Mechanistisches Denken - Eines meiner liebsten Hobbies

in #deutsch8 years ago (edited)

Dieser Artikel soll sich um die Sache drehen, die mich aktuell am meisten interessiert.
Meine Begeisterung für Mechanismen kommt aus den Jahren als junger Erwachsener, in denen ich Chemie studiert habe. Der Beschreibung von chemischen Prozessen mittels mechanistischer Modelle kommt grosse Bedeutung zu. Der Text ist das Ergebnis meiner Gedanken des vergangenen Wochenendes und ganz sicher keine umfassende Betrachtung. Vorenthalten möchte ich den Text aber auch niemandem.

Wegen des genannten Bildungshintergrunds begeistere ich mich dafür, mechanistisches Denken auch auf gesellschaftliche Aspekte, (wirtschafts-)politische Themen oder persönliche Bereiche des täglichen Lebens anzuwenden. Gerade weil ich zu erkennen glaube, dass viel zu oft Massnahmen auf der Basis von Wunschdenken, gut gemeinten Ideen oder Emotionen ergriffen werden.

Im Leben hat jedes Verhalten Konsequenzen, auch Passivität. Die Auswirkungen sind nicht alleine vom Verhalten des Individuums abhängig, sondern auch von seinem persönlichen Umfeld. Der Umgang mit anderen Menschen kann ziemlich unberechenbar sein, wobei es allgemein und kulturbezogen durchaus Konventionen gibt, an die sich die meisten halten.

Fragestellungen:

  1. Was hat welche Konsequenzen, wie funktionieren Mechanismen in der Gesellschaft?
  2. Wie schafft man richtige Anreize, die das gewünschte Ergebnis herbeiführen?
  3. Wie schafft man ein Ergebnis, das vom gewollten abweichen muss?
  4. Wie können Konsequenzen abgeschätzt werden?
  5. Was sind sich selbst verstärkende Effekte und wie bekommt man sie weg, falls sie unerwünscht sind?
  6. Welche Effekte wirken dem gewünschten Ablauf entgegen?
  7. Wie robust oder empfindlich ist das vorgeschlagene, propagierte oder vorherrschende System?
  8. Warum irren sich Politiker/Juristen/Menschen immer wieder fundamental, wenn sie Konsequenzen oder Entwicklungen abschätzen?

Bevor ich versuche, die eine oder andere Frage zu beantworten, möchte ich eine fundamentale Aussage machen, an die man sich halten soll, wenn man selber Mechanismen herausfinden möchte.

"Für die Beschreibung von Mechanismen ist es essentiell, dass der Betrachter seine Betrachtung so nüchtern oder objektiv wie möglich anstellt.

Mögliche Antworten auf die oben genannten Fragestellungen:

  1. Das Verhalten der Menschen im betreffenden Kulturkreis sollte gut bekannt sein. Anhand dieses Wissens können auch Mechanismen beschrieben werden.
  2. Zunächst braucht es Erkenntnis darüber, wie Menschen auf Anreize reagieren. Wenn das bekannt ist, kann man entsprechend handeln. Wenn es bekannt ist und man handelt nicht entsprechend, wird sehr wahrscheinlich nicht der gewünschte Anreiz geschaffen.
    a) Im Staatswesen oder bei staatsnahen Dienstleistungen muss immer wieder geprüft werden, wieviel Anreiz die Anbieter zu Preissenkungen bei den entsprechenden Dienstleistungen haben.
    b) Werden Zinsen auf Null gesetzt, wird das Schuldenmachen gefördert.
    c) Will man eigenverantwortliches Verhalten belohnen, sollte sich Sparen und generell eigene Vorsorge lohnen. Dazu sollte das Recht auf privates Eigentum so wenig wie möglich verletzt werden.
  3. Indem man z.B. für wahr befundene Erkenntnisse aus der Wissenschaft (z.B. Ökonomie, Verhaltens-/Entscheidungspsychologie) oder triviales Wissen bezüglich der eigenen Idee bewusst ignoriert, aber trotzdem das gewünschte Ergebnis erwartet.
  4. Indem aufgelistet wird, welche Konsequenzen überhaupt auftreten können und man versucht, den möglichen Ereignissen Wahrscheinlichkeiten zuzuweisen
  5. In der Chemie z.B. bei exothermen, d.h. (Wärme-)Energie freisetzenden Reaktionen bekannt. Normalerweise laufen Reaktionen bei höheren Temperaturen schneller ab. Der Effekt der Temperaturzunahme durch die stattfindende Reaktion führt zu schnellerem Ablaufen der Reaktion und damit zu einem noch rascheren Temperaturanstieg. Kann das Gefäss, in dem der Prozess nicht ausreichend gekühlt werden, läuft die Reaktion aus dem Ruder.
  6. Wer einen Prozess genau untersucht hat, findet heraus, welche Phänomene seinen Ablauf behindern.
  7. Eine ganz wichtige Information, die man bei umfassender Systemanalyse herausfinden wird. Auch wenn Systeme bisweilen für sehr heikel gehalten werden, etabliert sich mit steigendem Wissen darüber meist trotzdem eine gewisse Robustheit. Weil durch die Forschung bekannt wird, welche Bedingungen für das Funktionieren des Systems wirklich einzuhalten sind.
  8. Meiner Beobachtung zufolge sind sich insbesondere Juristen nicht gewohnt, in Mechanismen zu denken. Juristen denken ihrer Fachsprache, die mir eher fremd ist.

Was sollte beim Aufstellen von Mechanismen also beachtet werden?


Wunschdenken, Glauben an Ideen oder Ideologien können nur schaden und nicht helfen. Nicht die Emotionen des Betrachters sind entscheidend, sondern die derer, die er beobachtet. Diese sollen aber in Betracht gezogen werden, denn es handelt sich beim Menschen bekanntlich nicht um ein Wesen, das seine Entscheidungen auf einer rein rationalen Ebene trifft.

Natürlich hofft jeder, der Verhaltensmechanismen untersucht, darauf, richtig zu liegen und einen Ablauf zu verstehen. Diese ist allerdings berechtigt und keine Verblendung, sondern der Anreiz, überhaupt in dieser Richtung tätig zu werden.

Ideen sind nicht per se schlecht, sondern nur immer unvollständig. Aus meiner Sicht gibt es keine Idee, deren Umsetzung ausschliesslich positive Konsequenzen hat. Die Idee muss also, um möglichst positive Auswirkungen haben zu können, in den Kontext des bekannten Wissens implementiert werden. Eine Idee des totalen Umbaus offenbart gerade in dieser Hinsicht rasch ihren utopischen Charakter. Wenn zuviel unerforscht ist, viele Parameter nicht bekannt, ist es ratsam, sehr konservativ zu beginnen. Eine Revolution kann nicht zuletzt wegen mangelhaftem Verständnis der möglichen Szenarien, mannigfaltig negative Auswirkungen haben.

Wie handeln aktuell westliche Staaten?


Für mich handeln die meisten Staaten so, dass in Konsequenz der Mittelstand ausgedünnt wird. Ein breiter Mittelstand war bisher eines der besten Erkennungsmerkmale leistungsfähiger Volkswirtschaften.
Die Lebenshaltungskosten sinken durch hohe Abgaben und Steuern kaum, in der Regel steigen sie trotz steigender Produktivität.
Viele Verpflichtungen sind gerade bezüglich Altersversorgung und -pflege auf dem Papier geschaffen worden, allerdings ohne sichere Finanzierung.
Die hohe Verschuldung der Staaten frisst in Form von Zinsen grosse Teile der Budgets.
Das massive Erfinden/Drucken von Geld verdünnt den Geldwert und verunmöglicht Preisstabilität.
Der Bankensektor, der sehr eng mit den Staaten verknüpft ist, ist seit bald einem Jahrzehnt in grösseren Schwierigkeiten. Ersparnisse auf Banken sind nicht sicher. Das gilt für Spareinlagen und erzwungene Investitionen Vorsorgeprogramme gleichermassen. Ein ganz eindeutiger Anreiz dazu, Geld auszugeben und nicht vorzusorgen. Im Zweifelsfall wird dort genommen, wo vorhanden.

Wie braucht man mechanistisches Denken in der Chemie.


Falls das jemanden interessieren sollte, habe ich auch einige Zeilen darüber verfasst, wie das Denken in Mechanismen in meinem Fachgebiet genutzt wird. Da ich den wohl trockensten Teil meines Beitrags an den Anfang stellen wollte, kommt er eben hinterher. Obwohl er durchaus die Qualität einer Einleitung hat.

Essentiell ist der genannte mechanistische Denkvorgang vor allem im Forschungsbereich der synthetischen Chemie. Dort geht es um verschiedene Aspekte des Herstellens von Molekülen.
Dazu gehören

  1. Die Totalsynthese von Naturstoffen, also Molekülen, die aus der Natur bekannt sind.
  2. Die Synthese von Molekülen, die entweder herausfordernd herzustellen sind oder zu einer Klasse von Molekülen mit interessanten Eigenschaften gehören.
  3. Die Überarbeitung von Syntheseprozessen hinsichtlich Eleganz, Effizienz und Einfachheit. Unter Laborbedingungen ist interessant, mit möglichst wenig Zeitaufwand ans Ziel zu kommen. Bei der Produktion grosser Mengen ist ganz zentral, dass im ganzen Prozess möglichst wenig teure Chemikalien verbraucht werden und dass wenig schwer handzuhabender Abfall anfällt.


Beispiel der Darstellung eines Reaktionsmechanismus, wie es in der organischen Chemie üblich ist. Die sogenannte Wittig-Reaktion. Eine Olefinierungsreaktion, die aus einer Carbonyl-Verbindung R2C=O (ohne Nummer) via Umsetzung mit einem Phosphorylid (5) eine Verbindung R2C=CR'2 (8) entstehen lässt. Als Olefine werden Moleküle mit mindestens einer C=C Doppelbindung bezeichnet [1]. Ein roter Pfeil zeigt symbolisch die Bewegung eines Elektronenpaars. Entdeckt wurde die Reaktion vom deutschen Chemiker Georg Wittig (1897-1987) [2], publiziert hat er darüber erstmals 1947. 1979 wurde Wittig mit dem Nobelpreis für Chemie ausgezeichnet.

Gerade in der organischen Synthesechemie muss, wer sich darin spezialisieren möchte, ein Vokabular an möglichen Reaktionsmechanismen aneignen. Dieses Vokabular dient als Werkzeugbox und Grundlage, um an der Diskussion um neue Herangehensweisen zur Herstellung von Molekülen oder der Verbesserung von Herstellungsprozessen teilnehmen zu können. Die Beschreibung der Reaktionsmechanismen erfolgt über Modelle und ist nicht als physikalisch exakt zu bezeichnen. Hergeleitet werden die Modelle oft zunächst durch Intuition nach empirischer Erkenntnis, nahegelegt mit physikalischen Messungen.

Abstrakt liesse sich sagen: Ich versuche, zu beschreiben, was chemisch passiert, wenn ich die für die Reaktion nötigen Moleküle, auch Reaktanden genannt unter entsprechenden Bedingungen (Parameter sind u.a. Konzentration, Lösungsmittel, sauer/basisch, Temperatur, Phase, Druck) zusammenbringe. Wichtig ist, auch die Mechanismen soweit zu verstehen, dass die gewünschten Reaktionen so gefahrlos wie möglich durchgeführt werden können. Stehe ich bei der Bearbeitung einer Reaktion am Anfang der praktischen Forschung, ist es wichtig, den Reaktanden den grösstmöglichen Anreiz zu geben, sich nach meinem Willen zu verhalten. Am Anfang geht es darum, zu zeigen, dass ein Prozess überhaupt funktionieren kann.

Das Drehen an den Stellschrauben hat immer Konsequenzen, am besten ist, wenn man versteht, welche.

[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Wittig-Reaktion
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Georg_Wittig

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In meiner Masterarbeit habe ich mich mit dem Thema " Methanbromierung" beschäftigt. Es war sehr interessant!

Schön. Das dürfte dann wohl radikalisch gewesen sein.

Schoene Gedanke die mir gefaellen. (Umlaut funktioniert nicht auf diesem Komputer). Jedoch muss mann bei Mechanistischem Denken nie vergessen dass "Das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile".

Danke für den Kommentar!
Mit der Erklärung von Mechanismen will ich nicht in erster Linie Dinge nachbauen, sondern vor allem verstehen. Dass das Ganze mehr als die Summe der Einzelteile ist, kann man ganz schön sehen, wenn man biologische Prozesse beobachtet. Da werden u.a. komplizierteste Proteine in Tierkörpern hergestellt. Unter den für Synthesechemie meist als absolut ungünstig erkannten Bedingungen. Lösungsmittel im wesentlichen Wassser, praktisch neutraler pH-Wert und konstanter Temperatur 36,5° C. In der Synthesechemie wird teilweise für einzelne Schritte das Lösungsmittel gewechselt, einzelne Reaktionen brauchen hohe Temperaturen, andere wiederum sehr niedrige usw.

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