209/Vasili-Mitrokhin.html
[27] https://en.wikipedia.org/wiki/Lubyanka_Building
https://de.wikipedia.org/wiki/Lubjanka
[28] https://de.wikipedia.org/wiki/Datsche
https://en.wikipedia.org/wiki/Dacha
[29] https://en.wikipedia.org/wiki/Riga
https://de.wikipedia.org/wiki/Riga
[30] https://en.wikipedia.org/wiki/Richard_Tomlinson
[31] Soviet files: KGB defector's cold war secrets revealed at last. The Guardian, 07. Juli 2014, von Richard Norton-Taylor https://www.theguardian.com/world/2014/jul/07/kgb-defector-cold-war-vasil-mitrokhin-notes-public


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wow!! Sehr spannend und Top recherchiert. Könnte man auf der Stelle verfilmen. Vielen Dank für diesen lesenswerten Beitrag!

Danke für den Kommentar und das Lob!

Das 20. Jahrhundert hat gerade durch die aussergewöhnliche Geschichte eine Vielzahl ganz spannender Lebensläufe hervorgebracht. Deswegen möchte ich auf meinem Blog immer wieder mal den einen oder anderen in Kürze nachzeichnen.

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