Persönlichkeiten 003 - Trofim Denissowitsch Lyssenko

in #deutsch7 years ago (edited)

24. Mai 2017

Der ukranische Biologe und Agronom Trofim Denissowitsch Lyssenko (1898-1976, russisch Трофим Денисович Лысенко) [1] spielte bei der Entwicklung der sowjetischen Landwirtschaft eine tragende und verhängnisvolle Rolle. Lyssenko stammte aus einfachen, bäuerlichen Verhältnissen und wuchs in der zentralukrainischen Kleinstadt Karliwka auf, aus der auch das spätere sowjetischen Staatsoberhaupt Nikolai Wiktorowitsch Podgorny (1903–1983) stammte.

Trofim Lysenko portrait.jpg
Portrait Lyssenkos [2].

Lyssenko war trotz seiner einfachen Herkunft wohl ein als talentiert aufgefallener junger Mann und durfte studieren. Er schloss dieses am landwirtschaftlichen Institut der Universität Kiew ab. Danach führte ihn sein Weg an das Allunions-Institut für Genetik und Saatzucht in Odessa, dessen Leitung er von 1934 bis 1939 innehatte. In dieser Zeit gewann er in der UdSSR an politischem Einfluss und wurde 1936 mit seinem ersten von total sieben Lenin-Orden ausgezeichnet. 1940 wurde er zum Leiter des Instituts für Genetik der Akademie der Wissenschaften der Sowjetunion ernannt.

Anders als die meisten Biologen in dieser Zeit baute Lyssenko seine biologische Theorie, die als Lyssenkoismus [3] bekannt wurde, nicht auf den Erkenntnissen der Genetik auf. Das zentrale Postulat seiner Theorie war, dass die Eigenschaften von Kulturpflanzen und anderen Organismen nicht durch Gene, sondern nur durch Umweltbedingungen bestimmt würden. Eine Ansicht, die bereits damals wissenschaftlich nicht mehr zu halten und auf die Erkenntnisse des französischen Botanikers und Zoologen Jean-Baptiste Pierre Antoine de Monet, Chevalier de Lamarck (1744-1829) zurückführen war. Dessen Lehren waren auch als Lamarckismus bekannt [6].

Lyssenko war ein treuer Anhänger der kommunistischen Partei der UdSSR, allerdings kein Mitglied. Da er einen guten Kontakt zum damaligen Generalsekretär der KPdSU, Josef Stalin [7], unterhielt, wurde er zum einflussreichsten Biologen in der UdSSR und erhielt weitgehende Möglichkeiten, seine Experimente zum "Wohle" des Landes in grossem Umfang testen zu können. Für Stalin besonders interessant waren wohl weniger Lyssenkos tatsächliche Forschung, sondern die Möglichkeit, seine Ergebnisse als Teil einer Landwirtschaftsrevolution zu sehen, um den Bauern auf diesem Wege eine Teilhabe an den Erfolgen der Revolution zu ermöglichen. Zuvor gab es aufgrund der Kollektivierungspolitik grosse Hungersnöte in weiten Teilen der UdSSR, auf die die anderen Wissenschafter weniger interessante Antworten zu bieten hatten als Lyssenko.

Mit einem guten Kontakt zur politischen Führung in der UdSSR waren auch Beziehungen zum Innenministerium NKWD [8] inbegriffen. Spätestens nach der Ernennung zum Leiter des Instituts für Genetik der Akademie der Wissenschaften der Sowjetunion versuchte Lyssenko seinen Einfluss zu festigen und versuchte seine Kritiker mundtot zu machen. Die Genetik wurde als eine "faschistische und bourgeoise Wissenschaft" (wie originell, Anm.) und damit unsozialistisch bezeichnet und ihre Vertreter auf diese Weise geächtet. Sabotage war in der UdSSR eine Straftat [9]. Einige Wissenschafter wurden im Zuge dieser Ächtung verhaftet, unter anderem Solomon Levit, Grigori Lewizki, Isaak Agol und Georgi Nadson und mit der Beschuldigung der Kooperation mit den Feinden des Volkes liquidiert. Ein weiterer Wissenschafter, Nikolai Kolzow, wurde 1940 vergiftet. Der weltweit hoch angesehene Botaniker Nikolai Iwanowitsch Wawilow (1887-1943) [10] hielt sich am längsten, aber auch er wurde 1940 verhaftet und zum Tode verurteilt. Er starb 1943 im Straflager Saratow.

Wegen der grossen Beliebtheit von Lyssenkos Theorien bei Josef Stalin erhielten diese über die Sowjetunion Bedeutung und wurden in einigen Ländern zur Landwirtschaftsdoktrin erklärt. Am meisten war dies in der Volksrepublik China der Fall, während des von Parteigeneralsekretär Mao Zedong [11] erklärten Grossen Sprungs nach Vorne [12]. In der DDR gab es wenige Lippenbekenntnisse in Schulbüchern zum Lyssenkoismus, in der Praxis kam es nicht zuletzt durch den Einsatz des Agrarwissenschafters Hans Stubbe (1902-1989) [12] nicht zu einer Umsetzung von Lyssenkos Irrlehren. Diese wurden von Stubbe und Kollegen am Gaterslebener Institut für Landwirtschaft sogar widerlegt.

Lyssenko geriet nach Stalins Tod unter dem neuen Generalsekretär Nikita Chrustschow erstmals unter Druck, blieb aber vorerst noch im Amt. Erst 1962 wurde die Unhaltbarkeit seiner wissenschaftlichen Fehlinterpretationen und Fälschungen und seine Politik der politischen Ausgrenzung innerhalb der Sowjetunion nachgewiesen. Daraufhin wurde Lyssenko entlassen.

Da zuvor auf den Lyssenkoismus, dem Lyssenko seinen Namen gegeben hat, erst wenig eingegangen wurde, soll hier noch eine Liste von sechs wesentlichen Thesen Lyssenkos erwähnt werden. Sie sind direkt aus [1] übernommen. Lyssenko hat diese unter anderem in seinem Hauptreferat auf der Tagung der Leninakademie der Landwirtschaftswissenschaften der UdSSR im August 1948 in Moskau vorgetragen:

1Die Vererbung ist eine Eigenschaft des gesamten Organismus. Es existieren keine diskreten Erbanlagen oder Gene
2Durch veränderte Umwelt- und Lebensbedingungen können erbliche Veränderungen induziert werden. Der Charakter der Veränderungen ist dem Charakter der induzierenden Bedingungen adäquat.
3In der Auseinandersetzung mit den Umweltbedingungen erworbene Eigenschaften werden vererbt.
4Bei Pflanzen können gezielte Veränderungen durch Pfropfung im Prozess der vegetativen Hybridisation induziert werden; es existiert kein prinzipieller Unterschied zur sexuellen Hybridisation.
5Durch Aufzucht von Winterformen ohne Kälteschock können bei Getreide erbliche Sommerformen erzielt werden.
6Kulturpflanzenarten wie Weizen und Roggen lassen sich durch geeignete Umweltbedingungen ineinander umwandeln.

Heute wird unter dem Begriff Lyssenkoismus, der sich im deutschen Sprachgebrauch nur einer sehr geringen Popularität erfreut, die politische Förderung pseudo- oder unwissenschaftlicher Thesen und die Behinderung der freien Wissenschaftsentfaltung durch die Politik verstanden.

Mich hat die Lebensgeschichte von Lyssenko ziemlich bewegt. Durch seine Irrlehren, die er ideologisch auf die Bedürfnisse der Politik zuzuschneiden vermochte, schadete er einer ungeheuren Zahl an einfachen Menschen, aus deren Reihen er stammte. Für mich ist das kaum nachzuvollziehen.


[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Trofim_Denissowitsch_Lyssenko
[2] Portrait mit abgelaufenem Urheberrecht, gefunden unter [1].
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Lyssenkoismus
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Genetik
[5] https://de.wikipedia.org/wiki/Jean-Baptiste_de_Lamarck
[6] https://de.wikipedia.org/wiki/Lamarckismus
[7] https://de.wikipedia.org/wiki/Josef_Stalin
[8] https://de.wikipedia.org/wiki/Kollektivierung
https://de.wikipedia.org/wiki/Zwangskollektivierung_in_der_Sowjetunion
https://de.wikipedia.org/wiki/NKWD
[9] https://en.wikipedia.org/wiki/Wrecking_(Soviet_Union)
[10] https://de.wikipedia.org/wiki/Nikolai_Iwanowitsch_Wawilow
[11] https://de.wikipedia.org/wiki/Mao_Zedong
[12] https://de.wikipedia.org/wiki/Grosser_Sprung_nach_vorn
[13] https://de.wikipedia.org/wiki/Hans_Stubbe


Eine kurze Liste von auf englisch erschienenen Publikationen Lyssenkos:
Heredity And Its Variability, T. D. Lysenko, 1953
https://archive.org/details/in.ernet.dli.2015.546824
Agrobiology, T. D. Lyssenko, 1954
https://archive.org/details/in.ernet.dli.2015.51825
Soil Nutrition Of Plants, T. D. Lyssenko, 1957
https://archive.org/details/in.ernet.dli.2015.51759

Publikationen über Lyssenko und die Sovietische Biologie:
Proletarian Science? The Case of Lysenko, Dominique Lecourt, 1977
https://archive.org/details/ProletarianScienceTheCaseOfLysenko
Soviet Genetics And World Science, Julian Huxley, 1949
https://archive.org/details/in.ernet.dli.2015.52393

Sort:  

Dann dürfte sich das nun geändert haben ...
Danke für den Kommentar.

echt interessant der Lysenko! Guter Artikel. Danke dafür

Gerne! Es gehört zu meiner Nebenbeschäftigung, immer wieder auch hinter die Kulissen von dem zu blicken, was in der jüngeren Geschichte so passiert ist. In der UdSSR wurde die sozialistische Weltanschauung, resp. das sowjetischen Verständnis davon, als wissenschaftlich propagiert. Dass trotzdem Figuren wie eben Lyssenko in diesem System in höchste Ränge aufstiegen, spricht eher für die Dominanz der Ideologie, respektive der Konformität dazu.

Coin Marketplace

STEEM 0.21
TRX 0.13
JST 0.030
BTC 66750.09
ETH 3474.88
USDT 1.00
SBD 2.80